*******llia:
24/7 ist ein Luftschloss
Ich glaube eine Definition von 24/7 ist zwar auf der einen Seite unerlässlich, allerdings erübrigt sie sich auch, wenn sie "die ganze oder zumindest die grösste Zeit" lautet. Ich halte das nicht kaum möglich, wenn man psychisch gesund ist oder bleiben will.
Es reicht eben nicht nur das wollen, sondern es benötig auch das Können der Beteiligten.
Würde ich auch nie bestreiten - ich sage nur, dass das nicht alle können, sondern wahrscheinlich eine kleine Minderheit. Definieren wir aber "24/7" als eine feste Form, implizieren wir damit, dass sie für alle möglich ist. Das könnte zum Beispiel eben dazu führen, dass sich viele Menschen in eine solche Beziehung begeben, weil sie meinen, es zu wollen, ohne sich bewusst zu sein, was es "wirklich" bedeutet. Wie eine Art von Gruppendruck: "Wenn ich BDSM toll finde, dann muss auch 24/7 drin liegen"
Sehen wir uns doch mal dein Argument „psychisch gesund“ an, welches nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wie folgt beschrieben wird:
Psychische Gesundheit ist ein „Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“
Ein Paar welches seine komplementären Neigungen in einer 24/7 Beziehung ausleben möchte, schafft sich genau ihre Situation des „sozialen Wohlbefindens“ und leben bewusst in diesen Rahmen ihre Neigungen und Sexualität positiv aus.
Richtig, aber zwei Dinge: 1.) Heisst das, dass ich mir zu jeder Zeit zu 100% sicher sein können müsste, dass dieses Wohlbefinden
wirklichein Wohlbefinden ist. Dazu nochmal die Analogie von missbräuchlichen Beziehungen: Menschen bleiben in solchen Beziehungen, weil sie den Missbrauch in ihr Wohlbefinden integrieren: "Es muss so sein, manchmal leidet man halt und ich bin an diesem Leid selbst Schuld". Man darf und soll sein eigenes Wohlbefinden aber genau deshalb immer wieder hinterfragen, einfach nur, um sich sich selber zu versichern. Ein bisschen wie das "Ich liebe dich", das in Beziehungen irgendwann zur Floskel wird und man sie benützt, obwohl man vielleicht schon lange nicht mehr liebt, sich aber selber belügt.
Das 24/7 kein einfaches Lippenbekenntnis ist, sondern auch schnell zur toxischen Beziehung werden kann sollte jeden beteiligten bewusst sein.
Auch hier widerspreche ich dir nicht. Das Entscheidende ist aber das "sollte" - Ja, sollte, aber ist halt nicht immer allen Beteiligten bewusst. Nicht weil sie schlechte Menschen wären, sondern, weil Menschen irren können und sich manchmal wirklich nicht bewusst sind, was sie eigentlich tun.
Die Einvernehmlichkeit der Beteiligten und die eigene Selbstverantwortung kann und wird nicht abgegeben. Alle Partner sind mit dem, was geschieht oder geschehen soll, einverstanden und haben die Möglichkeit, frühere Entscheidungen mit aktuellen Gefühlen, Reaktionen oder für sie wichtigen Informationen abzugleichen.
Wenn du 24/7 in einer BDSM-Beziehung bist und die D-Person sämtliche Kontos alleine kontrolliert, die S-Person das Einkommen abgibt, sämtliche Passwörter für Handy/Mail etc. offengelegt sind (natürlich nur für die D-Person) etc. etc. kann diese Einvernehmlichkeit genau irgendwann verschwinden. Wer schon einmal in einer missbräuchlichen Beziehung war, wusste das nicht von Anfang. Man toleriert dann aus Liebe gewisse Dinge, die man
eigentlich nicht tolerieren würde. Und irgendwann wird aus der Toleranz Gewohnheit, bis man eines Tages aufwacht und sich fragt: Moment, wieso lasse ich das mit mir machen? Ich glaube, es ist ein Irrtum zu denken, unsere Erfahrungen mit Menschen hätten keinen Einfluss auf unser eigenes Ich. Wenn es nur noch 24/7 gibt, hat das doch offensichtlich nicht nur einen starken Einfluss auf das Leben an sich, sondern auf das Ich.
Man kann die Konstellationen und vielfältigen Arrangements von 24/7 im D/s, EPE oder TPE nicht durch die Brille der Normalität betrachten. Da sich die gelebte Dynamik dieser Beziehungsmodelle einen Außenstehenden nicht erschließt.
1. Genau deshalb bin ich ja dafür, dass wir davon abkommen, gewisse Dinge als "normal" und andere als "unnormal" zu betrachten. Das ist ja mein Problem mit dem Begriff 24/7. Er beschreibt offenbar eine "Norm" innerhalb des BDSM, die grundsätzlich kein Problem darstellt.
2. Dieselbe Argumentation hört man ständig von Menschen, die in missbräuchlichen Beziehungen leben (ich will dir damit nichts unterstellen!). "Diese Beziehung darf man nicht durch die Brille der Normalität sehen, weil unsere Beziehung speziell ist und dazu gehört halt der emotionale und physische Missbrauch". Interessanterweise hört man das von Opfern
und Tätern in solchen Konstellationen.
Beim lesen deines Beitrages frage ich mich, auf welcher Beobachtung bzw. Erkenntnis Du deine Meinung gebildet hast? Es ist für mich wenig Zielführen über Vermutungen zu spekulieren und diese dann unter Generalverdacht oder in die Ecke von Stockholm-Syndrom oder Survivor-Guilt zu stellen.
Dabei steht doch am Ende des Beitrags explizit, dass es mir nicht um einen Generalverdacht geht?
Der einzige sinnvolle Generalverdacht ist der sich selber gegenüber, eben der Zweifel, dass man in jeder Situation - selbst wenn man sich wohlfühlt - auch falsch liegen könnte. Beispiel: Menschen, die sich vornehmen, mit dem Rauchen aufzuhören (passt ja, bald ist Neujahr). Genau solche Vorsätze können Teil einer Selbstlüge sein. Wenn ich mir nämlich etwas vornehme, findet dieses Unternehmen in der Zukunft statt und nicht jetzt. Ich muss also deswegen nicht mit dem Rauchen aufhören, weil ich es mir ja vorgenommen habe und es immer kann. So wird aus der "letzten Zigarette" manchmal 100 "letzte Zigaretten".
Nochmal: Mir geht es nicht um einen "Generalverdacht" gegenüber
Menschen in 24/7-Beziehungen, sondern gegenüber Verhaltensweisen, die damit zusammen hängen. Es geht mir darum darum, dass wir offen dafür sein müssen, selbst die wichtigsten Dinge im Leben, selbst unsere Liebe und Leidenschaften immer wieder hinterfragen zu
dürfen. Aufrichtige Introspektion. Wenn aber jemand anders immer definiert, wie man zu sein hat und was man tun muss, glaube ich, dass diese Introspektion an diese Person
delegiert wird, die dann für einen entscheidet. Dieses "Hinterfragendürfen" verschwindet dann irgendwann einmal. Eine Analogie: Technologische Beschleunigung entwickelt sich exponentiell, bis irgendwann einmal "alles gleichzeitig geschieht". Geschieht "alles gleichzeitig" verschwimmen die Grenzen zwischen den Dingen. Oder eben die Grenze zwischen dem Ich des Subs und des*der Dom(me).
Wir delegieren unseren Genuss und unsere Entscheidungen ständig an Objekte und andere Menschen
("Was essen wir heute?", "Draussen regnet es, darum gehe ich nicht raus" [sprich: der Regen entscheidet] oder, wenn wir jemandem zu Unrecht "die Schuld in die Schuhe schieben")
und vergessen dabei, dass wir auch ein Teil davon sind. Das ist auch völlig "normal", heisst aber nicht, dass man es damit nicht übertreiben (und sich selber gefährden) könnte.
Woher meine Meinung kommt: Ein jahrelanges Interesse an Philosophie und Psychologie (primär Psychoanalyse) und Studien auf diesem Gebiet sowie ein Job, dessen Hauptaufgabe das Beobachten von Menschen und Geschehnissen ist.
Dazu die Beobachtung, wie Menschen in bestimmten "Gruppen" (besser: Diskurse oder Strukturen) miteinander umgehen und, welche Gemeinsamkeiten verschiedene "Gruppen" besitzen. Am Ende sind wir aber alle Individuen, die sich einer Gruppe "anpassen" müssen, um darin zu funktionieren. Deine Reaktion zeigt das ja eigentlich ganz gut: Weil ich Dinge sage, die vielleicht nicht viele in dieser "Gruppe" sagen, empfindest du meine Meinung als Spekulation, die nicht zielführend ist. Nur: Von welchem Ziel sprechen wir denn?
Mein einziges Ziel ist, zu sagen, dass Menschen sich hinterfragen dürfen (und wohl müssen, wenn sie gesund bleiben wollen) und, dass wir starre Begriffe wie von unguten Bezügen lösen sollten, wenn wir Menschen ihr Ich zugestehen wollen. Die BDSM-Szene ist doch genau dafür ein Ausdruck: Weil dieses Ich in der "normalen Gesellschaft" nicht "erlaubt" ist, findet es nur in einer "Szene" statt. Ich bin für mehr Anerkennung für die Tatsache, dass wir alle Individuen sind, die sich nicht der Welt unterwerfen sollen und dafür, dass wir zuerst Individuen sind, deren erste Verantwortung das eigene Leben, das eigene Wohlbefinden, das eigene Glück ist. Anerkennen wir das nicht, laufen wir Gefahr, zum Spielball aller anderen Menschen zu werden.
Zuletzt nochmal: Ich habe mich explizit gegen Generalverdacht gestellt, explizit gesagt, dass das Beispiel mit dem Stockholmsyndrom und Survivor Guilt
Extrembeispiele sind für Phänomene, die sich irgendwo ein bisschen ähneln.