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Ein Leben in sieben Akten

eyes002
******ace Mann
15.955 Beiträge
Themenersteller Gruppen-Mod 
Ein Leben in sieben Akten
Akt 1: Die geschasste Großschnauze

Es begann nicht 1978, als ich in die Bundeswehr eintrat. Es begann auch nicht 1982, als wir in Somalia waren. Es begann 1974, als meine ersten Sensei mir beibrachten, was Reiho ist. Das Wort besteht aus zwei anderen Worten. Reishiki und saho. Reishiki beschreibt den technischen Aspekt von Anstand und saho beschreibt, wie man das in lebbare Form gießt.

Bei näherer Betrachtungsweise begann es jedoch noch früher. Als Kind eines Soldaten und einer Hausfrau in den Fünfzigern, gesegnet mit zwei Schwestern und zu wenig Raum, wurde ich zu Oma und Opa entsorgt. Opa war und ist bis heute mit den damaligen Sensei das Leitbild des Benehmens, des Anstandes und der Ehre. Ich war damals ein Hänfling. Im wahrsten Sinne. Dürr, schwach und wenig selbstbewusst. Die Schüler an der Grundschule hatten schnell raus, wer ein Opfer ist und wer nicht. Zudem war ich verflucht mit dem, was man eine große Klappe nennt. Es gibt wenig Dinge, die man zurücknehmen und ungeschehen machen kann. Das gesprochene Wort gehört eindeutig dazu. Typische Dinge wie: „Mein Gott, bist du häßlich!“, spiegelten nicht nur die von mir wahrgenommene Realität wider, sondern gleichsam mein mangelndes Gefühl für Takt und Respekt.
Solche Sprüche waren mein Tagesgeschäft. Das der anderen war es, mir Respekt einzuprügeln. Da die anderen zu dämlich waren zu bemerken, dass es immer nur kurzfristig hielt, nämlich so lange, bis ich wieder sprechen konnte, gönne ich den Hohlbirnen.
Am Ende gab es die unheiligen Drei, die den ganzen Schulhof dominierten. Harald, Fredi und Uwe. Wobei Uwe Fredis Bruder und der gemäßigte Mitläufer war. Aber mich festhalten, wenn ich wieder Prügel bezog, ging immer. Ein Plan musste her. Ein… guter, durchdachter Plan. Da es im Jahre des Herrn Anno Dunnemals 1968 lediglich 3 Fernsehprogramme gab und ich kein eigenes Radio oder Handy hatte, resultierten meine Recherchen auf der Tatsache, dass ich einen Bücherei-Pass hatte. Sherlock Holmes, Perry Rhodan, Professor Zamorra, John Sinclair, sogar Tarzan waren meine Superhelden in diesen Jahren. Nur, was nützten sie mir? Ich verfügte weder über Kampfroboter, Strahlenpistolen, Damönenkreuze oder magische Waffen. Und den Sherlock wollte ich auch nicht in meinem Fahrwasser wissen. Dann kam die Erkenntnis.
Nicht in Büchern, in einer Kneipe! Opa schickte mich mit Zwei Mark (!) in die Kneipe, eine Schachtel Zigaretten holen. (Anm. d. Red.: Jüngere Leser: Einfach hinnehmen, nicht aufregen) An einem mit grünem Filz bespannten Tisch spielten zwei Männer Billard. Aber es waren keine Löcher zum versenken da! Das weckte meine Neugier. Und da ich wieder einmal die Klappe nicht halten konnte, quatschte ich die Typen einfach an.
„Das nennt man Karambolage, Junge!“
„Kenne ich nur, wenn Mama Auto fährt“, sagte ich und die ganze Kneipe lachte sich kaputt. Ich bekam sage und schreibe 4 Bluna spendiert. Das führte A) dazu, dass ich naseweise Sprüche irgendwie doch gut fand und B) ich das Spiel erklärt bekam. Karambolage besteht nur aus drei Bällen. Ein Dunkelroter und zwei Weiße. Der Gag ist, dass man mit seinem Spielball immer beide anderen berühren musste, egal wie.
„… und wenn nicht direkt, dann spielst du über Bande, schau!“
Da fiel der Groschen. Über Bande! Den Gegner nicht direkt angreifen. Aus gesicherter Position… der Plan stand. Die Lösung hieß: Günther. Günni war auch Schüler. Unsere Schule bestand aus der Grundschule, weiter hinten, fast im Wald und der Hauptschule vorn an der Straße. Aber: Wir nutzten beide denselben Schulhof. Und so kam es, dass ich fortan in den Pausen eher die Nähe der älteren Schüler suchte. Sie konnten mit meiner großen Fresse nicht immer sofort umgehen, aber ich konnte zu dieser Zeit gut Witze erzählen. Das kam gut an.

Dann kam der Tag der Tage. Es gab in der zweiten Klasse den Trend, aus Papierstreifen kleine Haken zu formen und mit einem Gummi auf die Mitschüler zu schießen. Hauptziele damals waren die beiden Blondinen Silvi und Kerstin. Also mischte ich mit und beschoss Harald und Fredi. Ein Blick in ihre schäumenden Gesichter verhieß nichts Gutes. Das ist immer das Problem bei einem Gottkomplex. Nur weil sich keiner wehrt, heißt das nicht, dass man die Spitze der Nahrungskette ist. Für mich hieß es nur: Als Erster auf dem Schulhof sein. Und das klappte gut. Ich war nicht so behäbig wie Harald und konnte schneller rennen als Fredi, auch wenn der längere Beine hatte. Ich huschte also zur Sporthalle. Am Beginn des Beetes zu den Fahrradständern. Warum? Weil sich Günni und Gang bereits, das sah ich aus den Augenwinkeln, auf dem Weg zu ihrem Stammlaber-Stützpunkt befand.
Fredi erreichte mich als Erster und packte mich am Kragen.
„Hab ihn !“
„Halt das Arschloch fest!“, keuchte Harald.
„Oh, ihr stammt aus Vulgarien!“, keuchte ich, weil Fredis fette Pranke mir die Luft abschnitt. War wohl nicht deren Humor.
„Alter, jetzt polier ich die die Fresse!“ freute sich Harald und holte weit aus. Doch zum zuschlagen kam er nicht mehr. Eine monströse Hand tauchte aus dem Nichts auf und hielt sein Patschepfötchen eisern fest. Günnis in diesem Moment Engelsgleiches Gesicht tauchte hinter Harald auf. Zwei andere Hände hielten Fredi fest, Uwe traute sich gar nicht erst heran.
„Du willst den Kleinen verprügeln, Pappkopp?“
„Der hat auf mich geschossen!“
„Stimmt das, Tom?“
„Ja. Stimmt. Weil er auf die Mädchen geschossen hat!“
Nun. Sagen wir so: Die Empfänger der Lektion war heute nicht ich. Die beiden Blödmänner mussten Günni schwören, dass ich auf dem Schulhof unangreifbar bin. Sonst… und dieser drohende Damokles schwebte fortan über Harald und Co. Ein Blick reichte, und sofort war Ruhe. Mein Triumpf? Für diesen Tag, ja. Meine Strategie war zwar von Erfolg gekrönt, aber eben als Kind nur von kurzer Dauer. Denn der Deal bezog sich auf den Schulhof. Meine Schuld. Und eine Lehre.

Harald und Fredi lauerten mir zwischen den Garagenplätzen und dem Mittwald auf. Und diesmal bekam ich es richtig. Ich war stinksauer. Meine Laune wurde auch nicht besser. Ich weinte. Vor Wut, vor Hilflosigkeit, vor Rachsucht. Am schlimmsten war die Hilflosigkeit. Die Tage waren wie in einem Rausch. Scheiß auf die zerrissenen Klamotten, Scheiß auf die Bücher, die Hefte, den Füller. Scheiß drauf, dass sie mich zwangen Regenwürmer zu essen und aus Pfützen zu trinken. Na klar, ich konnte Günni wie einen Pitbull auf sie hetzen, aber das war nicht richtig. Also wie löst man unlösbare Probleme? Es war Freitag, zur Schule war ich nicht. Meine aufgeplatzten Lippen schmerzten, die beiden Veilchen engten mein Sichtfeld ein, ich hatte Durchfall und meine Knie taten weh. Trotzdem ging ich zum Kiosk. Perry Rhodan, vierte Auflage, Heft 421. Am Kiosk sah mich der nette Verkäufer mitleidig an. Dankeschön. Zahlen und an den Dortmund-Ems-Kanal. Mein Rückzugsort für das wöchentliche Abenteuer im Weltall. Dazu musste ich am Krankenhaus vorbei. Dem vorgelagert war eine alte Turnhalle. Vorn am Eingang war ein neues Dings angebracht, das aussah wie die Mischung aus einer Vitrine und einem Schrein. Hinter dem Glas waren Bilder. Bilder von Menschen in weißen Pyjamas die sich gegenseitig wegwarfen. Das sah federleicht aus. Sie rangen am Boden, würgten sich und hebelten sich… cool. Judo. Samstag Probetraining. Okay. Das machen wir so. Opa zahlte das. Mein lieber Opa….

Well… so einfach war es nicht. Die Lehrer, in den japanischen Kampfkünsten werden sie „Sensei“ genannt, was nichts anderes heißt wie: Lehrer, zeigten uns nicht nur, wie man seinen Gegner bezwingt, in die Flucht schlägt, hebelt, würgt und außer Gefecht setzt. Nein, Sensei Bauszus und Sensei Lewicki zeigten uns, wie man einen Kampf gar nicht erst beginnt. Als ich nach 2 Jahren den grünen Gürtel errang, ging ich bereits in die 4. Klasse und Günni mit seiner Gang hatten auf eine höhere Schule gewechselt, sowie Harald und Fredi (aufgrund der Intervention meiner Eltern) waren der Schule verwiesen worden. Eines Tages kam ein baumlanger Typ mit wildem Bart in die Trainingsstunde und verkündete, ab morgen werde man auch Karate anbieten. Wer nicht zu weich wäre, sollte erscheinen. Weich? Moi? Okay… es ging nahtlos weiter.

Am Ende musste ich feststellen, dass Kampfkunst eine Charakterschule ist. Meine große Fresse habe ich nie abgelegt, aber durch das beständige Üben der Kriegskünste passiert etwas. All die Schmerzen, Zerrungen, Blessuren, blauen Flecke, all die Muskelschmerzen, Erfahrungen und Niederlagen erschüttern etwas in uns Menschen. Etwas, das uns klüger macht und uns reifen lässt. Selbst wenn ich es in der Folgezeit darauf anlegte, mich prügeln zu wollen, es ging niemand mehr darauf ein.
*******d18 Frau
6.102 Beiträge
Weiter bitte! Bald bitte!

Ich weiß … warten.
*****ine Mann
895 Beiträge
Der Anfang ist schon mal eine Steilvorlage mein lieber Tom. Jetzt bin ich gespannt auf die Fortsetzung.
eyes002
******ace Mann
15.955 Beiträge
Themenersteller Gruppen-Mod 
Akt 2: Der taktile Faulpelz

Ich wechselte zur Hauptschule. Natürlich immer noch auf demselben Campus. Nur mit einem anderen Kopf. Klar, meine Eltern sah ich so gut wie nie, Opa war arbeiten bis spät und Oma hatte, wenn sie nicht allerschwerstens mit Kreuzwort-Rätseln beschäftigt war, mit den Planungen fürs nächste Fest zu tun. Jaja, die Nachbarn. Wenn man sich nicht tagelang über sie das Maul zerreißen konnte, feierte man bis zum Exzess. Die Schmidts, Lauenroths, Schulzes, Gonsiors, Langes… die eingeschworene Gemeinschaft der überlebenden Kriegsgeneration war unzertrennbar. Über ein Dutzend Leute. Es hatte also jeder einmal im Monat einen Geburtstag zu feiern. Hochzeitstag, Jahrestag, Namenstag, Ende der Naziherrschaft, irgendwas war immer los. Bei jedem Reihum. Nun… natürlich half ich gerne beim eindecken der Tafel. So checkte ich, wo die Knabbereien herkamen (Oma hatte extrem kreative Verstecke) und wie viele noch in den Tüten verblieben. Ich musste immer… ich muss ausholen. Als die Mauer errichtet wurde, haben es nicht alle geschafft, „rüberzumachen“. Viele sind bei der Ulbricht-Birne geblieben, warum auch immer. Nicht mein Problem. Aber die Pakete, die mehrfach pro Jahr die Grenzen wechselten, musste ich immer schleppen und aufmachen. Zu Weihnachten kam immer dasselbe: Jahresendfigur mit Flügeln, ein Buch (das Organikum hat mich durchs Studium gebracht!), eklige Kekse und Weihnachtsstollen mit massenweise Zucker. Und: f6- Zigaretten. Von der DDR wurde das sogar gefördert, weil es dem imperialistischen Gegner Lungenkrebs brachte.
Niemand wollte den Mist rauchen. Und bei uns waren alle Raucher. Opa, Mom, Paps… und die schämten sich auch nicht, während der ausschweifenden Feten das ganze Haus vollzuquarzen! Ekelhaft. Aus diesem Grunde standen auf den Feten-Tischen grundsätzlich Schälchen mit Flips, Chips, Nüssen, Quarkbällchen, Gläser mit Salzstangen und… man höre und staune: Gläser mit Zigaretten. Bäh.

Das alles ist ja okay. War die Zeit damals. Was nicht okay war, war die Tatsache, dass mit zunehmendem Alkoholpegel die Laune stieg. Und dementsprechend die Lautstärke. An Schlaf war nicht zu denken. No way. Es dauerte auch nicht lange und es wurde an die Tür geklopft. Ob ich schon schliefe? Nein, wie auch? Ob ich n super Witz auf Lager hätte? Natürlich.

Hier trafen sich zwei Zufälle: Wieder einmal mein Bücherei-Pass und mein eidetisches Gedächtnis. In der Bücherei gab es eine Medienabteilung. Dort standen (für die Jüngeren heute undenkbar): Kassettenrecorder! Meist von Phillips oder Grundig. Die verstaubten Tonbandgeräte daneben wirkten altbacken und vorsintflutlich. Es gab eine erkleckliche Anzahl von Cassetten. Darunter auch mein Witze-Superheld Fips Asmussen. Übrigens auch sehr enttäuschend, wenn man zu dieser Zeit den schlüpfrigen Zotenzerrer in und auswendig kennt und mitbekommt, wie von Emil über Otto bis Dieter Nuhr von meinem Superhelden die Jokes geklaut sind. Aber, Fips war meine Quelle. Mann? Frau? Divers? Schwarz? Weiß? Christ? Moslem? Drauf geschissen. Bei Fips bekam jeder sein Fett weg. Auf der Rückseite (JA; man musste die Cassette zur Halbzeit wenden *lol*, Autoreverse kam erst Jahre später) wurde es tendenziell immer schlüpfriger. Das war meine Seite. Das war der Quell meiner Macht. Ja, Macht. Das wohldosierte Erzählen diverser Pointen bei vollkommener Nüchternheit gleicht einer Einsatztaktik. Man beginnt mit einem Knall.
„Wisst ihr, warum Blondinen rasiert sind und nach dem Sex immer Handstand machen? Damit man die Kreditkarte durchziehen kann!“

Brüllendes Gelächter. Beabsichtigt. Ein Teil in mir lachte immer mit, weil auch ich das Bild nicht mehr aus der Birne bekam, der andere Teil beobachtete genau! Bei dreckigen Witzen lachte Frau Gonsior immer ins Bierglas, da mit es niemand merkte. Meine dicktittige Tante Inge begann ihren Lachanfall immer mit einem Urschrei. „Waaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhaaahaahaaaaaaaaaa!“, das war immer Zuviel des Guten. Die brüllte die komplette Nachbarschaft zusammen. Was kein Problem war, denn die saßen ja alle hier. Und lauschten einem 10järigen der FSK 18 Witze erzählte. Herr Schulze musste seiner Frau (sehr zu seinem Bedauern) den Witz immer erst erklären, was nicht hilfreich war. Opa hatte immer das verschmitzte Giggern, manche lachten offen, manchen fiel die Salzstange aus dem Mund auf den Schoß, aber alle lachten. Weil ich, ICH, Tom, der Witzejunge den Saal zum wallen brachte. Ich. Das war meine Superkraft. Das Ganze ging dann immer, bis in die nekrophilen (absichtlich, weil ich müde wurde) Witze verfiel, dann schicken sie mich ins Bett. Eine seltsame Zeit. Macht zu haben, war ein seltsames Gefühl. Jedoch war mir klar, dass diese mächtige Waffe nur unter Alkohol funktionierte.

Ich machte den qualifizierten Hauptschulabschluss als Bester. Was mich freute, denn geholfen hatte mir dabei niemand. Ich sollte aufs Gymnasium und hier muss ich zu meiner Schande gesehen, dass ich zu doof war. Und sich niemand drum gekümmert hatte, das kam dazu. Mutter Vollzeithausfrau und wohnte woanders, Vater Berufssoldat und immer weg, Oma beim Kreuzworträtsel und Opa arbeitete als Rechnungsführer in der Raffinerie. Ich war allein. Und ich gewöhnte mich eher früh daran, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen, die… sagen wir einmal so: Nicht immer gut waren. Als ich zum Eignungstest ins Gymnasium einrückte, verfiel ich in Schockstarre.

Was hatte ich erwartet? Gymnasium, huuuuuuuuuuh ein Bollwerk des Wissens, eine Pagode der Bildung. Was stad da? Ein billiger Bunker in verwaschenem Weiß und verblichenem Blau. Das wäre nicht so schlimm. Was ich schlimm fand war (wie immer) die Leute da. Die Lehrer sahen aus wie Lords in Tweed, ihre Nasen kratzten am Firmament. Die Lehrerinnen abgehoben und gleichsam über den Hof schwebend wie ein Bildungs-Hovercraft. Ist ja ekelhaft! Die Schüler dieser komischen Bande taten es den Lehrern gleich. Ausnahmslos jeder hielt sich für die Wiedergeburt von Sokrates, Aristoteles oder Adam Riese. Nee. Das wollte ich nicht. Alles in mir sträubte sich und ich hab den Test absichtlich danebengehauen. Was im Nachhinein ein großer Fehler war. Sich durchbeißen, durchsetzen und die Gelegenheit beim Schopf packen… darauf kam ich erst viel später.
Nun… die Alternative hieß: Berufsfachschule. Opa hielt es für eine gute Idee, erst einmal ein Handwerk zu probieren. Elektrotechnik. Die Schüler dort waren eine bunte Mischung aus verklärten Idioten und dem Bodensatz der Hauptschule. Zu dem ich ja nun unglücklicherweise auch gehörte. Und wieder waren es drei. Drei Arschgeigen. Benno, der gefühlskalte Wichser mit dem elastischen Gang eines südamerikanischen Kaffeesackträgers und seine namenlosen Adlati Nummer 1 und Nummer 2. Es eei mir verziehen, wenn ich deren Namen nicht mehr weiß. Nun, Bennos Superkraft war es, mit Gewalt die Schularbeiten abzupressen. Die besten jeden Faches machten ihre Schularbeiten immer doppelt, weil Benno immer eine Kopie bekam. Nun war ich in Mathe eine Niete, aber in Deutsch, Englisch, Religion und Sport war ich gut. Und so kam es, dass Benno auf dem Schulhof auf mich zuwackelte und sagte, er bräuchte noch jemand für Englisch. Jetzt zählte das taktile Machtspielchen des Witzeerzählens. Echt? Ja, echt! Sonst gibt’s die Fresse voll. Ach nee, lieber nicht. Morgen früh vor der ersten Stunde, sonst kann ichs nicht mehr abschreiben. Kapiert, Sir. Das „Sir“ gefiel ihm ausnehmend. Mir nicht. Das Thema war damals Schottland. Es sollte ein Aufsatz in eigenen Worten sein. Naja, okay, wenn er es so will? Überschrift:

Several species of small furry animals gathered together in a cave and grooving with a pict!

Aye an' a bit of mackerel, settler rack and down
Ran it down by the home, and I flew
Well, it slapped me and I flopped it down in the shade
And I cried, cried, cried
The tear had fallen down he had taken, never back to raise
And then cried Mary, and took out wi' your Claymore
Right outta a' pocket, I ran down, down by the mountain side
Battlin' the fiery horde that was falling around the feet
"Never!, " he cried, "Never shall ye get me alive
Ye rotten hound of the burnie crew!"
Well I snatched fer the blade and a Claymore cut and thrust
And I fell down before him round his feet
Aye, a roar he cried fray the bottom of 'is heart
That I would nay fall but as dead
Dead as I can by why' feet, d'ya kTom Buuuuu?
And the wind cried back

Der Titel war aus dem Album „Ummagumma“ von Pink Floyd. Dumpfbacken wie Benno konnten das nicht wissen. Und der versteckte Hinweis >Tom Buuuu…. Dazu war er zu dämlich. Das Ergebnis war klar: Benno bekam eine 6 und ich wurde zum Bennoistischen Staatsfeind Nummer 1.

Hatte ich schon gesagt, dass ich mittlerweile den blauen Gürtel im Karate innehatte? Nicht irgendein Karate, oh contraire desieux. Kyokushinkai Karate. Das Härteste, was damals kursierte. Unser Trainer sagte immer: Bei nukite (Speerhand), wenn ihr eurem Gegner in die Bauchhöhle eindringt, hört nicht gleich beim Zwerchfell auf. Das ist dämlich und inkonsequent. Erst, wenn ihr die Wirbelsäule in Händen habt, ist der Gegner kampfunfähig. Klingt kacka, ist aber so. Ich wusste was kam. Und diesmal war ich vorbereitet. Kein Adrenalin, keine Aufregung, keine Nervosität. Ich betrachtete den schnaubenden, wütenden Benno wie eine Schlange sein Opfer. Und genau das war er nun. Ein Opfer seiner Selbst. Denn all die von ihm geschassten Schüler standen um uns herum, als er mich am Kragen packte und an die Wand drückte. Mir zuschrie, dass ich jetzt sterben würde. Ja ja. Ein schneller beidhändiger Schlag, um mich aus dem Griff zu befreien, ein doppelter Schlag auf die Ohren, um ihm die Orientierung zu nehmen, ein Tritt in den Magen, um ihm das Frühstück zu nehmen und ein Tritt in die Familienplanung, um ihm die Stimme zu nehmen. 3 Sekunden.
Benno sackte zusammen, ohne zu begreifen, was abgegangen war. Natürlich gab es Geschrei. Ich schätzte, dass ich 20, maximal 25 Sekunden hatte, bevor ein Lehrer auftauchte.
„Hör zu du Arschloch. Das hier kannst du jeden Tag haben. Auch drei Mal, kein Problem. Wenn du nicht ab sofort alle hier in Ruhe lässt, wird genau das passieren. Auf Stinkdrüsen wie dich stehe ich, ihr macht mir so richtig Spaß. Und denk drüber nach, was du wem erzählst. Ich weiß, wo du wohnst!“
Nun, Letzteres stimmte nicht. Aber darum ging es nicht. Benno musste es nur glauben. Und das tat er.

Spät abends, ich lag im Bett, kam das Echo. Ich zitterte wie Espenlaub und wollte heulen. Aber warum? Hatte ich mich nicht durchgesetzt? Hatte ich mich nicht selbst geschützt? Hatte ich nicht alle anderen auf der Schule auch geschützt? So Superheldenhaft? Doch, hatte ich. Aber um das zu erreichen, hatte ich einem Menschen sehr weh getan. Ich dachte, ich hätte es übertrieben, denn Benno habe ich nie wieder gesehen. Gottlob hatte ich meinen Opa. Mein geliebter Opa hatte mir eine Ausbildungsstelle zum Chemiewerker besorgt. Das bekam ich sogar bezahlt. Mein Opa…
Eigentlich war ich froh. Die BFS war irgendwie doof. Im Chemielabor lernte ich, was eine Reaktion ist. Glycerin zum Dichtungen einreiben im Winter: LANGWEILIG! Kaliumpermanganat zum Färben: LANGWEILIG. Kippt man es zusammen: BUMM! Ich liebte Chemie. Bis, ja bis zu dem Thema: Hochgespannte Gase. Das sind nicht etwa Fürze, die auf einen Krimi warten, neeneenee. In der Hydrocrack-Anlage gab es neue Kompressoren, die Wasserstoff bis auf 150 Bar Druck zusammendrücken sollten. Die Firma Borsig baute gleich drei davon Parallel in einer offenen Halle zusammen. Mein Kumpel Albers und ich liefen Patrouille (eine Beschäftigungstherapie für Stifte, denen man sonst was beibringen müsste) und spaßeshalber setzten wir uns auf so einen mächtigen Kompressor und juxten herum. Ging prima, wir hatten als Messwarten-Mitarbeiter vollen Zugang zu allem. Dann wollten wir eine rauchen (jajaaa, ich weiß. Dumme Angewohnheit, aber es hatte mich erwischt) und wir gingen zu dem, was man eine „Raucher-Insel“ nannte. Ich erspare mir jetzt das Für und Wider solcher Dinger. Die nächste Sucht-Insel war ca. 60 Meter entfernt. Noch bevor wir richtig saßen, ging der erste Kompressor hoch. Eine Feuersbrunst nie gesehenen Ausmaßes warf Albers und mich 40 Meter weit ins Gelände. 3 Stunden lang waren wir taub und es war nur den Wänden der Raucher-Insel zu verdanken, dass wir nicht verbrannt sind. Ba-da-Bumm. Schade. In USA hätte ich Borsig Millionen abverlangen können. So blieb eine Erwähnung von Tapferkeit und eine mittlere Entschuldigung. Aber, geneigter Leser: Es befreit. Was sollte da noch kommen? Wer überlebt schon eine Wasserstoff-Explosion?
*******o_F Mann
1.640 Beiträge
"Wer überlebt schon eine Wasserstoff-Explosion?"

keine Ahnung.
eyes002
******ace Mann
15.955 Beiträge
Themenersteller Gruppen-Mod 
Akt 3: Der gestörte Baron

Mitten in der Ausbildung geschah ein weiterer Einschnitt: Ich wurde volljährig. Gestern noch jugendlich, heute Volljährig: Wo ist der beschissene Unterschied? Ich fragte Opa. Der sagte mir, dass ich jetzt wählen darf.
Wählen?
„Ja, Junge. Politik. Wählen ist oberste Pflicht, denn dann kann niemand sagen: Das habe ich nicht gewusst.“
„Hast du es denn gewusst?“
Opa schwieg. Ein eisenhartes Thema, das totgeschwiegen wurde. Selten, ganz selten kam Opa aus sich heraus. Opa war Krad-Melder an der Ostfront. Vielleicht kam da meine Affinität zu Motorrädern und Autos her. Als Moped-Kurier sah er, was an der Front abging und vor Allem: Was nicht stimmte. Auf dem Weg in die rückwärtigen Gebiete sah er dann, was sie angerichtet hatten. Ich sagte ihm, dass er ja nicht im Panzer gesessen und geschossen hätte.
„Ach Junge“, seufzte er immer, „mitgefangen, mitgehangen. Denk immer dran: Deine Generation hat keine Schuld. Aber wir. Wir waren einfach zu dämlich.“
Mehr sagte er nie, dann versagte seine Stimme. Oma war anders. Sie leugnete komplett, irgendetwas gewusst zu haben. Opa Gonsior war erfrischend direkt. Einmal sagte er mir: „Weißt du Junge (warum nannten mich immer alle Junge?), natürlich wussten wir das alle! Schlimm genug. Aber die braunen Naziarschlöcher… öffentlich zu sagen: Wir wollen das nicht!, bedeutet: In 10 Minuten sitzt du im Zug nach Treblinka. Das wollten wir auch nicht. Es war falsch….“
„Ich darf ja jetzt wählen. Wie geht das eigentlich?“
„Das ist einfach, Junge. Stell dir vor, du gehst über den Bürgersteig und da liegen 3 Haufen Scheiße und ein Eimer grüne Flitzekacke. Wo willste reintreten?“
„In nix davon!“
„Siehste, so wird gewählt!“, sagte Opa Gonsior mit seinem leicht polnischen Dialekt.

Kommen wir zurück zu meiner Volljährigkeit. Außer wählen durfte ich ja jetzt Disco und Führerschein! Um ehrlich zu sein, Radfahren war mir ein Graus. Ich hatte da die Sigrun kennen gelernt. An der Ems, als ich mit meinem Kumpel Michael zelten war. An die Jüngeren unter der Leserschaft: Nicht drüber nachdenken. Aus der Schule, Hausaufgaben (keiner kontrolliert), raus mit den Kumpels. Keiner fragt, wohin. Keiner fragt wie lange. Keiner fragt mit wem oder warum. Es wurde kein gesellschaftlich adäquater Umgang vorprogrammiert, es wurden keine Regeln für den Umgang anderer Gesellschaftsschichten aufgestellt, es wurde nicht gesagt, wer nicht zu einem passt und so weiter. Dieses Maß an Freiheit ist bis heute Einzigartig. Mike und ich wollten zelten: Viel Spaß, seht zu, dass ihr Sonntagnachmittag zurück seid. Punkt. Und: Man konnte sich drauf verlassen. Also packten wir alles auf unsere klapprigen Räder und fuhren zu unserem Spezialplatz. Die Landschneise zwischen dem Baggersee, der eigentlich für Baden verboten war und der Ems, dem kleinsten Strom Deutschlands. Mein erster Chefe, Bäckermeister Lohre, hatte mir damals für genau diesen Fall eine achteckige Flasche mit rotbraunem Inhalt zugesteckt. Damals galt in Apotheken: Eckige Flasche: innere Anwendung, runde Flasche äußerliche Anwendung. Prost. Nun… eigentlich nicht. Prust wäre das ehrliche Wort. Grausames Zeugs. Aber es ließ sich trefflich ein Feuer damit entzünden. Nun starrten wir bei 30 Grad in die Flammen und dachten, Bäcker Lohre hätte uns Drogen verpasst. Denn es kam ein Opel Kadett Fließheck in voller Fahrt die Böschung entlang, stoppte 200 Meter weiter und es wurde Campingzeug ausgeladen. Zwei Mädchen wurden samt Zeug stehen gelassen und das Oppl brauste wieder davon.

Nun mag man mich ja für paranoid halten, aber bereits da hatte ich die beinahe zwanghafte Manie, mir Dinge zu merken. EL HB-1960. Klingt wie ein Namenskürzel samt Geburtsdatum (wir hatten 1978). Hans Braun, Heiner Bernstein, Hannes Blödmann oder wie auch immer. Der Fahrer passte in das 18jährige Schema. 1,78 lang, feuerrote Haare, pausbäckiges Gesicht, stinkhässlich und er hatte ein Akne-und Gewichts-Problem. Von Beruf: Sohn. Bauer, wie es aussah. Und an schweren Landwirten gab es im Umkreis nur den Hof Brinkel. Aha, schloss ich. H. Brinkel. Passt. Der Beifahrer war schwerer zu erkennen, aber er war eher fadenscheinig. Dürr, lange Haare und Pferdezähne, mehr konnte ich nicht erkennen.

Der geneigte Leser mag sich jetzt fragen: Warum macht man sowas? Die Antwort ist recht simpel. Macht. Wissen ist Macht. Und wer nichts weiß, muss alles glauben. Das entwickelte sich zu meiner Lebensmaxime. Also lieber wissen. Und ich wusste während der 5 Sekunden rasender Vorbeifahrt, dass die beiden Insassen des neureichen Oppls keine Gefahr darstellten. Den klapprigen Beifahrer würde ich in 3 Sekunden aus dem Verkehr ziehen können, den fetten Rothaarigen Schnösel brauchte ich nur zu erschrecken.
Menschen, die ihr kurzes Leben lang immer unterdrückt und geschasst wurden, trennen sich in zwei Lager: Die Einen, die ihr Schicksal annehmen und den (leichten) Weg der Ergebenheit beschreiten und die, die das ganz bestimmt nicht wollen! Aber warum ließen die ihre Ischen (so nannte man Mädchen damals) allein?
„Gottverttrauen Tom, Gottvertrauen“ zischte Mike mit diabolischer Stimme. Und ich wusste, was er vorhatte. Und so kam es auch. Nur eben anders. Als wir die alte Stahlpfanne aus Omas Schrank auf dem Feuer und die Bratkartoffeln darin hatten, kamen Wilma und Sigrun angewackelt. Ob wir nicht…“JA!“ war unsere Antwort.
„Wollt ihr denn nicht erstmal hören, was …“
„Nein. Egal, was ihr wollt, die Antwort ist Ja. Setzt euch“. Mike der Fuchs! Ich wäre zurückhaltender gewesen, aber er war in diesem Punkt schlauer als ich. Es stellte sich heraus, dass die beiden vorschlagen wollten, gemeinsam zu essen. Wir die Tüften und sie den Nachtisch. Ja super, die meinten aber wirklich Nachtisch! Puddingschnellpulver in Milch. Hatten sie sogar mit.
Nun… ob das Essen geschmeckt hat oder nicht, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, dass weder Mike noch ich jemals so lange mit Mädchen außerhalb des Schulhofes geredet hatten. Es wurde dunkler, das Feuer heimeliger, man rutschte zusammen. Hautkontakt mit dem anderen Geschlecht, MEIN GOTT! Mike und ich saßen recht verkrümmt da, damit die beiden unsere Begeisterung nicht sofort sehen konnten. „Komm, wir schwimmen im See, der Mond ist voll, es gibt genug Licht!“. Wilma war begeisterungsfähig. Ja, das war sie. Und Sigrun recht… eindeutig, was die Verfahrensweise anging. Mike und ich waren… bestenfalls Blauäugig.
„Klamotten runter und rein ins Wasser“ flötete Sigrun und wir taten genau das. Also… Mike und ich. Unser neu entdeckter Testosteronspiegel verhieß uns, nicht eher aufzuhören, bis wir in der Mitte des Baggersees angekommen waren. Wir drehten uns um und… sahen Wilma und Sigrun in voller Montur am Strand auf unseren Klamotten sitzen. Verarscht. Doppelt.

Das war er, der Moment. Der nächste Moment, wo das Opfer zur Schlange wird. Ich hasste es, hasse es bis heute und werde immer hassen, wenn mich jemand manipuliert. Da war sie wieder, diese hilflose Wut. Das Unvermögen, Dinge die bereits geschehen sind, nicht ungeschehen machen zu können. Zurückspulen wie eine Kassette, das ging nicht. Improvisieren, ja das mussten wir nun. Denn wir wussten ja nicht, ob das der Auftakt zu einem blöden Spielchen oder ein Raubüberfall war. In der Zeit, die Mike und ich gebraucht hätten, an Land zu schwimmen, hätten die beiden Grazien eine Torte backen können.
„Langsam, wir wissen nicht, was die wollen“, zischte ich Mike zu. Der nickte nur und war ebenso angefressen, wie ich. Diese…Laube, dieser Zustand, in dem ich mich befand… eine surreale Mischung zwischen ohnmächtiger Wut und dem tief enttäuschten Gefühl des Vertrauensbruches… zementierte hier und jetzt meine Gefühlskälte und das Dogma meines Lebens. Ich wusste genau, dass das noch oft passieren würde. Und etwas brach in mir. Und machte mich zur Maschine. Wie ein Roboter schwamm ich an Land, Michael ein Meter hinter mir.
„… trauen die sich garantiert nicht aus dem Wasser, weil…“
Aber da stand ich schon vor Sigrun. Mit zwei hoch erhobenen Köpfen. Sie wurde selbst im fahlen Mondlicht blass.
„Ins Zelt. Jetzt!“ Ich hätte nie gedacht, dass das funktioniert…

Ich lernte viel in dieser Nacht. Nämlich, dass HB die Abkürzung von Heinz Brinkel war, dass Sigrun Haare zwischen den Brüsten hatte und dass Mädchen im Allgemeinen eine Heidenangst haben, vor der Zeit schwanger zu werden. In der Folgezeit (64 Tage, Sigrun führte Buch) entspann sich ein seltsames Verhältnis zwischen uns. Es war weder echt noch falsch, es war weder intensiv, noch Schlaff, weder Fisch, noch Fleisch. Aber irgendetwas zog uns zueinander. Sie wohnte in Klausheide, zwischen Nordhorn und Lingen, quasi auf dem Lande. Es gab keine Handies, kein Internet. Keine Email. Die Post brauchte 3 Tage da raus und überhaupt war man sich näher, improvisierte man. Das klapprige alte Damenrad wurde mein bester Freund. 28 Kilometer hin, ab in den Wald knattern, Küsschen, Küsschen, 28 Kilometer heim. 64 Tage lang, ohne Ausnahme.3548 Kilometer für 64 Nummern. Macht 56 D-Mark pro Fick. Hatte ich erwähnt, dass Madame umtriebig unterwegs war? Sie kannte Hinz und Kunz. Besonders die Klientel mit Kohle auf der Tasche. Und die trieben sich zumeist auf dem Flugplatz Klausheide herum. Segelflieger. Hört man nicht. Schonmal komisch. Als ich eines Tages in Rückenlage Sigruns Freischwimmer betastete, fiel mir auf, dass gleich drei dieser lautlosen Geier über unserer Lichtung kreisten. Mir war sofort klar, was zu geschehen hatte. Mich hintergehen? Ich lasse mich gern verarschen, aber man muss sich dabei schon ein bissl Mühe geben. Wenn Sigrun unser Gebumse verkaufen kann, kann ich das schon lange. Natürlich gestaltete sich das 78 nicht so einfach wie heute. Ich brauchte Beweise. Also radelte ich nicht heim an diesem schönen Sonntag-Nachmittag, sondern fuhr zum Flughafen. Ein kleiner Flughafen. Sicherheit? Machen Sie Witze? 78 gab es außer der RAF keine Terroristen und kein zwielichtiges Volk. Es gab eine Tür: Zutritt verboten, Personal. Das war es. Kein Schloss, kein Ziffernblock, keine Kennkarte, kein Multipass. Ich schnappte mir einen der Blaumänner, zog ihn an und wartete. Die offenen Hangar Tore ließen mich weit schauen. D-NA89S. Das war die Kennung des Fliegers, den ich mir merken konnte.

Plötzlich ging die Tür auf und ich erstarrte.
„Na Junge, neu hier?“ Schon wieder „Junge“
„Ja, Praktikum. Ich soll bei dem da helfen“ und deutete auf den Segler, der gerade ausrollte.
„Ach der Baron. Super, der gibt immer Trinkgeld! Reichlich. Wichtig ist nur: Sprich ihn nicht an. Mit Bediensteten redet er nur, wenn er anfängt.“
„Okay“. Soso, ein Geldsack. Baron. Welcher wohl? Der Winkelmann, der 400 Meter weiter sein Anwesen hatte? Könnte sein. Willi, so hieß mein neuer Kollege, bugsierte mich auf einen Traktor und wir fuhren dem Baron entgegen, dessen Maschine jetzt zum Stillstand gekommen war. Leine an den Bug und in den Hangar ziehen. Ich muss zugeben, unter anderen Umständen hätte mir das Spaß gemacht. Aber jetzt war ich doch ziemlich angespannt, denn ich hatte Null Plan im Kopf. Auch das sollte mir nie wieder passieren. Leine los, Cockpit („Cock“ hinterließ bei mir gerade einen schalen Nachgeschmack) öffnen und ein gut gelaunter Baron Winkeldingens stürmte aus der Maschine.
„Wie wars, Herr Baron?“ Sollte man den nicht ansprechen?
„Super. Die Aussicht war heute gigantisch. Ich brauche jetzt einen Kaffee! Kommen Sie?“
„Du rühr dich nicht vom Fleck, ich muss eben den Wartungsplan abzeichnen. Und fass nichts an!“ Beide verschwanden aus der Tür. Im Cockpit hatte der Arsch aber etwas vergessen. Ein fette Nikon mit Teleobjektiv. Aha. Man muss wissen, dass das Emsland platt wie eine Flunder ist. Sehenswürdigkeiten gab es hier eher nicht. Es sei denn, sie sind nackt und auf einer Lichting. Was wohl auf dem Film war? Ein schneller Griff, Tasche auf, Tasche zu und raus aus dem Hangar, nachdem ich den Blaumann in eine Ecke gefeuert hatte. Jetzt musste ich das Corpus Delikti loswerden. Die Gullis neben dem Flugplatzgebäude, es beinhaltete die Abflughalle (einmal am Tag gab es einen Zubringer nach Frankfurt), den Counter und das Restaurant, sowie eine Nebenhalle mit Schließfächern. Der Tower war ca. 150 Meter weit entfernt. Zu dieser Zeit war es kein Problem, zu entwischen. Der Flugplatz hatte weder Zäune noch Absperrungen. Gut für mich. Ich hob den Gullideckel neben der Restaurantmauer schnell an und schob die Nikon in den metallenen Fangkorb. So weit, so gut. Jetzt das Rad suchen und in Deckung gehen. Der blöde Baron war sicherlich nicht begeistert, wenn seine Beute weg war.

Aber es sollte anders kommen. Sigrun tauchte auf! Auch mit einem Fahrrad. Nur nicht mit Jeans, sondern in einem Zitronenfaltergelben Kleidchen. Echt jetzt? 5 Meter trennten uns, aber sie sah mich nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Baron, der gerade aus dem Gebäude kam.
„Na, wie war ich?“
„Mehr Leidenschaft, Kindchen, mehr Leidenschaft! Und lass die Möpse wackeln, da steh ich drauf!“ Er nestelte in seiner Tasche herum und zog einen 20-Markschein hervor. Aber da war ich schon dran, schnappte das Ding und steckte es in die Tasche. Sigrun stand da wie eine Kalkleiste, der Baron hatte Schnappatmung. Aber, wie sagte mein weiser Budo-Lehrer immer?
„Triff eigene Entscheidungen, sonst treffen sie andere für dich“
Jetzt war ich dran. Der PSR (Point of Safe Return) war überschritten. Ich war in der Offensive.
„Bevor sie jetzt lospoltern, Winkelbaron, ihre Nikon ist sicher verwahrt. Überlegen sie sich, was jetzt zu tun ist. Ich schätze Baronin Winkeldings hat arges Interesse an dem Film und die Lingener Tagespost ebenso. Ich melde mich.“
Drehte mich um und ging. Dann hielt ich inne, drehte mich um und sah in Sigruns tränenverschmiertes Gesicht.
„Ach ja, ehe ich es vergesse. A. Du bist gefeuert. B. Ich rede morgen mit deinem Vater.
Hab ich natürlich nicht gemacht. Aber darum ging es nicht. Sigrun musste nur glauben, dass ich es täte.


Mein Fahrrad war schnell gefunden und ich radelte wie der Wind heim. Und ja, auch an diesem Tage kam das Echo, als ich allein war. Heftiges Zittern, Desorientierung und ein nagender Zweifel an der Richtigkeit. War ich jetzt kriminell geworden? War der Baron Pervers? Sigrun stand kurz vor ihrer Volljährigkeit, so what? Und was sollte ich nun tun? Vollends auf die schiefe Bahn geraten und den Baron erpressen? Schweigen und als Feigling in die Annalen der Luftfahrt eingehen? Auf jeden Fall musste ich mir selbst ins Gesicht sehen können. Dennoch überwog die Wut. Und der Jähzorn, der mich fortan begleiten sollte. Lange… begleiten sollte. Und er würde mich in viele dämliche Situationen bringen. Doch hier und jetzt hieß es wie immer: Ducken oder bluten. Entweder, oder. Hin oder her, rauf oder runter. Topp oder Flopp. Also traf ich eine Entscheidung. Die andere Entscheidung hatte Sigrun getroffen, denn sie muss wohl mit der Familie gesprochen haben. Über Mike, bzw. Wilma hatte ich gehört, dass die Familie Schmidt unbekannt verzogen war. Über Nacht. Die andere, erste und wichtigere Entscheidung bescherte mir die Kosten des Führerscheines, sowie ein gebrauchtes Auto. Ein jagdgrüner Audi 60 L. Im Tausch gegen die Kamera. Aber nicht den Film. Den hatte ich in die Ems geworfen. Aber ich hatte dem Baron gesagt, er wäre in einem Schließfach. Stimmte nicht, aber wie immer galt: Der Baron musste nur glauben, dass es so war.
*******tia Mann
5.093 Beiträge
Phantastisch, das wird zu einer echten Ems-Saga. *top*
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