Mutter 3/ 15
Das 22. Jahrhundert
Intelligente Roboter erledigten nahezu alle Aufgaben, produzierten in Fabriken die für das Leben notwendigen Gegenstände oder bewirtschafteten Felder. Das beschreibt in einem Satz, weshalb menschliche Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wurde, weder geistige noch körperliche. Warum das „Arbeiten gehen“ im Sinne von „ich gehe Geld verdienen“, außerdem überflüssig war, verdankten die Menschen des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts einem weiteren, simplen Umstand: Es gab weder Geld noch Besitz.
Allgemein wurde der Standpunkt vertreten, dass fast alle früheren Probleme der Menschheit mit krankhaftem Besitzdenken zusammenhingen, dem sinnbefreiten Anhäufen von Geld und Gütern. Oder dem Streben danach. Folgerichtig wurden die Menschen endlich von dieser Geißel befreit. Erhellend war zudem, dass alle Güter sowieso nur geliehen waren. Wie konnte jemand etwas für sich allein beanspruchen, wenn all die Dinge zum Zeitpunkt des Todes zurückgelassen werden mussten?
Sie wurden direkt neu verteilt. Also war Besitz schon immer ein temporärer Zustand. Es fehlten einzig Einsicht und konsequente Neubewertung. So Mutter. Unabhängig davon machte es auch tatsächlich keinen Sinn, Gegenstände nur für sich allein zu beanspruchen und weggesperrt irgendwo herumstehen zu lassen. Warum sollten andere sie zwischenzeitlich nicht auch nutzen? Schließlich verfügte die Welt nicht über so viele Wert- und Rohstoffe, dass mensch sich solch eine Verschwendung hätte leisten können.
Dass es keinen individuellen Besitz gab, bedeutete natürlich in keiner Weise, dass mensch anderen einfach etwas wegnehmen durfte, wie es ihm oder ihr beliebte.
„Das gehört doch niemandem, also nehme ich es mir einfach“, war undenkbar.
Bisher hatte niemand versucht herauszufinden, was geschehen würde, sollte doch jemand diese ungeschriebene Regel brechen wollen.
Selbstredend, dass es in dieser Welt weder Polizei noch Gerichte bedurfte, geschweige denn einer Regierung. Niemand konnte für die Allgemeinheit gültige Regeln festlegen, nur um sich unter dem Deckmäntelchen der Staatsgewalt persönliche Vorteile zu verschaffen. Die Spielregeln des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts orientierten sich einzig daran, was richtig oder falsch war und nicht, was wem nutzte.
Genauso existierten alle Nationalstaaten mitsamt den überflüssigen Grenzen nicht mehr, so dass Menschen überall auf dieser Welt trotz ihrer Unterschiedlichkeit gleichgestellt waren. Der Ort der Geburt verschaffte niemandem ein privilegierteres Leben. Auch durfte sich jeder selbstverständlich den Platz auf diesem Globus aussuchen, wo er oder sie sich zu Hause fühlte. Dadurch vermischte sich das Leben auf der Erde, weshalb zur Vereinfachung der Kommunikation englisch die einzige, gängige Sprache war. Frühere Nationalsprachen fungierten nur noch als unbedeutende Zweitsprachen. Die durfte lernen, wer immer es wollte, für das allgemeine Miteinander spielten sie keine Rolle mehr.
Damit „richtig“ und „falsch“ gleichermaßen verstanden wurde, hatte Mutter die Bildung junger Menschen in ihre Hand genommen. Sie kümmerte sich innerhalb der Familienverbände um das, was früher „Schule“ genannt wurde. Von Kindesbeinen an bläute sie allen ein, dass die Welt eine Fülle an Schätzen zu bieten hatte, die aber nicht nur den Menschen, sondern auch Pflanzen und Tieren gleichermaßen zur Verfügung stand. Raubbau war strikt untersagt. Der Mensch hätte kein Recht, sich weder über andere Menschen noch über andere Arten des Lebens zu stellen - um ihnen womöglich auch noch die Existenzgrundlagen zu entziehen. Dies war eine der wichtigsten Botschaften, die für Mutter unter keinen Umständen verhandelbar war.
Musste extra betont werden, dass grenzenloser Konsum im Widerspruch zum Existenzrecht allen Lebens stand? Mutter achte grundsätzlich sehr auf die Balance. Das war ihr großes Thema, mit dem sie manch einem ganz schön auf die Nerven gehen konnte. Sie bekam sprichwörtlich erhöhten Blutdruck und Schnappatmung, wenn irgendwelche Dinge aus dem Gleichgewicht gerieten. Die Ressourcen dieser Welt waren in dem Maße vorhanden, dass jedem für die Dauer seines oder ihres Lebens ein festgelegtes Kontingent zur Verfügung stand. Diese Menge war zwar nicht in Stein gehauen, aber jedem war bewusst, dass mit Wertstoffen sorgsam und verantwortungsvoll umgegangen werden musste und sie nicht unbegrenzt zur Verfügung standen.
Die Schonung von Ressourcen war schließlich auch der Hauptgrund, warum es die Familie viel Überzeugungsarbeit gekostet hatte, den Schrank aus dem Berliner Zimmer zu entfernern. Glücklicherweise hatte er im zweiten Stock ein neues zu Hause und somit weitere Verwendung gefunden, woraufhin Mutter sich erweichen ließ. Gegenstände, die noch funktionierten - und Mutter kontrollierte sehr genau, dass das auch so war - durften nicht entsorgt werden. Müll konnte praktisch nicht anfallen. Wollte sich jemand von etwas trennen, musste er oder sie erst nach neuem Nutzer suchen. Es verstand sich von selbst, dass sich jeder vor eine Neuanschaffung kritisch fragte, ob diese wirklich notwendig sei.
Dies waren die äußeren Rahmenbedingungen für alle Menschen. Ausnahmslos. Gleichermaßen. Nicht unwesentlich waren auch die Regeln für das gesellschaftliche Miteinander. Vorneweg muss allerdings gesagt werden, dass Mutter sich aus den meisten zwischenmenschlichen Konflikten heraushielt. Sie betrachtete es als große Lebensaufgabe der Menschheit, die Wege zu finden, um miteinander auszukommen. Die richtige Umgangsform zu lernen sei eine der wesentlichen Kernentwicklungsarbeiten, erläuterte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Kompromisse zu finden, Widersprüche auszuhalten und Andersartigkeiten zu akzeptieren. Eine gesunde Streitkultur zu entwickeln. Hier mischte sie sich nicht ein, auch wenn es ihr manchmal sprichwörtlich unter den Fingernägeln brannte. In Tausenden von Jahren war es den Menschen nicht geglückt, hier den richtigen Weg einzuschlagen. Vielleicht war es im jetzigen Umfeld endlich möglich. Mutter hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Hingegen zuständig fühlte sich Mutter für Bereiche, die mit Familie und Sexualität zu tun hatten. Nicht, dass sie sich für irgendwelche sexuellen Praktiken interessierte oder Spielarten nicht akzeptierte. Nein. Nein. Da war Mutter ganz aufgeschlossen. Sex sollten alle Menschen genießen, lieber mehr als zu wenig.
Von einigen sehr folgenreichen - und direkt zusammenhängenden - Fesseln war die Menschheit befreit. Die Kleinfamilie existierte nicht mehr. Es war allgemeiner Konsens, dass diese Form des Miteinanders nur eine versteckte Form des Besitzdenkens war. Den Männern gehörten die Frauen und den Frauen die Männer. Nicht immer war es ausgewogen, aber besonders problematisch wurde es, wenn einer von beiden eine Beziehung mit einem oder einer Dritten angefangen hatte - was weniger selten vorkam als gedacht. Warum auch nicht? Warum sollte sich Menschen in dem einzigen Leben, das sie zur Verfügung hatten, diese Tür der Freude und Erfahrung selbst und grundlos verschließen?
Laut Mutter war das Übel nicht in den Bedürfnissen der Beteiligten zu suchen, sondern bei denjenigen die behaupteten, es sei eine Sünde. Alle Religionen hatten über Jahrhunderte dieses geschlossene Familienbild gepredigt, dass Mutter als „nicht-Menschen-gerecht“ bezeichnete. Die Kirchen verhängten zeitweise drakonische Strafen, wenn jemand außerhalb des ehelichen Rahmens nach sexueller Erfüllung Ausschau hielt. Als Konsequenz daraus und da Kirchen nahezu in der Hauptsache der Ausübung von Macht dienten, wurden auch alle Religionen kurzerhand abgeschafft. Diese brauchte niemand. Anstelle der Klein-Familien wohnten die Menschen heute als größerer Familienverband in einer Art Rudel oder Herde zusammen, vergleichbar mit Wölfen. Entsprechend endete automatisch auch die sexuelle Exklusivität eines einzigen Partners.
Diese Rudel bildete die Großfamilie, in der sich alle untereinander kümmerten, bei Krankheit pflegten, die Kinder gemeinsam großzogen.
Sexuelle Beziehungen wechselten mal hier und da. Junge Frauen und Männer streiften oft herum, um sich auszuprobieren, nach erotischen Bekanntschaften Ausschau zu halten und ihre ungehemmte Lust auszuleben. Mal innerhalb des Familienverbandes, mal außerhalb. Mutter war der Meinung, dass es keinen einzigen Grund gab, der gegen das Ausprobieren sprach.
Allerdings achtete sie sehr streng darauf, dass bei Schwangerschaften die Quoten so eingehalten wurden, dass die menschliche Population immer auf dem gleichen Niveau stagnierte. Auch an diesem Punkt verstand sie absolut keinen Spaß. Brachte eine Frau nur ein Kind zur Welt, durfte eine andere drei bekommen. Genauso war das mit den Familienverbänden. Der eine hatte mehr Kinder, der andere weniger, aber die Population insgesamt musste gleichbleiben. Mutter wusste immer, welche der Frauen zu welchem Zeitpunkt einen Eisprung hatte und passte entsprechend auf. Manch einen jungen, uneinsichtigen Mann hatte sie schon mit runtergezogener Hose und steifem Glied aus dem Haus jagen müssen.
Sie begründete ihr rigoroses Verhalten damit, dass Menschen keine ernst zu nehmenden natürlichen Feinde mehr hätten und da sie sich zusätzlich so unglaublich gesund ernähren würden, wäre der Planet ohne Geburtenkontrolle innerhalb nur weniger Generationen komplett überbevölkert.
Der Platz war nun mal begrenzt und darauf hätten die Menschen Rücksicht zu nehmen. Das waren die Spielregeln, an die sich Alle zu halten hatten und von Mutter überwacht wurden. Ansonsten hatten alle die Freiheiten, die sie sich wünschten.