Mutter 4/ 15
Dass Menschen so lange lebten und selten krank wurden, verdankten sie hauptsächlich der gesunden Ernährung. In Victors Zeit gab es weder Gifte, die auf Felder gespritzt wurden, noch Massentierhaltung. Auch die sogenannte Lebensmittelindustrie mit ihren chemisch aufbereiteten „Nahrungsmitteln“ hatte in dieser Welt keinen Platz mehr. Intelligente Landwirtschaft war der Schlüssel des Erfolges.
Neben den gesellschaftlichen Entwicklungen, veränderten somit auch die technischen das Leben im zweiundzwanzigsten Jahrhundert. Die HoliCalls gehörten eher zu den unbedeutenden Erfindungen, im Grunde genommen waren sie nichts anderes als nette Gadgets für den Alltag.
Bahnbrechend hingegen waren die Entwicklungen in der Landwirtschaft. Intelligente, mit unterschiedlichen Sensoren ausgestattete Bauern-Roboter, analysierten unter Berücksichtigung des Wetters permanent die Zusammensetzung von Boden, Luft und Wasser. Sie überprüften die gesamte Flora und Fauna, von Pilzen und Bakterien bis hin zu Insekten und Würmern. Auch das Existenzrecht der sogenannten „Schädlinge“ wurde grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Sie waren ein Teil des biologischen Kreislaufes. Als Ergebnis stellten die Roboter die auszusäenden Pflanzen geschickt zusammen. Unterschiedliche Arten wurden so kombiniert, dass sie sich gegenseitig unterstützten. Teilweise wurden auch Felder angelegt, die einzig die Aufgabe hatten, für Nutzpflanzen schädliche Insekten und deren Larven anzulocken, um sie vom eigentlichen Anbau fernzuhalten. In allen Böden verliefen zudem dünne Leitungen für Wasser und Nährstoffe, die automatisch die Felder bewässerten. Ein bisschen mehr Nährstoffe hiervon oder davon und schon nahmen bestimmte Schädlinge Reißaus, für die Pflanzenart nützliche Kleintiere vermehrten sich.
Die Landwirtschaft war nahezu komplett digitalisiert, wodurch sie die Balance zwischen schonendem Anbau und hohem Ertrag erreichen konnte. Sie war einer der Bereiche, der viele Freiwillige zum Arbeiten anlockte. Das lag weniger an der monotonen Ernte, die in erster Linie von Robotern ausgeführt wurde, sondern am Kontakt der Hände zur Erde. Dieser durch entsprechende Pflege Nahrung zu entlocken, übte eine enorme Faszination aus. Alle genossen diese Erfolgserlebnisse. Nur weil arbeiten keine existenzielle Notwendigkeit mehr war, hieß das noch lange nicht, dass niemand mehr arbeitete. Caroline zum Beispiel. Sie brannte förmlich für die Landwirtschaft, wobei ihr Interesse eher der Digitalisierung und den unendlichen, sich daraus entwickelnden Möglichkeiten der Effizienz galt. Das faszinierte sie ungemein.
Von Jahr zu Jahr lieferten sich Bauernhöfe regelrechte Wettkämpfe um die Steigerung des Ertrages durch intelligente und geschickte Bewirtschaftung. Ein Ranking im oberen Bereich zu erzielen war eine große Motivation, sein Bestes zu geben.
Derzeit war die ganze Familie auf einem Hof, um sich mit Obst und Gemüse einzudecken. Sie hatten Caroline begleitet. Die Kinder liebten es, sich zusammen mit den Schweinen gemeinsam im Dreck zu suhlen und die Hühner zu ärgern. Das war immer eine unbeschreibliche Freude. Tiere waren auf den Bauernhöfen nur vereinzelt anzutreffen, da sich die Höfe hauptsächlich um pflanzliche Produkte kümmerten. Die Massentierhaltung kannte heutzutage niemand mehr, da die Voraussetzungen zur Tierhaltung den gleichen entsprachen, die auch für Menschen galten: Augenhöhe. Tiere hatten wie die Menschen ein Anrecht auf ein erfülltes Leben. Mit der Voraussetzung für Massentierhaltung, nämlich dass Tiere eh keine Gefühle hätten, hatte Mutter aufgeräumt, indem sie Kinder aufforderte, einem Tier ihrer Wahl in die Augen zu schauen. Die Antwort erhielten sie prompt.
Trotz aller Begeisterung für ihren Job und die Landwirtschaft, wollte Caroline jedoch nicht auf dem Land leben, sondern in der Stadt bleiben. Sie liebte das gesellige Treiben der Großstadt. Die Cafés, vielen Freunde und kulturelle Möglichkeiten. Der Weg auf den Hof von Berlin aus, nahm nur wenig Zeit in Anspruch, weshalb sie öfters hin und her pendelte. Die erste Strecke legte sie, diesmal gemeinsam mit der ganzen Familie, mit der Magnetschwebebahn zurück. Es gab Züge, die zunächst innerhalb und anschließend außerhalb der Stadt verkehrten. Nach dem Übertreten der Stadtgrenze beschleunigten sie auf mehrere hundert Stundenkilometer, so dass Entfernungen kein großes Hindernis waren. Durch das gesamte Land verlief ein grobmaschiges Netz aus Stelzen, an denen die Züge entlangglitten. Am zum Bauernhof nächst gelegenem Knotenpunkt stiegen sie in autonom fahrende Gleiter um, die allen zur Verfügung standen. Der Eingriff in die Landschaft durch das derzeitige Verkehrssystem war ausgesprochen gering. Einzig die Trasse für die Magnetschwebebahn durchzog das Land. Die individuelle Ziele ansteuernden Gleiter hingegen brauchten nichts. Sie schwebten auf „unsichtbaren Straßen“ ein Stück über dem Boden. Sensoren achteten auf eine ruhige Fahrt durch großzügige Anpassung an die Topografie des Untergrundes. Nach dem Aussteigen am Bauernhof entfernten sich die Gleiter zu den nächsten in der Nähe gelegenen, neuen Passagieren.
Die Effizienz dieses Verkehrssystems war enorm.
Diese Verkehrsmittel passten sich zudem harmonisch in die Stadtbilder ein. Wichtige Hauptachsen wurden durch die Magnetschwebebahn bedient, individuelle, verästelte Wege konnten mit den Gleitern zurückgelegt werden. Es gab aber auch eine Art Schweberoller, der aussah, wie eine Mischung aus Skateboard und Roller und für Einzelfahrten genutzt werden konnte. Alle diese Verkehrsmittel funktionierten autonom und waren durch ein intelligentes Logistiksystem regelmäßig im Einsatz. Durchgängig asphaltierte Straßen gab es nirgendwo, da die Verkehrsmittel hierfür nicht mehr existierten. Einzig großzügige Wege waren angelegt worden, damit Fußgänger trockenen Fußes und Radfahrer sich bequem fortbewegen konnten. Das Fahrrad, eine der genialsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte, war übrigens das einzige Verkehrsmittel, dass die Jahrhundertwenden überlebt hatte.
Einzelne einladend gestaltete Plätze luden die Bewohner in Cafés, zum gesellschaftlichen Austausch oder für Spiele ein. Versiegelte Flächen waren die Ausnahme. Die Bereiche zwischen den Häusern waren von engagierten Anwohnern unterschiedlich begrünt worden, manche als Park, andere als Wiesen oder sogar hier und dort als Gemüsebeet oder Obstplantage. Bei allen Grünflächen erfolgte die Bewässerung durch die gleichen unterirdisch verlegten, intelligenten Rohrsysteme, wie auf dem Land.
So sah die Welt des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts aus.
Nichts anderes kannten Victor, seine Familie und alle auf der Welt lebenden Menschen.
Erstmalig bot sich Victor nun durch die entdeckte Wohnung die Gelegenheit, einen Blick in die unbekannte, fremde Welt des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts zu werfen.
Das Schreien eines Kindes riss den immer noch tagträumend am Fenster stehenden Victor aus seinen Gedanken. Sollte er seine ursprünglich für diesen Tag geplante Beschäftigung aufnehmen? In sein Atelier gehen, um zu malen? Er entschied sich natürlich dagegen und pfiff auf seine routinierte Struktur. Dem Fund vom Vortag würde er nachgehen. Keine Frage! Er hatte sich vorgenommen, die ganze Wohnung auf den Kopf zu stellen, um das Geheimnis der Toten zu lüften. Victor wollte um jeden Preis herausfinden, was geschehen war und warum. Zwei Thesen standen im Raum und wollten überprüft werden: Handelte es sich um einen verzweifelten Selbstmord oder waren die Toten Opfer eines Psychopathen. Hatten sich die Bewohner selbst versteckt oder wurden sie gefangen gehalten?
Langsam stellte sich wieder die Begeisterung des Vorabends ein. Seine morgendliche, innere Zerrissenheit löste sich in Wohlgefallen auf. Nicht nur der historische Kriminalfall interessierte ihn, sondern auch die Welt, die er in der Wohnung entdecken könnte. Mutter hatte nie etwas aus dieser Zeit erzählt. Wie sahen die Menschen damals aus? Was taten sie? Wie lebten sie?
Victor hielt seine innere Erregung kaum noch aus, so dass er sich unverzüglich an die Arbeit machte.
Zunächst ging er in das zweite, hintere Treppenhaus, um nach dem Hintereingang zu suchen. Die sehr alten, herrschaftlichen Wohnungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, hatten in der Regel zwei Eingänge, einen für die Herrschaften im Vorderhaus und einen für das Personal im Hinterhaus. Die abgetrennte Wohnung müsste demnach über den Dienstboteneingang verfügen. Es gab aber keinen. Auch Fenster konnte er von außen keine entdecken. Allerdings fiel ihm auf, dass in den anderen, tiefer liegenden Stockwerken Fenster waren, auf der Höhe der versteckten Wohnung keine. Im Grunde hätte mensch sich tatsächlich über den gestörten Rhythmus der Fassade wundern müssen. Es war allerdings Jahrzehnte her, dass die Öffnungen verschlossen wurden und wer weiß, wie oft seitdem das Haus renoviert, saniert oder verputzt worden war.
Die unglaubliche Entschlossenheit, mit der die Wohnung von der Außenwelt abgetrennt wurde, beeindruckte und schockierte Victor zugleich. Das sprach für ein herausragendes, folgenschweres Ereignis. Bestimmt war es keine leichtfertige Entscheidung gewesen, sich einzumauern - es sei denn, die Bewohner waren psychisch krank. Auch das wäre eine Möglichkeit, sagte sich Victor. Vieleicht waren sie einfach irre? Immerhin starben sie lieber, als die Wohnung zu verlassen.
Um die Wahrheit herauszufinden würde Victor die Wohnung gründlich untersuchen müssen. In den letzten, verstaubten Winkel wollte er kriechen.
Er rechnete mit massivem Widerstand von Mutters Seite, war aber überrascht, dass sie, ohne zu zögern, ihm freien Lauf ließ.
Zu seiner großen Freude hatte sie sogar die Wohnung säubern und die Skelette entfernen lassen. Der ganze Staub war verschwunden und Luftreiniger hatten den unangenehmen Geruch eliminiert. Jetzt machte es ihm nichts mehr aus, die Tür wie selbstverständlich offen stehen zu lassen, denn die von ihm bewohnte Wohnung hatte somit wieder ihre ursprüngliche Größe.
Nach kurzem Zögern überschritt er erneut die Schwelle zu einer anderen Welt.