Donald V – … be sure to wear some flowers in your hair!
Donald erwachte, als die Sonne am nächsten Tag schon hoch am Himmel stand. Ein rascher Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk verriet ihm, dass es bereits kurz nach elf Uhr vormittags war. Der Zug stand schon wieder. Die Geräusche einer Großstadt vermischten sich mit Vogelgezwitscher und dem Summen und Brummen unzähliger Bienen, Hummeln, Käfer und Millionen anderer Insekten, die ihm wie empörte vielstimmige Proteste gegen die oftmals unbedachte und zerstörerische Geschäftigkeit der Krone der Schöpfung vorkamen.
Er versuchte abzuschätzen, ob sie in Salt Lake City angekommen waren und erneut Halt machten oder doch vielleicht schon Reno, Nevada, erreicht hatte. Zwischen der Hauptstadt Utahs und der nach Las Vegas bedeutendsten Glücksspielmetropole des sogenannten Silver States gab es im Grunde nämlich keine größeren Siedlungen, von Städten, die die Bezeichnung verdienten, gar nicht erst zu reden.
So hielt der California Zephyr zwar nach fast fünfeinhalb Stunden Fahrt ab Salt Lake City in Elko das erste Mal an, um seinen Fahrgästen eine Möglichkeit zu geben, sich die steifen Beine zu vertreten. Aber dieser inmitten von Nirgendwo gelegene Ort war mit unter 5.000 Einwohnern – ebenso wie das auf halber Strecke zwischen Salt Lake City und San Francisco gelegene Winnemucca als nächster Haltebahnhof des Expresszuges – wahrlich kein pulsierendes Oberzentrum, in dem man menschengemachte Verkehrsgeräusche wie diejenigen, die das momentan dargebotene Vogel- und Insektenkonzert überlagerten, zu Gehör bekommen würde.
Ebenso neugierig wie vorsichtig schob Donald die Waggontüre einen Spalt zur Seite und linste hinaus. Augenblicklich schlug ihm die Hitze des Mittags entgegen. Draußen waren es gut und gerne 86° F. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen blauen Himmel auf eine offenbar tatsächlich größere Stadt, die, soweit sein Blick jedenfalls reichte, fast nur aus ein- oder zweigeschossigen Häusern zu bestehen schien.
In vielleicht anderthalb Meilen Entfernung schien so etwas wie das Stadtzentrum zu sein, wo es dann auch höhere Gebäude gab und sich sogar so etwas wie ein Hochhaus erhob. Aber zumindest auf die Entfernung erschien auch das ihm so klein, dass es den Namen Wolkenkratzer definitiv nicht verdient hatte. Bevor er allerdings die Gelegenheit gehabt hätte, aus dem Güterwaggon zu springen, sich umzusehen und festzustellen, wo er nun eigentlich war, ruckte der Zug an und setzte sich wieder in Bewegung.
Donald zuckte mit den Schultern, stieß mit dem Fuß die Schiebetüre ein Stück weiter auf und setzte sich, mit dem Rücken an den Türrahmen gelehnt und die Beine lang ausgestreckt, auf den staubigen Boden des Güterwaggons. Während sein Zug gemächlich durch die Vororte der sich ihm immer noch nicht bekannt gemachten Stadt rollte, fielen ihm die absolut parallel ausgerichteten, strikt in Nord-Süd- bzw. Ost-West-Richtung verlaufenden und relativ breiten Straßen auf.
Aber erst als die letzten Gebäude an ihm vorübergezogen waren und er des stark veränderten Geruchs und Geschmacks der Luft gewahr wurde, als sie am Südufer des Großen Salzsees entlang in Richtung der Bonneville Salt Flats fuhren, war ihm klar geworden, dass sie soeben die Hauptstadt Utahs verlassen hatten, die von den Mormonen unter der Führung von Brigham Young, dem zweiten Präsidenten der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, am 24. Juli 1847 gegründet worden war und deren einziges Hochhaus in diesen Tagen der 81,4 Meter hohe Zion Bank Tower war.
In der Tat hatte Donald also den größten Teil der Fahrt durch Utah verschlafen, was ihn aber aus den schon erwähnten Gründen nicht anfocht. Abgesehen von der Tatsache, dass er des Nachts eh nichts gesehen hätte, wäre die Strecke zwischen Grand Junction und Salt Lake City landschaftlich bestimmt genauso uninteressant gewesen wie der nun vor ihm liegende Teilabschnitt durch den Rest von Utah hinein nach und einmal quer durch Nevada hindurch.
Der einzige gravierende Unterschied waren die jeweils dominierenden Farben der Böden. Zuerst rötlich-braun bis hellockerfarben, jetzt salz-weiß bis schmutzig grau, anschließend einheitlich sandbraun. Über weite Strecken führte die Trasse in Nevada nun allerdings am insgesamt 483 Kilometer langen Humboldt River entlang, so dass es außer braunen Bergen, braunen Böden und braunem Sand ab und an sogar ein sattgrünes, wenn auch nur wenige Schritte breites, Vegetationsband mit den verschiedensten Gräsern, Kräutern und Blumen gab.
Donalds Güterzug, der inzwischen nicht mehr von den beiden EMD DDA40X gezogen, sondern von insgesamt vier Dieselloks vom Typ GP9, die zwar seit sechs Jahren nicht mehr gebaut wurden, sich aber wegen ihrer Zuverlässigkeit nach wie vor großer Beliebtheit bei den US-amerikanischen und kanadischen Eisenbahngesellschaften erfreuten, bewegt wurde, von denen zwei an der Spitze und zwei am Ende fuhren, brauchte für die Strecke bis Elko beinahe zehn Stunden und damit annähernd die doppelte Fahrzeit wie der California Zephyr. Schnell war es empfindlich kühl geworden, nachdem die Sonne untergegangen war.
Donald hatte fast die ganze Zeit in der offenen Türe gesessen. Zuerst hatte er einfach Löcher in die Luft geguckt und vor sich hin geträumt, was ihm auf Dauer aber doch zu langweilig wurde. Also hatte er das am 1. Januar 1968 erstmalig bei G. P. Putnam's Sons verlegte Buch „The Politics of Ecstasy“ von Dr. Timothy F. Leary zur Hand genommen und darin einige Essays und Aufsätze des in Springfield, Massachusetts, geborenen Psychologen und Autors gelesen, der von 1959 bis 1963 als Dozent in Harvard gelehrt hatte.
In diese Zeit fielen auch seine ersten Experimente mit psychodelischen Drogen wie LSD, Meskalin und Psilocybin. 1965 war er wegen eines Marihuana-Vergehens seiner Tochter Susan, für das er die Verantwortung übernommen hatte, an der Grenze von Mexiko nach Texas festgenommen worden und wegen einer daraus gemäß Marihuana-Tax-Act von 1937 abgeleiteten Steuerhinterziehung am 11. März 1966 zu einer Geldstrafe von 30.000 Dollar und einer Haftstrafe von 30 Jahren verurteilt worden.
Der Schuldspruch, der vom Berufungsgericht bestätigt worden war, hatte seiner Popularität unter den Beatniks und Hippies keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, inzwischen war Timothy Leary – neben Literaten wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg – zu einem der Gurus der Jugend- und Protestbewegung avanciert.
In diesem Jahr 1969 wurde der Fall „Leary gegen die Vereinigten Staaten von Amerika“ nun vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt.
Donald empfand die Lektüre als überaus interessant und anregend. Er besaß nur wenig Erfahrung mit irgendwelchen Drogen und hatte bisher auch nicht das Gefühl gehabt, etwas verpasst zu haben. Aber er wollte auch nichts ausschließen. Oder um es mit Dr. Leary zu sagen: „Turn on, Tune in, Drop out!“
Schließlich war er des Lesens jedoch überdrüssig geworden, hatte seine Trommelstöcke ausgepackt und sich für den Rest des Nachmittag am staubigen Boden des Güterwagens und an seinem Seesack ausgetobt, bis sein T-Shirt komplett durchgeschwitzt war und seine Schultern, Arme und Hände zu schmerzen anfingen. Auf irgendeine Weise musste er ja in Übung bleiben, auch wenn die äußeren Umstände gerade natürlich mehr als suboptimal waren. Aber ein brauchbares Travel Drum Set hatte bislang leider noch niemand erfunden.
In Elko gab es einen kurzen Zwischenstopp, den Donald dazu nutzte, seine Notdurft zu verrichten und sich im Anschluss daran noch schnell etwas Neues zu essen und zu trinken zu besorgen. Der Bahnhof war zwar nur winzig, aber ganz in seiner Nähe hatte ein noch winzigerer Lebensmittelladen auch zu später Stunde – inzwischen war es halb zehn Uhr abends – noch geöffnet.
Misstrauisch beäugte ihn ein bulliger Weißer in den Fünfzigern mit Halbglatze und einer dicken Hornbrille mit Glasbausteinen anstatt Augengläsern und einem über seiner gewaltigen Wampe spannenden Hemd, offensichtlich der Besitzer des Ladens. Donald setzte sein strahlendstes Lächeln auf, legte seine Einkäufe auf den blankpolierten Verkaufstresen und zückte eine Zwanzig-Dollar-Note. Ohne nur ein Wort zu verlieren, dafür aber vernehmlich mit den Zähnen, möglicherweise auch mit einem schlecht sitzenden Gebiss, knirschend, tippte der dem jungen Schwarzen auf Anhieb unsympathische Fettsack die Preise der ausgewählten Artikel in eine altertümliche Kasse, die dem Kunden – wahrscheinlich aus Gründen der nationalen Sicherheit – jedoch nicht anzeigte, was eingegeben worden war. Was insofern aber auch unerheblich war, als eh keines der in dem Laden erhältlichen Produkte ein Preisschild trug.
Der Grossist stopfte die wenigen Einkäufe in eine selbst dafür zu kleine, an den Rändern eingerissene und von einigen großen Flecken unschön verzierte braune Papiertüte, schob sie Donald, wortlos wie zuvor, über den Verkaufstresen entgegen und schnappte sich den lässig hingehaltenen Dollarschein mit einer Fingerfertigkeit und Geschwindigkeit, die ihm niemand, zumindest nicht Donald, zugetraut hätte. Immer noch lächelte Donald den Dicken an, der von einer Art Barhocker rutschte, sich mit der linken Hand auf dem Tresen abstützte, mit der anderen darunter nach irgendetwas kramte und ihn die ganze Zeit mit seinem Glasbausteinblick fixierte.
„Sir?“, sagte Donald und versuchte, seine Stimme freundlich und selbstsicher klingen zu lassen.
„Was, Boy?“, kam schneidend und kalt die Antwort.
„Ich habe Ihnen zwanzig Dollar gegeben, Sir!“
„Das hast du, Boy. Und?“
„Die Einkäufe können nicht mehr als acht Dollar gekostet haben, Sir.“
Der Fettsack richtete sich zu voller Größe auf.
„Und das sagt mir was?“
„Dass ich noch Wechselgeld bekomme, Sir.“
Der Ladenbesitzer holte einen gewaltigen Baseballschläger unter dem Tresen hervor und legte ihn mit demonstrativer Langsamkeit vor sich auf die Holzplatte, ohne den Blickkontakt zu seinem späten Kunden abreißen zu lassen.
„Nennst du mich gerade einen Betrüger, Nigger?“
Der Klang der Stimme des fetten weißen Grossisten war fast zu einem Flüstern, aber gleichzeitig so eisig geworden, dass es Donald unwillkürlich fröstelte. Er schluckte. Mit einer solch heftigen, wenn auch bisher nur verbalen Attacke aus absolut heiterem Himmel hatte er, so weit von Alabama und Mississippi entfernt, überhaupt nicht mehr gerechnet. Wie naiv er doch immer noch war! Als ob sich Rassismus an bestimmten Bundesstaaten und klar abgrenzbaren Territorien der Vereinigten Staaten von Amerika festmachen ließ. Nein, weit gefehlt. Latent und unterschwellig war er beinahe überall anzutreffen, wobei es selbstverständlich graduelle Unterschiede in seiner Ausprägung gab und auch oder noch viel mehr in der Bereitschaft, ihn so offen und brutal nach außen zu tragen und zu zeigen.
Donald straffte seinerseits die Schultern und blickte den ihn hinterhältig belauernden glatzköpfigen, halbblinden, weißen Fettwanst ruhig und ohne Furcht an. Früher hätte er sich sofort klein gemacht und versucht, der riskanten Situation so leise, unauffällig und rasch wie möglich zu entfliehen. Auch jetzt lag ihm nichts an einer Eskalation, selbst wenn er die körperliche Auseinandersetzung mit dem übergewichtigen Grossisten nicht gescheut hätte. Aber erstens ließ sich nicht ausschließen, dass der Bilderbucharier hinter dem Verkaufstresen auf irgendeine Art weitere White Supremacists zu seiner Unterstützung gerufen hatte, und zweitens wollte Donald unter keinen Umständen die Weiterfahrt seines Güterzuges nach Reno und von dort nach San Francisco verpassen.
„Nein, Sir, ich habe Sie nicht Betrüger genannt“, ging er auf die letzte Bemerkung seines Gegenübers ein und setzte hinzu: „Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass die Preise in Ihrem Einkaufsparadies mehr als doppelt so hoch sein würden wie in den übrigen Vereinigten Staaten.“
„So ist es aber, Boy, und ich bestimme hier die Preise, so wie ich sie für richtig halte, kapiert?! Denn schließlich leben wir in einem freien Land“, entgegnete der Dicke und grinste ein widerliches Grinsen, das mehr als nur ein paar Zahnlücken und abgebrochene oder wahrscheinlich auch bloß weggefaulte Stümpfe erkennen ließ. Schon erstaunlich, dass jemand mit einem derart verwüsteten Beißapparat, der augenscheinlich aber kein künstliches Gebiss war, überhaupt mit den Zähnen knirschen konnte, und das auch noch vernehmlich!
„Und nun verpiss dich, Nigger, bevor ich dir die ewigen und grundlegenden Wahrheiten des Lebens noch einmal einbläue, damit du kleiner Mother Fucker sie für den hoffentlich kurzen Rest deiner Zeit nie mehr vergisst.“
Der Ladenbesitzer nahm den Baseballschläger an dem mit braunem Leder umwickelten Griff in seine bratpfannengroße rechte Pranke, liftete ihn um einige Zentimeter und fing dann an, einen gar nicht mal schlechten, zuerst schleppenden, dann aber immer schneller und härter werdenden Rhythmus auf dem Holztresen zu trommeln.
Donald überlegte für einen ganz kurzen Moment, ob er nicht seine beiden Drum Sticks, die er in der Gesäßtasche stecken hatte, herausziehen und mit dem Fleischklops eine kleine, frei improvisierte Jamsession beginnen sollte, verwarf die Idee aber sofort wieder als der Situation wenig angemessen. Der Typ würde es nicht verstehen, sondern sich total verarscht fühlen. Womit er auch durchaus Recht gehabt hätte, wie Donald sich eingestehen musste.
„Alles klar, Sir. Ich hab Sie aber schon verstanden. Und ich kenne auch die Regeln.“
Er ergriff die achtlos vollgestopfte Papiertüte, rang sich, jetzt allerdings mit deutlich mehr Mühe und Aufwand, noch einmal ein breites, freundliches Lächeln ab und bewegte sich dann zwar nur langsam, aber gleichwohl sicheren Schrittes, rückwärts in Richtung Ladentür. Den völlig ungedeckten Rücken zuwenden wollte er dem Fettwanst denn nun aber doch nicht. Vollends drehte er sich erst um, als er die Pendeltüre aufgestoßen hatte und bereits im Rahmen stand.
Er blickte ein allerletztes Mal über die Schulter zu dem im Halbdunkel liegenden Verkaufstresen und dem dahinter mit seinem dicken Hintern wieder halb oder noch weniger auf der kleinen Barhockerfläche sitzenden Sympathieträger der weißen Rasse zurück.
„Meine Mutter ist übrigens tot. Aber vielleicht kann ich stattdessen Ihre Tochter oder viel lieber noch Ihren Sohn…“
Ohne den Satz zu beenden, nahm Donald die Beine in die Hand und rannte zurück in die Dunkelheit. Er hörte noch etwas wie „Schwule Niggersau!“ aus dem Laden schallen, scherte sich aber nicht mehr um den feisten Widerling. Er würde sich mit Sicherheit nicht aus seinem sicheren Laden fortbewegen, und irgendwelche Unterstützer oder Freunde schien er nicht gerufen zu haben, denn die Straßen und Bürgersteige waren leer.
Als Donald den leeren Güterwaggon erreicht hatte, der ihm nun bereits seit Chicago als Unterschlupf, Schlafplatz und Vehikel diente, legte er die Papiertüte mit den erstandenen Lebensmitteln, einem frischen Weizenbrot, je einem Glas Erdnussbutter und Erdbeermarmelade, vier herrlich roten Äpfeln, einer Zwei-Liter-Milchflasche und zwei kleine Flaschen Coca-Cola vorsichtig auf dem verdreckten Holzboden ab. Danach schwang er sich kraftvoll und geschmeidig selber hinauf und hinein, bückte sich, nahm seine Vorräte, die jetzt wohl hoffentlich bis San Francisco reichen würden, auf, ging zu seinem Lager in der Wagenecke, setzte sich und begann, sich ein paar Brote zu machen, die er anschließend mit Heißhunger vertilgte.
Als die vier Diesellokomotiven kurz darauf wieder anfuhren, ging ein gewaltiger Ruck durch den Zug, der mittlerweile nahezu einhundert Waggons umfasste. Donald warf einen raschen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk, die sein Vater ihm geschenkt hatte, als er die Zulassung für das Studium am Alabama State College in Montgomery erhielt. „Damit du immer wissest, wem die Stunde schlägt“, hatte er gesagt. „For Whom the Bell Tolls“ lautete dementsprechend auch die Gravur auf dem Boden seiner neuen und sicher nicht billigen Armbanduhr. Den Sinn und die Bedeutung dahinter verstanden hatte Donald aber erst, nachdem er den gleichnamigen Roman von Ernest Hemingway aus dem Jahre 1940 vor einigen Monaten gelesen hatte.
Sein zweiter Blick galt Roberts Zuglaufplan. Sie setzten ihre Fahrt also planmäßig fort und würden als nächstes in Reno ankommen, von wo es in die Sierra Nevada hinaufging und dann über den Donner Pass hinüber und allmählich auch wieder hinunter nach Kalifornien. Mit seinem Güterzug sollte es, wenn denn unterwegs nichts dazwischen kam, von Elko noch etwa achtzehn Stunden dauern, bis er zum ersten Mal in seinem Leben die Pazifikküste würde sehen und den Stillen Ozean, ja ein Meer überhaupt, würde riechen können. Donald lehnte sich gesättigt und zufrieden zurück und nahm noch einen letzten Schluck aus der Milchflasche. Dann schloss er die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie Meer roch…
Als Donald wieder aufwachte und sein noch traumvernebelter Blick durch die offene Wagentür nach draußen fiel, bemerkte er als erstes, dass da wieder Bäume waren. Auf einen Schlag war er hellwach. Er flog auf die Füße und wäre, als er zur Schiebetür laufen wollte, fast der Länge nach hingeschlagen, weil die Jeans ihm fast auf den Knöcheln hing. Er fing sich, stutzte, stoppte, sah in einer Mischung aus Irritation und Belustigung auf seine nackten Beine hinunter, fragte sich grinsend, warum seine Hosen bloß da unten hingen, während seine bewusst zu klein und zu eng gewählten Boxershorts zwar noch an Ort und Stelle saßen, sich dabei aber über eine ziemlich beeindruckende Ausbuchtung spannten. Das ergab irgendwie nicht viel Sinn. Oder vielleicht doch, wenn er sich die letzten Traumsequenzen in Erinnerung rief. Er war eindeutig auf Entzug. Noch viel fetter grinsend, zog er sich die Jeans wieder in die Höhe, schloss die Knöpfe und den Gürtel, trat an die offene Waggontüre und schaute hinaus.
Wie sehr hatte er den erhebenden Anblick alter Bäume in den zurückliegenden Tagen vermisst, als sie zuerst durch die endlosen Weizen- und Maisfelder und die horizontverwischenden Viehweiden der Great Plains gezockelt waren, die Salz- und Sandwüsten von Utah und Nevada passiert hatten, zwischendrin den zumeist auch oberhalb der Vegetationsgrenze liegenden Hochebenen der Rocky und der Wasatch Mountains gefolgt waren und schließlich die Sierra Nevada durchquert hatten.
Donald war sich nicht sicher, ob sie den legendären Donner Pass schon hinter sich gelassen hatten, jenen am 30. November 1867 fertig gestellte Streckenabschnitt, für dessen Bau die Central Pacific Railroad als ausführende Eisenbahngesellschaft über 15.000 Chinesen anwerben musste, weil sich seinerzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht genügend Arbeitskräfte gefunden hatten. Also kramte er erneut Roberts inzwischen arg ramponierten Zuglaufplan aus der Hosentasche und versuchte, die darin angegebenen Zwischenstopps und Fahrzeiten mit der Realität abzugleichen.
Seine Armbanduhr zeigte kurz nach sieben Uhr morgens. Seit sie Elko verlassen hatten, waren also gut neun Stunden vergangen. Also mussten sie auch Reno bereits lange passiert und kurz danach die Grenze von Nevada zu Kalifornien überquert haben. Auch über den nordöstlich vom Lake Tahoe bei Tuckee gelegenen Donner Pass waren sie damit sicher schon vor einigen Stunden hinweggefahren. Donald bedauerte für einen Moment, dass er auch dieses Ereignis verschlafen hatte. Aber vielleicht war die Passage ja auch gar nicht so atemberaubend und spektakulär wie er gelesen hatte. Während er noch ein paar weitere Berechnungen zum aktuellen Aufenthaltsort anstellte, griffen die Bremsen laut kreischend und funkensprühend zu.
Donald blickte nach vorne an die Spitze des insgesamt über zwei Kilometer langen Güterzugs. Erste Holzhäuser, die auch jeder Kulisse eines Hollywood-Westerns zur Ehre gereicht und ihrem Erbauer voraussichtlich einen Spezial-Oscar für die überaus gelungenen Filmbauten eingebracht hätten, tauchten rechts und links des Gleisbetts auf, das sich, wie immer an den Haltebahnhöfen, an denen auch die kalifornische Zephyre stoppten, kurz darauf gabelte.
Kurz darauf schwenkte die führende Diesellokomotive nach rechts. Erneut verließ der Güterzug also in dem vorausliegenden Städtchen seine Hauptstrecke. Vielleicht kam ihnen ja wieder ein Windgott entgegengedonnert, den sie vorbeilassen mussten. Oder es saß ihnen einer der Anemoi im Nacken, und die Zugführer hatten über Funk eine entsprechende Order für dieses Brems-, Spurwechsel- und Passiermanöver erhalten, für deren Ausführung sie mehr als zwanzig Minuten gebraucht hatten. Bis eine derart gewaltige Masse aus Eisen, Stahl und Holz zum Stehen kam, dauerte es einfach seine Zeit, selbst dann, wenn die Zuggeschwindigkeit, wie auf diesem Streckenabschnitt, weit unterhalb des möglichen Maximums lag.
Auch Donalds Güterwaggon, der sich fast am Zugende und nur sieben oder acht Wagen vor den zwei schiebenden Diesellokomotiven befand, hatte inzwischen die ersten schmucken Häuser passiert, und er hatte einige Aufschriften und Namenszüge entdeckt, die ihm sagten, dass sie gerade in Colfax, California angekommen waren.
Die Ansiedlung, die zunächst Alder Grove hieß und Trappern und Goldgräbern als Winterlager diente, war in den 1850er Jahren in Illinoistown umbenannt worden war und hatte den Namen Colfax zu Ehren von Schulyer Colfax angenommen. Dieser hatte die Stadt 1865 besucht, um sich, in seiner damaligen Funktion als Sprecher der US-Repräsentantenhauses, persönlich ein Bild vom Fortgang des Baus der westlichen Abschnitte der ersten transkontinentalen Eisenbahnstrecke zu machen, für den die Central Pacific Railroad den Zuschlag der im fernen Washington, D.C. sitzenden Regierung erhalten hatte. Vier Jahre später hatte Schulyer Colfax dann für einen Term unter Ulysses S. Grant, dem 17. US-Präsidenten, als Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika gewirkt.
Donald bemerkte die Unruhe, die über den Ort lag, beinahe körperlich. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung. Eilig packte er seine Sachen zusammen, stopfte alles in den Seesack, was da hineingehörte, warf die robuste Segeltuchtasche aus dem Güterwagen auf den sich an das Gleisbett anschließenden Rasenstreifen, schnappte sich noch rasch die Milchflasche mit der einen und die beiden Cola-Pullen mit der anderen Hand und sprang dann mit einem mächtigen Satz hinunter in den groben Schotter. Als sich die zum Teil messerscharfen Steinkanten ziemlich schmerzhaft durch die dünnen Sohlen der nur einfachen Turnschuhe an seinen Füßen drückten, musste er die Zähne kräftig zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Man hätte sich bestimmt auch langsam und vorsichtig hinabgleiten lassen können. Aber nein! Er musste ja wieder springen. No risk, no fun! Irgendwann würde er sich mal so die Gräten brechen…
Er verzog das Gesicht und machte einen großen Schritt nach vorne, der ihn neben seinen Seesack auf dem grünen Böschungsstreifen brachte. Als er sich dann wieder nach vorne in Richtung der Zugspitze umwandte, bemerkte er zum ersten Mal den beißenden Geruch, der in der Luft lag. Und dann sah er auch die Feuerwand, die sich in einiger Entfernung von Colfax quer über der Eisenbahntrasse erhob.
Ein Waldbrand, wie er ab den Frühjahrsmonaten bis weit in den Herbst hinein in Kalifornien weder ungewöhnlich ist noch sich als unbeherrschbar erweist. Aber dieser vor ihnen war offensichtlich von einem Ausmaß, dass an eine Weiterfahrt mit dem Zug wohl unter keinen Umständen zu denken war. Vielleicht würde der Güterzug wieder ein ganzes Stück zurückgezogen und dann auf Nebenstrecken entweder nördlich um das Feuer herum auf die Trasse des „Empire Builder“ nach Portland oder auf die weiter südlich nach Los Angeles verlaufenden Strecken des „Super Chief“, des „Southwest Chief“ oder des „City of Los Angeles“ umgeleitet.
Jedenfalls konnte er den Plan, in zehn Stunden in Sausalito ein Bad im Pazifischen Ozean zu nehmen und sich danach eine zumindest temporäre Bleibe in Haight-Ashbury zu suchen, gepflegt knicken. Es musste also ein neuer Plan her, und um den auszubaldowern, brauchte Donald jetzt vor allem einen großen Pott starken schwarzen Kaffees mit unbegrenzter Nachfülloption und eine ausreichend große Menge ordentlich gefüllter Donuts oder Bagels zum Frühstück, das man dann in drei Stunden mit ein paar guten Burgern fortsetzen könnte. Als sie eben nach Colfax hineingefahren waren, waren Donald Werbeplakate von zwei vielversprechenden Läden aufgefallen, die nicht allzu weit vom Bahnhof weg sein konnten, „T J’s Roadhouse“ und „Buzz Thru Joe's“.
Donald nahm den Seesack auf, warf ihn sich über die Schulter, ging auf zwei ältere schwarze Männer zu, die sich miteinander unterhielten, und fragte sie nach dem Weg und nach ihrer Empfehlung. Wie nicht anders zu erwarten, plädierte der eine für T J’s, während der andere auf die besonders große und reichhaltige Kaffeeauswahl im Joe’s verwies.
Zum Glück befänden sich beide Läden aber nur 70 Meter voneinander entfernt in der S Auburn Street, und zu Fuß brauchte ein junger Kerl wie Donald höchstens eine halbe Stunde, wie die beiden Alten ihm versicherten, und das übereinstimmend. Artig bedankte sich Donald und marschierte über die Railroad St los, von der er zuerst links in die E Oak St und von dieser dann wieder rechts in die S Auburn Street abbog.
Als Donald nach knapp dreißig Minuten vor den beiden Frühstücksrestaurants ankam, bemerkte er davor einen alten und ziemlich staubigen Pick-up Truck mit einem etwas verbeulten Kennzeichen aus Missouri…
© DieTraumweber, April 2019