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Arlequin's World

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Arlequin's World
Texte rund um die U.S.A.

von Arlequin_Photo

In diesem Thread werde ich immer mal wieder Texte posten, die aus meiner Feder stammen ... manchmal kombiniere ich sie auch mit Fotos aus meiner Kamera.

Kommentare zu den Inhalten sind erlaubt und erwünscht.
*********Photo Mann
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August 16, 1937 - 10 ct.
"Ich liebe Rätsel. Da denkt man, es gibt keine Verbindung, aber am Ende gibt es sie doch - und dann macht alles einen Sinn!" [1]

Es war der 19. April 2022 als ich in Somerville eintraf. Um jetzt gleich im Entstehen befindliche Vorstellungen zu zerstören, es könnte der Beginn eines seitenlangen Romans sein... Nein, ich kam ganz zufällig nach Somerville, einer unscheinbar wirkenden Kleinstadt im US-Bundesstaat New Jersey. Der Zufall, der mich hierher führte, bestand allein aus dem Hinweis einer netten Verkäuferin in einer Supermarktkette im nicht ganz weit entfernten Bound Brooks, ebenfalls in New Jersey, dass das hier ausverkaufte Produkt wahrscheinlich in der Filiale in Somerville noch erhältlich sei. Um es kurz zu machen: Ja, es war es und der Einkauf war schnell erledigt. Es blieb also noch genügend Zeit, einen Spaziergang durch Somerville zu machen.

Dieses Somerville ist also eine Stadt im Somerset County im Bundesstaat New Jersey. Das muss man wahrscheinlich schreiben, weil es u.a. auch noch einen Suburb von Boston gleichen Namens in Massachusetts gibt, übrigens im Middlesex County. Den County erwähne ich deshalb, weil es einen gleichnahmigen County widerrum ganz in der Nähe von Somerville, New Jersey gibt. Es ist schon ein Dilemma mit den Ortsnamen in den U.S.A. und so passiert es schon mal, das ein ganzen Filmteam statt in Portland - Maine in Portland - Oregon landet.

Unser Somerville macht auf mich den Eindruck einer pittoresken, sauberen Kleinstadt. Zu den Söhnen der Stadt gehört übrigens u.a. auch der Schauspieler Lee Van Cleef, der hier 1925 geboren wurde und ein bekanntes Gesicht in der Zeit der Italowestern war, meistens in der Rolle des Hauptschurken. [2]
Den ursprünglichen Einkauf abgeschlossen, macht ich mich also auf den Weg durch Somerville, schlenderte an diversen Restaurant diverser Preisklassen vorbei, an einem kleinen Laden für Haushaltswaren aller Art, kleine Möbelgeschäfte und am Gebäude der Somerville County Verwaltung. Und dazwischen lud ein aufgeräumter Antiquitätenladen zum Besuch ein, besonders, weil dieser Laden auch alte Kameras in der Auslage hatte. Bei den Kameras wurde ich überraschend auch sehr schnell fündig und hatte kurz nach dem betreten des Ladens schon eine Minolta-16 MG im Kompletset für 120 $ in der Hand. [3] Nach meiner Einschätzung ist diese Kamera noch nie oder ganz selten benutzt worden.

Je tiefer ich in den Laden vordrang, desto gefährlicher wurde es. Man kann es gut mit der Art vergleichen, wie Bücherläden auf mich wirken. Bücher haben bei mir Suchtpotential, d.h. dass die abstrakte Gefahr, die in meinem Fall von Büchern ausgeht, mich unwiderruflich in der Falle sitzen lässt, wenn ich zu lange in das Schufenster einer Buchhandlung schaue. Ich kann gar nicht anders und wenn ich mich dann nicht zusammenreiße, stehe ich plötzlich mitten im Laden. Ab da ist alles zu spät. Auch dieser Laden löste in mir dieses Bücherladen-Syndrom aus und ich entdeckte in einer Ecke einen Stapel alter Zeitschriften. Und das waren uralte Ausgaben des LIFE Magazins. [4]

Erfürchtig nahm ich diesen Stapel auseinander und wünschte mir, ich hätte weiße Schutzhandschuhe aus Baumwolle dabei, wie ich sie manchmal in alten Archiven ausgehändigt bekomme, wobei man beim Umgang mit Papier und Büchern keine Handschuhe tragen sollte, wohl aber bei Berührungen von fotografischem Material.

Die ältesten Ausgaben in diesem Stapel stammten aus dem Jahr 1937. Ein Jahr zuvor hatte Henry Luce die Namensrechte an LIFE übernommen - das am 4. Januar 1883 von John A. Mitchell und Andrew Miller gegründet wurde - , um eine neue Publikation mit Fokus auf Fotojournalismus auf den Markt zu bringen. Dabei enstand die Idee gar nicht in den U.S.A. sondern im weit entfernten Berlin. Dort gab es schon die Berliner Illustrirte Zeitung - BIZ - (ab 1941 Berliner Illustrierte Zeitung), die auf Bilderwirkung setzte und Fotografien statt Zeichnungen nutzte. [5] Mit der Weiterentwicklung vor allem durch das LIFE Magazine begann die Zeit der großen Fotoreportagen und ganzseitige Fotostrecken in Illustrierten, die auch große Namen der Fotografie hervorgebracht haben. Ende der 1960er / Anfang 1970er verschwanden die Fotostrecken langsam aus den Massenillustrierten. Das LIFE stellte 1972 sein Erscheinen ein.

Ich schaute also nach einer Ausgabe, die ich mitnehmen wollte, denn obwohl interessant, hätte der gesammte Stapel mein Budget gesprengt und für den Rückflug einen ganzen Koffer in Anspruch genommen. Zunächst schaute ich nach den Themen der Zeitschriften, entschied mich dann aber für die Ausgabe vom 16. August 1937, 26 Jahre vor meiner Geburt, sehr nah am Geburtstag meiner Mutter, die 1937 geboren wurde und in einem Topzustand. Nun gut, für 10 ct. - wie aufgedruckt - war diese Ausgabe nicht mehr zu haben, aber 12 $ fand ich für dieses antiquarische Schmuckstück völlig ok.

Erst in Ruhe Zuhause fand ich die Zeit, mich näher mit meiner LIFE Ausgabe zu beschäftigen. Allein die abgedruckte Werbung war schon ein Highlight. Goodrich [6] bewarb "A typical example of Goodrich improvement in rubber" bei Damenschuhen, Zenith [7] sein Armchair Radio. Außerdem berichtete man - natürlich mit vielen Fotos - vom Set und den Dreharbeiten zum Film "Souls of Sea" (dt. Schiffbruch der Seelen) mit Gary Cooper in der Hauptrolle und in Detroit wurde der erste Erzbischof in sein Amt eingesetzt.

Für Fotografen interessant ist auch der Bericht über Gerda Taro [8] , die 25jährige Fotografin und Frau von Robert Capa, die im Spanischen Bürgerkrieg im Juli 1937 ums Leben kam.
"The Spanish war kills its first woman photographer".



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[1] Filmzitat aus "The Secret Life of Walter Mitty"
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Lee_Van_Cleef oder https://en.wikipedia.org/wiki/Lee_Van_Cleef
[3] http://camera-wiki.org/wiki/Minolta-16_MG
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Life_(Magazin) oder https://en.wikipedia.org/wiki/Life_(magazine)
[5] https://visual-history.de/2023/04/11/hartmann-kurt-korff-new-picture-thinking/
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Goodrich_Corporation oder https://en.wikipedia.org/wiki/Goodrich_Corporation
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Zenith_Electronics_Corporation oder https://en.wikipedia.org/wiki/Zenith_Electronics
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Gerda_Taro oder https://en.wikipedia.org/wiki/Gerda_Taro

Text und Foto: Arlequin Photographie
Meine LIFE-Ausgabe vom 16. August 1937
*********Photo Mann
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Der alte Häuptling - Teil 1
"Und wenn unsere Träume wahr würden, auch dann würden wir noch Enttäuschung fühlen." [1]

Anfang der 1990er Jahre betrat ich das erste Mal US-amerikanischen Boden und stelle gerade jetzt beim Schreiben fest, dass seit dem schon wieder 30 Jahre vergangen sind und fünf Haushaltsvorstände im weißen Haus gewechselt haben. Ich möchte nicht behaupten, dass meine heutigen Reisen in die U.S.A. mittlerweile zur Routine geworden sind, aber damals war das noch ein riesiges Abenteuer.

Man sollte voraus schicken, dass ich bis dahin allenfalls von Reisen in die U.S.A. geträumt habe. Natürlich wusste ich von der Schwester meines Vaters, die in den 50er Jahren mit einem US-Soldaten nach New York gegangen war und dort eine Familie gegründet hatte. Und weiter wusste ich natürlich, dass ich in New York drei Cousins und eine Cousine habe, aber kennengelernt habe ich sie als Kind nie. Weder hatten meine Eltern die nötigen Mittel um über den großen Teich zu kommen, noch sah sich meine Tante in der Lage, in ihre alte Heimat zu reisen. Die einzige, die zwischen den Familien wechselte, war meine Oma. Opa blieb Zuhause und war froh - so schätze ich den alten Mann ein - alleine die Zeit nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Das kindliche Gemüt neigt dazu Wissenslücken mit viel Fantasie zu füllen. Und so hatte ich bald ein ziemlich schräges Amerikabild, welches allerdings einen durchaus positiven Anstrich hatte. Amerika! Das waren Cowboy und Indianer, Kaugummi und Leute sie im Zustand der völligen Entspannung, die Füße auf den Tisch legen. Das war alles irgendwie äußerst cool. Und da Fantasie auch Futter braucht um zu wachsen, zog ich als Kind die Nährstoffe aus Bonanza, Winnetou und dem letzten Mohikaner. Als ich erfuhr, dass mein amerikanischer Onkel Polizist in NYC war, stellte ich mir auch gleich vor, wie sein berufliches Leben als Cop aussah, irgendwo zwischen Karl Malden und Telly Savalas.[2] Dabei war er ganz einfacher Streifenpolizist im NYPD.

Natürlich waren diese kindliche Vorstellungen ca. 20 Jahre später in den 90er schon ziemlich erodiert. Irgendwann beginnt auch der dümmste Mensch den Unterscheid zwischen Fiktion und Realität zu erkennen - hoffe ich mal. Aber meine erste Reise in die U.S.A. führte mich auch weder nach San Francisco noch nach New Yorl City. Ich landete in Kentucky und Ohio. Hintergrund war eine kleine Forschungsreise in der es um regionale Auswanderungen in die U.S.A. ging, auch um Klischees vom "reichen Onkel in Amerika" zu hinterfragen und zu widerlegen. Mein Kollege und ich - beide bis dahin noch nie in den U.S.A. gewesen - flogen schon fast abenteuerlich von Bremen über Amsterdam und Detroit nach Cincinnati. Den Rückflug erwähne ich lieber nicht...

Dort angekommen, wurden wir herzlich empfangen und waren bei Nachfahren (nord-)deutscher Auswanderer untergebracht. Noch am Abend am Tage unserer Ankunft - mittlerweile ca. 20 Std. auf den Beinen - fanden wir uns auf einer Versammlung der Kolping Society Cincinnati wieder und wurden herum gereicht wie lila Kühe. Und beinahe jeder unserer Gesprächspartner machte uns darauf aufmerksam, dass wir zu einer recht günstigen Zeit angekommen wären, da in den nächsten Tagen der "German-American-Day"[3] auf einem kleinen Festplatz zelebriert werden würde und wir - natürlich - dort erscheinen "müssten". Hatten wir eine Wahl?

Das erste, was uns dort auffiel, war das Fehlen jeglicher Dekorationen in Schwarz-Rot-Gold. Dabei hätte ich es wahrscheinlich noch nicht einmal vermisst, wenn dafür nicht viel in Blau-Weiß drapiert gewesen wäre. Möglicherweise war die Ursache darin zu finden, dass eine große bayerische Brauerei als Sponsor auftrat. Wir, der nord- und plattdeutschen Fraktion zugehörig, erschien diese Blauweiß-Reduzierung etwas befremdlich, verstärkt noch, als wir einen Amerikaner trafen, der in einer bayerischen Trachtenlederhose steckte und der uns stolz erzählte, dass seine deutschen Vorfahren irgendwo aus der Gegend zwischen Bremen und Hamburg stammten - so genau wisse er es aber nicht.

Und wir entdeckten noch mehr Klischeeerfüllungen. Auf unserem Rundgang zwischen Jahrmarktsbuden und -ständen kamen wir bald an den Organisationsstand, auf dem auf die große Tombola hingewiesen wurde. Als zweiter Preis wurde ein „Original German Schnitzelessen“ ausgelobt, die Erstplatzierten gewannen ein "original German" Essen für zwei Personen, bestehend aus einem halben Hähnchen mit Kartoffelpüree und Sauerkraut. Die Kombination war mir auch noch nicht geläufig. Man kann das sicherlich essen, aber ob das nun typisch Deutsch ist? So richtiges Interesse aber gewann unsererseits ein junger Mann, der seine Mini-Brauerei aufgebaut hatte und sein selbst gebrautes Bier anbot. Und das, so fanden wir, war gar nicht mal so schlecht. Wir waren an diesem Tag öfter bei ihm und genossen sein Bier und er empfand es als einen Ritterschlag: German people like my beer!

Später wurde mir bewusst, dass uns auf unserer Reise eigentlich nur ein Spiegel vorgehalten wurde und ich malte mir aus, wie bei uns ein solches Fest aussehen würde. Wahrscheinlich hätten wir nicht die Flagge Kaliforniens oder Texas gehisst sondern schon Stars and Strips - aber sicherlich wären eine ganze Menge Klischee-Indianer und Cowboys auf der Bildfläche erschienen und die Band hätte mit „Da sprach der alte Häuptling der Indianer“ zum Tanz aufgefordert.

Nun, es gab ja später einen kleinen Gegenbesuch - in Teil 2.

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[1] James Fenimore Cooper (1789 - 1851), US-amerikanischer Seemann und Schriftsteller der Romantik.
[2] Karl Malden spielte in den 1970er Jahren in 120 Episoden den Detective Lieutenant Mike Stone in "Die Straßen von San Franzisco (The Streets of San Francisco)" und Telly Savalas in 118 Folgen den New Yorker Polizist Theodoros Kojak in "Kojak – Einsatz in Manhattan (Kojak)".
[3] German American Day, sponsored by the German-American Citizens League of Greater Cincinnati, Findlay Market Cincinnati, OH.
[4] „Das sprach der alte Häuptling der Indianer“ von Gus Backus aus dem Jahre 1960, geschrieben von dem deutschen Komponisten Werner Scharfenberger und dem österreichischen Autor Peter Wehle.

Text und Foto: Arlequin Photographie
Manchmal befindet man sich einfach auf dem Holzweg.
*********Photo Mann
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Der alte Häuptling - Teil 2
„Treveris ex urbe deus complet dona sophiae" [1]

Natürlich verteilten wir bei den vielen Besuchen kräftig Einladungen nach "Good Old Germany". Wir gaben uns allerdings nie der Illusion hin, dass auch nur einer Einladung Folge geleistet wurde. Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen trafen wir auf Einwanderer und deren Nachfahren, die "erst" in den 1950er Jahren nach Amerika ausgewandert waren. Die hatten i.d.R. genügend Verwandtschaft, die sie auch besuchten. Dann trafen wir auf ein Klientel, deren Vorfahren nach dem U.S.-amerikanischen Bürgerkrieg einwanderten, die aber durch Städtepartnerschaften etc. mit deutschen Gemeinden regen Kontakt nach Deutschland hatten. Da waren z.B. die Einwohner von New Knoxville, Auglaize County, Ohio, einer Kleinstadt die im Jahr 1835 von einem Einwanderer aus Ladbergen im Münsterland gegründet wurde und da er ordentlich Werbung in seiner alten Heimat machte, anfangs auch durch viele Ladbergener bevölkert wurde. Übrigens kam Neil Armstrong [2], der erste Mensch auf dem Mond, aus New Knoxville. Sein Urgroßvater Friedrich Kötter stammte aus Ladbergen. Heute unterhalten New Knoxville und Ladbergen eine Städtepartnerschaft.

Aber da gab es auch einen Kontakt mit jemanden - nennen wir ihn William - der im Vorfeld unserer Reise schon Kontakt zu mir aufgenommen hatte, weil sein ausgewanderter Vorfahre aus dem gleichen Dorf stammte wie ich. Natürlich haben wir ihn, wohnhaft im Auglaize County, Ohio besucht und uns viel von den Nachfahren seines deutschen Vorfahren erzählen lassen. Und nicht nur das. Es stellte sich heraus, dass seine ganzen Brüder ihm nachfolgten. Nur eine Schwester - damals noch viel zu jung - blieb bei den Eltern Zuhause und führte die kleine arme Hofstelle weiter. Das alles spielte sich gegen Ende des 19. Jhdt. ab und die meisten fanden beim Bau von Eisenbahnstrecken Arbeit. Noch heute halten die Nachfahren dieser Brüder engen Kontakt zueinander, nur die Verbindung nach Deutschland war irgendwann abgebrochen und in Vergessenheit geraten. Auch hier sprachen wir natürlich eine Einladung an William aus, der aber aufgrund seines Alters nicht mehr soweit reisen wollte.

Zwei Jahre später schieb uns Williams Sohn eine E-mail. Er habe, so schrieb er, seinen Vater überredet, doch nach Deutschland zu kommen, weil dieser von unserem Besuch noch immer so begeistert war und im amerikanischen Verwandtenkreis herum gereicht wurde, weil er die verlorene Verbindung nach Europa wieder gefunden hatte. So kam es dann zu einem Gegenbesuch und wir holten beide eines Tages am Flughafen Amsterdam Schiphol ab. Schon die Autofahrt brachte erhellende Erkenntnisse. William bemerkte, dass wir jetzt wegen ihm keinen Sender im Radio einstellen müssten, der englischsprachige Musik spielt. Er sei ja schließlich auf einer Reise um etwas zu lernen und da sollten wir doch im Radio einen Sender einstellen, den wir gewohnt seien zu hören - also in deutscher Sprache. Er schaute ungläubig als wir ihm erklärten, dass die Sender überwiegend alle englischsprachige Musik spielten und wir das auch so gewohnt seien und auch gar nicht anders wollten. Er sollte aber mit noch mehr Dinge konfrontiert werden, die sein Weltbild etwas durcheinander brachten.

Noch am Abend der Ankunft begleitete mich William und sein Sohn, als ich in der Dunkelheit noch mit dem Hund vor die Türe musste. Obwohl man im Licht der Straßenlaternen nicht alles erfassen konnte, waren sie doch ziemlich von der Situation ergriffen, in dem Dorf unterwegs zu sein, dass ihr Vorfahre im 19. Jhd. Richtung Amerika verlassen hatte. In Höhe des Friedhofs erzählte mir William, dass er Erde vom Grab seines Vorfahren mitgebracht hätte und am nächsten Tag gerne auf das Grab dessen Eltern streuen möchte. Ich erklärte ihm, dass der Friedhof, den wir passiert hatten, erst in den frühen 1960er angelegt worden ist und bevor er nach den älteren Gräbern fragen konnte, dass diese früher rund um die Kirche angelegt waren und schon lange nicht mehr sichtbar sind. Teilweise lagen diese alten Gräber auch unter dem Anbau der Kirche, der auch in der Zeit als der neue Friedhof angelegt wurde, entstanden ist. Das Gräber oder Friedhöfe wie in den U.S.A. i.d.R. immer existent bleiben, dass gäbe es hier nicht. Als Alternative suchten wir am nächsten Tag das Familiengrab der direkten Nachfahren der zurück gebliebenen Schwester auf. Dort verstreute er die mitgebrachte Erde.

Wir boten beiden noch eine kleinen Wochenendtrip an, entweder nach Berlin oder an Rhein / Mosel. Sie entschieden sich ganz schnell für Rhein und Mosel. Durch freundschaftliche Beziehungen an die Mosel mieteten wir zwei Zimmer in einem kleinen Ort im Landkreis Bernkastel-Wittlich an und machten auf den Weg noch einen Abstecher auf die Marksburg, oberhalb der rheinland-pfälzischen Stadt Braubach am Rhein. Diese aus dem 12. Jhdt. stammende Burganlage bietet heute als Burgmuseum ein geschlossenes Bild einer relativ authentisch erhaltenen spätmittelalterlichen Burganlage - also perfekt für unsere U.S.-Amerikaner und weit weg jeglicher Disney-Fantasien. Und tatsächlich waren unsere Freunde äußerst beeindruckt. Überhaupt betrachteten sie alles sehr ehrfürchtig, was älter war als die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776. Je weiter in Richtung Vergangenheit von diesem Jahr entfernt, desto mystisch besser.

Der Abend lief - sagen wir es positiv - etwas aus dem Ruder. Wie schon beschrieben hatten wir persönliche Kontakte an der Mosel und waren am Abend in einem kleinen, aber alten Gewölbekeller zur Weinprobe eingeladen - kleine Runde: William, sein Sohn und wir zwei und der Winzer. So saßen wir an einer doch großen Tafel, zwischen Weinfässern und ließen uns erklären, wie das so ist mit dem Wein an der Mosel. William erzählte, dass er zur Zeit des Korea-Krieges als Soldat in Paris stationiert war und seit der Zeit und einem heftigen Vollrausch keinen Tropfen Alkohol mehr zu sich genommen hatte. Aber Wein sei ja nicht so schlimm, konstatierte er, ein Satz, an dem ich mich erinnerte, als wir ihn um Mitternacht bis zur Unterkunft hinter uns her schliffen, rechts stützte ich, links sein Sohn, der seinen Vater noch nie in einem solchen Zustand erlebt hatte. Der schlief tief und fest und konnte sich am nächsten Morgen nicht erklären, wie er ins Bett gekommen ist und dass die Welt langsam nachkommt, wenn er den Kopf zu schnell zur Seite dreht. Ich denke im Nachhinein, dass wir am Schluss einfach den Trester hätten weglassen sollen.

Am nächsten Tag fanden wir uns in Trier wieder - die Stadt , die vor mehr als 2000 Jahren als Augusta Treverorum gegründet wurde. Und das war deutlich vor 1776 und damit beinahe „heiliger Boden“. Als wir an der Porta Nigra ankamen - das römische Stadttor und Wahrzeichen der Stadt Trier - berührte William das Tor und blieb leicht vor gebeugt ein paar Minuten stehen. Ich hatte den abendlichen Trester in Verdacht, aber William erklärte mir, dass es für ihn ganz beeindruckend sei, ein Gebäude aus einer Zeit zu berühren, „als Christus noch auf Erden wandelte“. Gerührt ließ ich ihn seinem Glauben, obwohl ich wusste. das das Tor „erst“ ab 170 n.Chr. einstanden ist. Es ist trotzdem schon ziemlich alt.

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[1] In der Stadt Trier führt Gott die Gaben der Weisheit zur Vollendung - Spruch im Siegel der alten Trierer Universität von 1473.
[2] Neil Alden Armstrong, * 5. August 1930, † 25. August 2012, US-amerikanischer Testpilot und Astronaut, Kommandant von Apollo 11.
[3] https://www.marksburg.de/
*********Photo Mann
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The New York minute [1] - Teil 1
„I really believe there are things nobody would see if I didn't photograph them." [2]

Neben den familiären Verbindungen in die U.S.A., die in der Praxis nie oder nur wenig ausgelebt werden konnten, war Amerika in meiner Kindheit ein Sujet, von dem ich wusste, aber es wirklich nie verstand. So viele Informationen prasselten auf mich herein, die mein kleiner Kindesverstand nicht sortieren konnte. Meine Wahrnehmungen begannen 1963 und traten in den ersten 10 Jahren nur langsam aus dem Nebel heraus. Greifbare Erinnerungen nahmen dann Ende der 1960er und Anfang der 1970er zu, das liegt in der Natur der Sache. Ich gehöre also einer Generation an, die Bilder gesehen haben, als sie noch „brandnew“ waren oder bereits die ersten Stufen in die „Hall of Fame der Fotografie“ erklommen hatten und heute zu den Meisterstücken gehören. Dafür kann ich nichts, aber ich bin froh, dass es so ist. Das gehört zu den schönen Dingen, wenn man etwas älter ist. Kein Platz für Überheblichkeit - nachfolgende Generationen werden sicherlich ebenfalls in diesen Zustand kommen, voran gegangene haben bestenfalls einen noch größeren Schatz. Alles hat eben seine Zeit. Ich habe mir übrigens erlaubt mit einem Zitat von Diane Arbus einzuleiten, weil ich ein großer Bewunderer ihrer Arbeiten bin. Sie steht hier allerdings als Vertreterin einer ganz großen Schar von Meisterfotografinnen und -fotografen.

Man sagt, dass man touristische Erstbesucher Manhattans daran erkennt, dass die zunächst über Mülltonnen und Kästen der US Mail stolpern, weil ihre Blicke ständig auf den höchsten sichtbaren Punkt der Skyscraper gerichtet sind. Ergänzend kann man vielleicht anfügen, dass sie auch „angerempelt“ werden, weil sie an roten Fußgängerampeln stehen bleiben. Wenn das Klischee so stimmt, dann werden sie mittlerweile aber von einem ganz anderen Klientel „überholt“, denn immer wieder hört und liest man die Warnung „Keep your eyes on the road, not on the phone!“. Und damit sind nicht nur die Autofahrer gemeint. Die Anwaltskanzlei Sullivan Papain Block McGrath Coffinas & Cannavo P.C. rät sogar auf ihrer Website: „Cell phones are a common distraction, and some pedestrians may read and write text messages or even watch video content while walking. This is more dangerous than it may sound as there have been numerous reports of pedestrians walking into street signs, lampposts, enclosed bus stops, and even down subway stairs and into open manholes because of cell phone distraction. If you are walking in New York City, stop and move to the side of the sidewalk if you need to read or respond to a text message or use your phone in any way that diverts your eyes away from your walking path.“ Ob jetzt Fußgänger auch Videos schauen, weiß ich nicht, aber während ihres „walks“Videos drehen, das ist wahrscheinlich. Dabei wirkt es schon skurril, wenn Leute ihrem Selfistick hinterherlaufen. Fast glaubt man das traditionelle Kinderlied zum Laternelaufen zu hören: „Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir...“. Schlimmstenfalls beim Herunterstürzen der Treppe zur Subway könnte es dann wirklich lauten: „...rabimmel, rabammel, rabum....“.

Kommen wir noch einmal auf das Arbus-Zitat zurück: „Ich glaube wirklich, dass es Dinge gibt, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografieren würde.“ Ich denke, dass viele versuchen ihre ersten Eindrücke auf Biegen und Brechen visuell festzuhalten. Und wenn sie nicht pausenlos fotografieren oder filmen, werden sie sich nie wieder daran erinnern. Vergleichbar geben Konzertveranstalter mittlerweile den Hinweis heraus, dass man das Konzert einfach genießen sollte, anstatt versuchen es lückenlos zu filmen. Denn - bei diesen Eindrücken schwingt sehr viel Emotion mit: das erste Mal in NYC, diese hohen Häuser, dieser Stadtlärm... und was einem sonst noch so durch den Kopf geht. Vielleicht singt der ein oder andere lautlos - etwas abgeändert - den Udo Jürgens Klassiker: „Ich bin jetzt erstmals in New York...“.

Ich war und bin nicht frei davon. Als ich erstmals meine Tochter in New Jersey besuchte, schwang mit der Freude, sie nach Jahren das erste Mal in ihrer neuen Heimat zu treffen auch die Aufregung mit, dass ich bald New York City live erleben werde. So begleitete ich sie schon bald morgens auf dem Weg zur ihrer Arbeitsstelle, die mitten in Midtown Manhattan lag. Workin' 9 to 5 [3] bedeutete für sie, dass sie 1,5 Std vor Arbeitsbeginn den New Jersey Transit (NJ Transit, Raritan-Valley-Linie) - Zug [4] in Dunellen, NJ erreichen musste, um pünktlich über Newark in Midtown anzukommen. Zielbahnhof war dann die Pennsylvania Station, umgangssprachlich kurz Penn Station im Westen von Midtown Manhattan. Danach schloss sich noch ein hektischer Fußmarsch durch die Rush Hour an, je schneller desto besser. Und da zeigt sich schon, warum nichttouristisch motivierte Menschen die einfach nur pünktlich im Büro sein wollen, es überhaupt nicht leiden können, wenn man vor einer roten Fußgängerampel stehenbleibt um auf Grün zu warten. Natürlich wird - ziemlich erfolglos - von offiziellen Stellen davor gewarnt, bei Rot die Straße zu überqueren, da aber in Manhattan fast alles Straßen One-ways sind, genügt ein Blick in eine Richtung um schnell zu realisieren, dass aus dieser keiner kommt. Übrigens beginnt um 5 p.m. der Run auf die Bahnhöfe. Will man ungefähr in dieser Zeit Manhattan verlassen, sollte man versuchen vorher einen Zug zu bekommen, der einen sicher aus der Gefahrenzone bringt.

Die Penn Station befindet sich hauptsächlich unterirdisch, unter dem Madison Square Garden [5] , d.h. ich verließ den Bahnhof über eine Rolltreppe, die mich direkt an der 7th Avenue / Nähe West 33rd Street inmitten einer der vielen Häuserschluchten herausließ. Ich gebe zu, der allererste Eindruck auf der Straße ist überwältigend, besonders wenn man aus dem Untergrund kommt und auch ich richtete reflexartig den Blick nach oben aus. Das unterschied mich jetzt erstmal nicht vom Vulgärtouristen, aber ich trat zur Seite, stellte mich in eine Ecke und genoß den Anblick. Möglicherweise lag es daran, dass ich mich jedesmal aufregen kann, wenn Leute kurz nach betreten eines Kaufhauses schlagartig mitten im Gang stehen bleiben. Auffahrunfälle sind da vorprogrammiert. Nun fehlt dem Homo laborans [6] in seinem gewöhnlichen Lebensraum etwas, von dem ich hier als Homo viator massenhaft hatte: Zeit. Nachdem ich meine „Aufregung“ also etwas gelegt hatte und mir bewusst war „Ja, ich bin hier.“, machte ich mich beobachtend auf den Weg. Ein kurzer Blick auf den Stadtplan von Manhattan, den ich mir im Vorfeld besorgt hatte, zog ich los - Kamerarucksack auf dem Rücken, die Kamera vorne angehängt.

Dieser erste Tag in Manhattan - es folgten in den Jahren danach noch etliche mehr - diente ausschließlich der Orientierung, geografisch gesehen und auch emotional. Zwei Dinge, die mich im Unterbewusstsein bewegten, mussten auf ein kreatives Niveau zurück gestutzt werden: Die touristischen Neugier und der Blick auf Manhattan, der von großen Streetphotographer der 1960er und 1970 Jahre geprägt war. Der eigene Blick musste erst noch entstehen.

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[1] Als New York minute bezeichnet man die Zeitraum zwischen dem Grünwerden der Ampel und dem Hupen des Fahrers hinter dir… also nur ein Augenblick.
[2] „Ich glaube wirklich, dass es Dinge gibt, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografieren würde.“ - Zitat von Diane Arbus, geb. Nemerov (* 14. März 1923 in New York City; † 26. Juli 1971 ebenda), amerikanische Fotografin und Fotojournalistin.
[3] 9 to 5 ist ein Country-Pop-Song von Dolly Parton aus dem Jahr 1980.
[4] New Jersey Transit ist für die Bahnverbindungen in New Jersey zuständig. Mehrere ihrer Linien führen unter dem Hudson hindurch und beginnen bzw. enden an der Pennsylvania Station.
[5] Die Pennsylvania Station wurde 1910 von der Pennsylvania Railroad errichtet, die ihr den Namen gab. Der ursprüngliche Beaux-Arts-Bahnhof wurde 1963 abgerissen, um für den Madison Square Garden und dem Penn Plaza Platz zu schaffen. Dieses ist - durch Bürgerproteste verhindert - der Grand Central Station (ebenfalls ein Beaux-Arts-Bahnhof und 2013 von der American Society of Civil Engineers in die List of Historic Civil Engineering Landmarks aufgenommen.) erspart geblieben, für die es auch schon Abrisspläne gab.
[6] Homo laborans = der arbeitende Mensch; Homo viator = der reisende Mensch. Wobei es auch arbeitende Menschen gibt, die die Ruhe weg haben und reisende Menschen, die sich hektisch fortbewegen.

Text und Foto: Arlequin Photographie
Rush Hour in der Penn Station
© Arlequin Photographie
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The New York minute - Teil 2
“The camera makes you forget you’re there. It’s not like you are hiding but you forget, you are just looking so much.“ [1]

Wenn ich fotografisch eine Stadt erkunde, dann sammeln sich zwangsläufig eine Menge Bilder an. Es ist nicht so, dass ich eine Art fotografische „Schleppnetzfischerei“ betreibe, aber - je nach Stadt - „erschlagen“ mich manchmal die Motive. Dann ist das Gebot der Stunde „Runterkommen!“ New York City oder speziell Manhattan machen die Sache nicht einfach. Nachdem ich also meinen ersten Tag in überwiegend Midtown verbracht hatte und dabei neugierig erstmal die Sachen angelaufen bin, „die man kennt“, ließ ich die Sache erstmal auf sich beruhen. Ich schaute mir am Abend des ersten Tages meinen „Fang“ an, am nächsten Tag traf ich die erste Auswahl. Und ich stellte fest: „Nee, das ist es noch nicht, da musst du nochmal ran!“

Fast eine Woche nach meinem „ersten Mal“, betrat ich wieder New Yorker Terrain. Diesmal mit einer Strategie - einfach aber effektiv. Ich löste mich von allen Highlights, packte meinen Stadtplan ein und nutze ihn nur noch, um ab und zu festzustellen, wo ich gerade bin. Ganz nebenbei bemerkt braucht man für Manhattan nur als Neuling einen Stadtplan. Das System der Straßen ist so simple aufgebaut, dass man sich kaum verlaufen kann [2]. Von links nach rechts (oder umgekehrt) verlaufen die Streets, von oben nach unten (oder umgekehrt) verlaufen die Avenues. Und Streets und Avenues werden praktischerweise einfach durchnummeriert. Die 5th Avenue bildet dabei eine Achse. Links davon - von Süden aus betrachtet - bekommen die Streets ein W oder West voran gestellt, rechts davon dann eben ein E oder East. Fertig ist das Straßenraster Manhattans. Nur eine Straße fällt dabei komplett aus dem System: Der Broadway. Dieser folgt einen alten Indianertrail und fügt sich in seinem mehr als 25 km langen Verlauf kaum in das Schachbrettmuster der Avenues und Streets ein. Wann immer er eine Avenue „überquert“, also kreuzt bilden sich „Dreiecke“, die sogenannten Squares und davon gibt es einige: Verdi Square, Sherman Square, Lincoln Square, Duffy Square, Herald Square, Madison Square, Union Square etc. ... Und selbstverständlich der Time Square, den wohl jeder Tourist anlaufen wird und der den Broadway rund um ihn herum mit dem Theater District international bekannt macht.

Meine Tochter - ich begleitete sie wieder auf dem Weg zur Arbeit - und ich trennten uns in Newark, wo sie mit NJ Transit wieder zur Penn Station fuhr und ich die PATH [3] nahm um den World Trade Center Transportation Hub [4] im Süden Manhattans (Lower Manhattan, Financial District) zu erreichen. Von hier aus schlug ich den Weg nicht gradlinig über Chinatown, East Village, an der UNO, Flatironbuilding und Empire State Building vorbei bis zum Central Park ein und legte so, über den Tag verteilt ca. 8 bis 10 km (5 miles) zurück. Natürlich - darum war ich da - machte ich Bilder aber ich hatte mir bewusst keine fotografischen Ziele gesetzt. Alles was ich fotografisch betrachtete, lief mir entweder über den Weg oder „stand da so rum“.

Es gibt - theoretisch ausgedrückt - zwei Pole in der Streetphotography: Entweder man bewegt sich oder man bewegt sich nicht. D.h. ich laufe eine Strecke und entdecke dabei interessante Dinge oder ich platziere mich irgendwo hin und hoffe dass die interessanten Dinge dort passieren. Beides hat den Nachteil, dass man immer etwas verpasst - damit muss man leben. I.d.R. befinde ich mich irgendwo zwischen den Polen. Ich sitze also nie sehr lange irgendwo wie ein Jäger auf dem Hochsitz, noch pirsche ich ständig durch das Unterholz. Manchmal überwiegt das eine, mal das andere, das liegt daran, wo ich mich gerade befinde. Was selten passiert ist, dass ich bestimmte Ziele einfach ansteuere. Das setzt mich unter Druck und ich arbeite eine Checkliste ab. Das kommt nur in Frage, wenn ich ganz bestimmte Dinge vor die Kamera haben möchte / muss, entweder weil es mir persönlich noch fehlt oder weil es Auftrag ist. Der heutige Tag war also geprägt vom klassischen Mix. Ich ließ mich treiben und hatte Zeit bis zum Treffen mit meiner Tochter in Midtown um 17 Uhr.

Ich verließ den Transportation Hub, ließ Ground Zero für heute links liegen und schlug den Weg Richtung Brooklyn Bridge ein, vorbei an der New York City Hall, dem Amtssitz des Bürgermeisters von NYC und weiter vorbei am David N. Dinkins Municipal Building, in dem sich große Teile der Stadtverwaltung von NYC (dahinter zwischen Park Row und East River gleich das NYPD [5]) befinden. Ein Blick auf die Rampe der Brooklyn Bridge bestätigte schon mal mein Vorhaben, diese Brücke an diesem Tag nicht zu betreten. Es war zwar November, ab und zu gab es Regen, aber in diesem Jahr war es auch so warm, dass ich bald unter meiner „Übergangsjacke“ zu schwitzen begann. Im Übrigen trat dieses Phänomen in dem Jahr auch in Europa auf. Noch eine Woche vor meinem Abflug nach NYC, liefen noch in den Abendstunden im T-shirt bekleidete Menschen in der Fußgängerzone von Luxemburg.

Durch den Two Bridges Historic District, dem Viertel von Manhattan, das zwischen der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge liegt [6] , ging es weiter nach China Town. Und China Town verführte mich dazu in den Modus „ich-bewege-mich-nicht“ zu wechseln. Hier beginnt eine völlig neue Welt. Dabei verändern sich die Gebäude im Gegensatz zum Rest von Manhattan wenig. Sie tragen nur „andere Kleider“ - eben chinesische. In den großen Lichtreklamen dominieren chinesische Schriftzeichen, afro-amerikanische oder europäisch wirkende Menschen sieht man hier weniger, das Straßenbild ist geprägt von Menschen ostasiatischer Herkunft. So muss es in Shanghai aussehen, dachte ich mir, aber da war ich auch noch nie. Ich ließ mich an einer Kreuzung einfach nieder und begann meinen Bilder von dieser so fremd wirkenden Welt zu schießen. Und dann war plötzlich Mittag, wie mir mein Magen signalisierte.

Doch bevor ich mich wieder dem Time Square zuwandte und damit auf die Westseite Manhattans wechselte, verlief mein Weg weiter am East River entlang, bis ich die Headquarters of the United Nations erreichte. Obwohl NYC keine Hauptstadt wie z.B. Washington ist, sieht man hier Botschaften der unterschiedlichsten Staaten - und auch deutlich, wie unterschiedlich diese Welt verteilt und gewichtet ist. Kaum hat man die Deutsche Botschaft bei den UN [7] passiert - ein nicht ganz kleines und praktisch-repräsentatives Gebäude - trifft man um die Ecke ein paar Straßen weiter auf eine Tür im Souterrain, kaum zu entdecken, wenn man eilig seines Weges geht. Und dort steht auf einer etwas heruntergekommenen Tür: Permanent Mission of The Republic of Yemen to the United Nations. Es geht jetzt nicht um den Yemen, aber der Kontrast stimmt schon etwas nachdenklich.

Noch einmal kurz an den East River heran tretend, um eine kleine Pause einzulegen, trällert mir plötzlich innerlich eine Musik im Ohr:

„Spring was never waiting for us, dear
It ran one step ahead
As we followed in the dance“

Wer jetzt die Stimme von Donna Summer aus besten Discozeiten noch ins Ohr bekommt, swingt vielleicht ein wenig mit und bekommt hoffentlich keinen Ohrwurm. Ich stand vor einem kleinen Schild mit der Aufschrift MacArthur Park... Nein, Donna Summer [8] besang in ihrem Release aus dem Jahre 1978 - das Original stammt aus dem Jahre 1968 und wurde von Richard Harris gesungen - nicht diesen MacArtur Park in NYC, sondern den ca. 4000 km weit entfernten berühmten Park in Los Angeles. Und ich stand nun hier in Manhattan - Turtle Bay vor dem kleinen Schild und gemeint war damit der MacArthur Playground, offiziell tatsächlich General Douglas MacArthur Memorial Park genannt. Ich war noch nie auf einem Spielplatz mit so imposanten Namen. Egal - Pause, Parkbank und den Song innerlich bis zum Ende abspielen. Das soll angeblich gegen Ohrwürmern helfen. Da ich ja eine Pause machen wollt, startete ich gleich die Extended Version. Immerhin war Midtown Manhattan Ende der 1970er Jahre Heimat des bekanntesten Nachtclub der Welt, dem Studio 54 [9]. Dieser hatte seinen Namen von der Straße an der er lag, der West 54th Street. Ich hatte das Studio 54 - heute ein Musical-Theater - auch gar nicht auf dem Plan, vielleicht weil ich mir die Illusion nicht rauben wollte, dass ich mich als Teenager durch den regelmäßigen Besuch unserer Dorfdisco selbst der Generation Studio 54 zugehörig fühlte.

Obwohl ich es durchaus hätte machen können, folgte ich somit nicht der 54th Straße, sondern verlegte meinen Weg nach Westen, quer durch Midtown über die East 42nd, wechselte dann kurz vor der 5th Ave. auf die E 43rd St. um in der W 43rd St. meinen zukünftigen Lieblingscoffeeshop zu entdecken. Ich sollte vorausschicken, dass ich morgens erstmal einen Becher Kaffee brauche um meine Betriebstemperatur zu erreichen, ich funktioniere quasi wie ein altes Röhrengerät. Da meine Tochter keinen Kaffee konsumiert, holt sich jedesmal für mich die Kaffeemaschine aus dem Keller und entstaubt sie. Meistens lohnt es sich kaum für mich, sie überhaupt anzustellen und so führt der erste Weg, nachdem wir das Haus verlassen haben zu einem Coffeeshop in der Nähe, so einen mit Donut im Namen - wirklich kein Highlight. In Manhattan gab es dann schon mal einen mit Star und einer Sirene im Logo , der es zumindest schaffte den ersten Kaffee des Morgens wieder zu vergessen. Jetzt am frühen Nachmittag brachte mich ein blaues Label dazu, links von der W 43rd St. auf den Grace Plaza einzuschwenken und einen Coffeeshop zu betreten, den ich bisher noch nicht kannte: Bluestone Lane - an Australian-inspired coffee shop. Und ab da, wann immer ich nach Manhattan kam und komme, dieser Coffeeshop steht ganz oben auf meiner Liste und gehört zu den ersten Zielen die ich anlaufe.

Der Rest des Tages ist schnell erzählt: Über die 7th Ave hoch zum Central Park (dem gebührt noch ein eigener Artikel) und über Columbus Circle und Broadway wieder zurück zum Büro in dem meine Tochter arbeitete. Von da an durch den Wahnsinn der Rush Our über die 7th Ave, an Macy's vorbei zur Penn Station um dann - sofern es geklappt hat - glücklich im Zug zu sitzen. Ab da kommt man runter.


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[1] "Die Kamera lässt dich vergessen, dass du da bist. Es ist nicht so, dass man sich versteckt, aber man vergisst es, weil man so viel schaut." - Zitat von Anna-Lou „Annie“ Leibovitz (* 2. Oktober 1949 in Waterbury, Connecticut) ist eine US-amerikanische Fotografin. Sie zählt zu den bekanntesten und bestbezahlten Fotografen der Welt.
[2] Das Schachbrettmuster Manhattans beruht auf den sog. Randel-Plan, einem Bebauungsplan des Geodäten John Randel jr. Dieser folgt absolut keiner Ästhetik, im Straßensystem ist alles rechtwinkelig, streng mathematisch und funktional.
[3] PATH (Port Authority Trans-Hudson) ist ein Schnellbahn-System in der Metropolregion New York. Es nutzt zwei Eisenbahntunnel unter dem Hudson River, um die Stadt Newark und die Städte Jersey City, Hoboken und Harrison im dicht besiedelten Hudson County des Bundesstaats New Jersey mit den Geschäftszentren Lower Manhattan und Midtown Manhattan zu verbinden. Die PATH ist das zweite U-Bahn-Netz in New York City und unabhängig von der New York City Subway.
[4] Der World Trade Center Transportation Hub (2016 eröffnet) ist ein Umsteigebahnhof, der ein Umsteigen von der PATH in die New York City Subway erlaubt. Vom Transportation Hub ist auch der World Trade Center Komplex (WTC 1 - 4) direkt zugänglich. Die Transit Hall „Oculus“ ist das Herzstück des neuen Umsteigebahnhofs. Sie wurde vom spanischen Architekten Santiago Calatrava gestaltetet. Falls mal jemand ein Ausblick in die Architektur des „Oculus“ haben möchte, dem kann ein Besuch des Bahnhofs Liège-Guillemins der belgischen Stadt Lüttich empfohlen werden.
[5] NYPD = New York City Police Department, eine Behörde mit rund 36.000 Beamte und 19.000 zivile Mitarbeiter, 9.624 Polizeiautos, 29 Polizeiboote, 8 Hubschrauber, 45 Pferde und 34 Hundestaffeln (Zahlen von 2018 - 2022). Allein diese Zahlen zeigen schon mal deutlich, wie groß diese Stadt ist.
[6] Der „Two Bridges Historic District“ zwischen der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge in Manhattan ist im Gegensatz zu seinem Gegenüber auf der anderen Seite des East Rivers in Brooklyn (D.U.M.B.O. = Down Under the Manhattan Bridge Overpass) wesentlich größer, da die Brücken Richtung Brooklyn konisch zueinander laufen. D.h. die Entfernung zwischen den Rampen auf der Manhattan-Seite des East River liegen fast doppelt soweit auseinander, wie in Brooklyn.
[7] Amtlich „Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen“ den die eigentliche Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in den U.S.A. befindet sich natürlich in Washington. Trotzdem kann man hier konsularische Dinge erledigen, denn hier befindet sich auch das Deutsches Generalkonsulat New York dessen Amtsbezirk die Staaten New York, New Jersey und Pennsylvania umfasst.
[8] Donner Summer - Mac Arthur Park, Semtember 1978, Writer: Jimmy Webb, Producers: Giorgio Moroder, Pete Bellotte.
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Studio_54

Text und Foto: Arlequin Photographie
WTC Transportation Hub
The Oculus
In China Town
Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen
© Arlequin Photographie
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The New York minute - Teil 3 - Over the tops
“Something's always happening here. If you're bored in New York. it's yout own fault.“ [1]

Vor ein paar Wochen las ich in einer Kolumne, dass man Bolognese auf gar keinen Fall mit Spaghetti essen sollte und der Verfasser „begründete“ seine These ellenlang. Je länger ich las, desto suspekter kam mir das Ganze vor, denn... Ich habe mein lebenslang gerne Spaghetti Bolognese gegessen und werde es weiter machen. Ansammlungen „guter“ Ratschläge haben häufig die Überschrift „Dos and Don'ts“. Und was NYC angeht, so sind diese Ansammlungen von „Dos and Don'ts“ erstrecht suspekt. Das ist so mit den Regeln in der Fotografie. Und so wie ich Freeman Patterson [2] zustimme, der sagt, dass es nur eine Regel in der Fotografie gibt: Entwickle niemals einen Film in Hühnersuppe, kann man sicher sagen: „Erschieße niemals den Naked Cowboy am Times Square!“. Alles andere sind vielleicht gute Ideen, ob man sie befolgt ist Geschmacksache.

Ich hatte an anderer Stelle schon behauptet, dass man Ersttäter unter den Manhattan-Touristen daran erkennt, da sie zunächst über Mülltonnen und Kästen der US Mail stolpern, weil ihre Blicke ständig auf den höchsten sichtbaren Punkt der Skyscraper gerichtet sind. Aber da oben ist auch etwas, das man beachten und fotografieren kann: Die New Yorker Wassertanks - riesige antik aussehende Holzfässer. Und die haben einen Deckel - also sammeln sie kein Regenwasser. Wozu sind sie also da? Nun, sie dienen der Trinkwasserversorgung und dem Brandschutz und betten sich in ein System ein, dass schon im 19. Jhd. erdacht wurde, um den Bedarf an Trinkwasser zu decken. Obwohl es mittlerweile Neuerungen gab und auch zwangsläufig geben wird, funktioniert es immer noch nach dem gleichen Prinzip. Da das Wasser im Hudson River und East River [3] zu salzig ist, musste eine andere Lösung her. Man entnahm Wasser an einem Stausee (Croton Lake) am Croton River und leitete es durch einen 66 km langen Kanal nach Manhattan (Croton Aqueduct). Diese Art der Wasserversorgung reichte aber bereits Ende des 19. Jhdt. nicht mehr aus und es kam die New-Croton-Talsperre hinzu, die dreimal soviel Wasser lieferte als das alte Aquädukt und stellt noch heute 10 % der New Yorker Wasserversorgung. Der sich auf dem Weg nach New York natürlich aufbauende Wasserdruck reicht aber nur bis zum 6. Stock der Gebäude. Also pumpt man das Wasser in die oben liegenden Wassertanks, die das Wasser dann gleichmäßig in den Häusern verteilen. Und man verwendet bei Neubau und Reparatur i.d.R. immer noch Holztanks, die nach Erfahrungen besser geeignet und wartungsfreundlicher sind als Edelstahltanks.

Wenn man den Blick nach oben richtet, kommt einem vielleicht auch der Gedanke: Da möchte ich 'rauf. Tatsächlich bieten mehre Unternehmen Rundflüge im Helikopter an. Muss man das haben? Hier sind wir bei meinem ersten persönlichen Don't. Ich persönlich fliege gerne mit Helikoptern, habe mich mehr als einmal winschen lassen und bin mit den Füßen auf den Kufen geflogen. All das ist absolut empfehlenswert. Besonders die offene Seitentür, sitzend auf dem Boden des Helis und die Füße auf den Kufen ist für Fotografen absolute Spitze. Aber keiner der Unternehmen in Manhattan bietet mir das. Und wenn der 15-minütige Flug 200 - 250 $ kostet und ich ggf. auch noch in der Mitte der Bank sitze - dann winke ich dankend ab. Aber es gibt ja hohe Häuser mit Aussichtsplattformen und auch auf der Statue of Liberty - offiziell Liberty Enlightening the World - kann man die Aussicht genießen. Aber auch das ist nicht kostenlos. Das ONE WORLD OBSERVATORY bietet vier Eintrittsklassen zwischen 39 und 69 $ an, das Empire State Building 44 (Main Deck) bis 79 $ (Top Deck) und das Rockefeller Center (Top of the Rock) 40 $ etc . Möchte man nun alles machen, schlägt das ganz gut zu Buche. Also ist vielleicht im Vorfeld eine Auswahl nötig. [4]

Drehen wir das Ganze doch mal um. Was habe ich davon, wenn ich z.B. auf der Freiheitsstatue bin? Zunächst einmal kann ich Zuhause erzählen, dass ich auf der Freiheitsstatue war. Und das ich eine guten Ausblicke hatte... Aber auf was? Ich war oben, habe mich überreden und einladen lassen. Und habe geschaut... auf die Upper Bay und die Skyline von Manhattan... und auf Ellis Island... Ich habe vieles gesehen, aber eigentlich nichts Spektakuläres. Ich hätte es von vielen Punkten aus sehen können - kostenlos. Und, was sehe ich vom Empire State Building? Vieles, aber nicht das Empire State Building. Eine gute Investition - finde ich - war der Besuch des Rockefeller Center. Das Gebäude ist - nach meinem Geschmack - nicht das Schönste. Und berühmt ist es wohl eher dadurch, dass an Weihnachten dort ein riesiger Weihnachtsbaum steht. Aber... das Observation Deck des Rockefeller Center, das Top of the Rock ist der Wahnsinn. Das es 60 bzw. 113 Meter niedriger ist, als das Empire State Building, spielt bei diesen Höhen auch keine große Rolle mehr. Man hat jedenfalls vom Rockefeller Center einen fantastischen Ausblick über Midtown (inkl. Empire State Building) bis Lowtown (inkl. WTC) und bei guter Sicht sogar bis zur Brooklyn Bridge und die Statue of Liberty. Und in die entgegengesetzten Richtung breitet sich der komplette Central Park vor einem aus.

Im Gegensatz zu Top of the Rock ist man beim ONE WORLD OBSERVATORY hinter Glas. Auf der höchsten Ebene der Aussichtsplattform ist man dort aber auch auf über 400 Meter, also ca. 140 Meter höher. Ich war skeptisch, aufgrund der Lage des 1 WTC - des Freedom Towers - aber doch neugierig. Hinter Glas zu fotografieren kann natürlich gründlich daneben gehen, aber auch das Wetter kann einem einen Strich durch die Rechnung machen. Da können dann ca. 40 $ schnell in den Sand gesetzt sein. Ok, von der Lage her konnte ich ungefähr abschätzen, in welche Richtung die Blicke gehen werden: Die komplette Upper Bay müsste zu sehen sein und das aus ca. 300 Meter höher als die Freiheitsstatue und höher als die Hubschrauber um Manhattan fliegen. Am Horizont müsste der komplette Hafenraum der Port Authority of New York and New Jersey (PANYNJ) einsehbar sein. Und wer weiß, Richtung Süden könnte man vielleicht bei guter Fernsicht, die hinter The Narrows mit der Verrazzano-Narrows Bridge liegende Lower Bay sehen. Also wagte ich es, auch wenn möglicherweise keine guten Bild entstehen würden. Übrigens lohnt sich bei allen Observatory Decks eine Buchung im Voraus, dass erspart lange Wartezeiten und die können, je nach Auslastung heftig sein. Es kann sogar passieren, das man ohne Buchung an bestimmten Tagen oder Zeiten gar nicht schafft, auf die Gebäude zu kommen. Ein spontaner Besuch ist so gut wie gar nicht möglich. Der Nachteil ist natürlich, dass man zu einem festen Zeitpunkt an der Einlasskontrolle da zu sein hat. Und diese Kontrollen sind gefühlt strenger als der Security Check an den Flughäfen. Auch das Wetter kann zum gebuchten Zeitraum gerade anders sein, als man es gebrauchen kann. Es macht sicherlich keinen Sinn, auf ein Observatory Deck zu gehen, wenn man sich da oben im Nebel befindet.

Der Fahrstuhl, der einem in 47 Sekunden in den 102. Stock katapultiert, ist schon eine gelungene Sache und dass nicht nur deshalb, weil man es über die Treppe gar nicht schaffen würde. Es ist ein sogenannter time-lapse elevator. Man fährt physikalisch von Unten nach Oben, virtuell aber durch die Zeit. Die Fahrstuhlkabine besteht nämlich aus riesigen Monitoren, d.h. bei der Fahrt nach oben sieht man in einer Animation die Veränderung Manhattans im Laufe der Geschichte, von grünen Wäldern und Wiesen im untersten Einstiegsbereich bis zu Gegenwart ganz oben - eine geniale Idee, denn 47 Sekunden Auszugsfahrt können schon lang werden und möglicherweise bei Menschen mit klaustrophobischen Neigungen zur Tortur werden. Die „Rückfahrt“ bietet dann einen „Rundflug“ um die Fassade des 1 WTC. [5] Im Nachhinein hat sich das für mich das ONE WORLD OBSERVATORY gelohnt. Ich hatte Glück mit dem Wetter, die Glasfassade ermöglichte tatsächlich Fotografien ohne Pol-Filter. Die Ausblicke waren fantastisch, auch bei nicht ganz so guter Fernsicht.

Es lohnt sich also immer, nicht jedem Hype hinterher zu laufen - nicht nur in NYC. Je mehr etwas beworben wird, desto kritischer bin ich. Aber ich denke ich werde mir bei meinem nächsten Aufenthalt in Manhattan das Edge Observation Deck vornehmen.


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[1] "Hier passiert immer etwas. Wenn du dich in New York langweilst, ist deine eigene Schuld." - Zitat von Myrna Loy (* 2. August 1905 in Helena, Montana, † 14. Dezember 1993 in New York City) war eine US-amerikanische Schauspielerin. Mit William Powell bildete sie in 14 Filmen ein populäres Leinwandpaar, unter anderem in der Filmreihe Der dünne Mann (Originaltitel: The Thin Man).
[2] Freeman Wilford Patterson (* 25. September 1937), kanadischer Naturfotograf und Schriftsteller.
[3] Der Hudson River befindet sich in Höhe Manhattans schon in seinem Mündungstrichter und das Flusswasser vermischt sich mit dem Salzwasser aus der Upper Bay. Der East River ist - obwohl der Name es aussagt - gar kein Fluss, sondern eine Meerenge die den Long Island Sound mit der Mündung des Hudson River bzw. der Upper Bay verbindet. Mit der dadurch bestehenden Verbindung zum Atlantik (Upper Bay und Lond Island Sound) hat das Wasser des East River einen deutlichen Salzgehalt.
[4] Preise abgerufen 2023.
[5]


Text und Foto: Arlequin Photographie
Unscheinbar, aber allgegenwärtig: Die New Yorker Wassertanks.
Top of the Rock: Blick Richtung Süden mit dem Empire State Building
ONE WORLD OBSERVATORY: Blick über die Upper Bay mit Liberty Enlightening the World
ONE WORLD OBSERVATORY: Als ob man darüber hinweg fliegen würde - East River mit Brooklyn Bridge und Manhattan Bridge.
ONE WORLD OBSERVATORY: Hinter Glas - aber wie würde es sich in dieser Höhe ohne anfühlen...?
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The New York minute - Teil 4 - New York City by night
“Back and forth from Brooklyn to Manhattan. New York at night, from its bridges, is a miracle. When I first came to the city, it took all my fantasies and set them on fire, turned them into flickering constellations of light." [1]

Wann und wie und ob und woher - wie kommt man am Besten in die Stadt? Was für manche Metropolen auf dieser Welt zu empfehlen ist, kann in der nächsten Stadt schon wieder völlig obsolet sein, z.B. der ÖPNV. Was in Paris nützlich ist, kann in Wien schon wieder kontraproduktiv sein und in Berlin zwingend erforderlich. Manche bemerken, dass es in NYC sehr unübersichtlich ist, wenn man die U-Bahn - hier MTA - innerhalb Manhattans nutzen will. Meine Erfahrung sind da ganz anders. Gerade in Bezug auf Deutschland mit seinen diversen Verkehrsverbünden, die teilweise für Ausstehende kaum durchschaubar sind , finde ich mich in Manhattan ziemlich gut zu recht. Die Linien sind eindeutig markiert und bei dem Zusatz Express service muss man nur wissen, dass diese Züge auf der Überholspurfahren und an manchen Haltestellen nicht halten. Das ist in der Rush Our von Vorteil. Sie werden auch überwiegend in dieser Zeit eingesetzt, d.h. sie fahren zu anderen Zeiten möglicherweise gar nicht.

Je nachdem, aus welcher Richtung man nach Manhattan hereinkommen will, gibt es verschiedene Möglichkeiten. „The Best“ ist wahrscheinlich der Weg von New Jersey über Staten Island. Staten Island nimmt im Gefüge New York City's eine Sonderstellung ein. Eingerahmt von (im Uhrzeigersinn) Upper Bay, The Narrows, Lower Bay, der Raritan Mündung (Raritan Bay), Arthur Kill, Newark Bay und Kill Van Kull (Verbindung zwischen Newark Bay und Upper Bay) ist Staten Island tatsächlich eine Insel. Aber das gilt für vier von fünf Boroughs von New York City. Die Besonderheit besteht darin, dass Staten Island von New York City, der Stadt zu der sie gehört, nur über New Jersey oder über das Wasser erreichbar ist - abgesehen von der Verrazzano-Narrows Bridge, die es seit Mitte der 1960er Jahre gibt und Staten Island mit Brooklyn verbindet. Alle anderen Wege führen also nicht nur aus NYC heraus und wieder herein, sie verlassen damit auch den Bundesstaat New York. Staten Island - somit eine New Yorker Exklave - hat ihren Namen übrigens aus der Zeit, als das Gebiet noch niederländische Kolonie war und hat nichts mit United States zu tun. Aus dieser Zeit stammt der Name Staten Eyland, von Staten-Generaal, dem Parlament des Königreichs der Niederlande und bedeutet auf deutsch Ständeinsel [2].

Ausgenommen von der mautpflichtigen Verrazzano-Narrows Bridge über die man von Staten Island direkt nach Brooklyn gelangt, führt der direkte Weg nach Manhattan über die Upper Bay - mit der Staten Island Ferry. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 gilt diese Fährverbindung nicht mehr für Fahrzeuge sondern ausschließlich für Fußgänger und Radfahrer für die die Nutzung kostenlos ist. Aber, was will man auch mit dem eigenen Fahrzeug in Manhattan?

Für die Nachtfotografie in NYC entschieden meine Frau und ich uns für den Weg über die Upper Bay mit der Fähre. Für die Abendstunden war das Parken direkt am St. George Ferry Terminal in Staten Island auch kein Problem. Für eine Std. ist eine Parkgebühr von 1,50 $ fällig, für den ganzen Tag 12 $. Sonntags werden keine Gebühren verlangt. Alle 30 min legt eine Fähre Richtung Manhattan ab, ab 6 Uhr morgens alle 20 min, von 7 bis 9 Uhr alle 15 min. Um 15:30 Uhr verändet sich ebenfalls der Takt, zunächst wieder alle 20 min. (bis 17:30), dann wieder 15 min. (bis 19 Uhr) [3]. Die Überfahrt dauert ca. 25 Minuten und führt quer über die Upper Bay. Dabei gibt es immer wieder tolle Ausblicke auf die Statue of Liberty, Ellis Island und Governors Island und natürlich auf die Skyline der Südspitze Manhattans, der man nähert, bis die Ferry am Whitehall Terminal anlegt.

Zu Fuß ging es zunächst nach China Town, von dort aus über die Manhattan Bridge nach Brooklyn, wo wir bei Einbruch der Dunkelheit im Brooklyner Stadtteil DUMBO ankamen. DUMBO steht für Down Under the Manhattan Bridge Overpass und ist ein gehobenes Wohn- und Gewerbeviertel, ein Touristenzentrum und ein Zentrum für Technologie-Start-up-Unternehmen. DUMBO ist im Umbruch und jedesmal, wenn wir in NYC sind und dort hin kommen, ist es wieder ein Stück schöner geworden. Aber das Schönste hier ist der Weg am East River entlang bis zur Brooklyn Bridge und darüber hinaus, besonders in der Nacht, in der sich die komplette Skyline Manhattans vor einem aufbaut. Und hier lohnen sich Nachtaufnahmen ganz besonders.

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[1] ""Hin und her von Brooklyn nach Manhattan. New York bei Nacht, von seinen Brücken aus, ist ein Wunder. Als ich das erste Mal in die Stadt kam, hat sie alle meine Fantasien in Brand gesetzt und in flackernde Lichtkonstellationen verwandelt."" - Melissa Febos, Aus: Whip Smart - A Memoir.
[2] In der Flagge von New York City ist u.a. heute noch die Farbe Orange abgebildet. Zusammen mit Weiß und Blau erinnert sie - allerdings gekippt - an die niederländische Prinsenvlag der Oranier aus dem Achzigjährigen Krieg (1568-1648).
[3] Preise und Zeiten abgerufen November 2023

Text und Foto: Arlequin Photographie
Mit der Staten Island Ferry über die Upper Bay nach Manhattan.
In Brooklyn unter der Manhattan Bridge am East River
Manhattan Bridge by night. In der Mitte das Empire State Building, das zu bestimmten Zeiten in bestimmten Farben beleuchtet wird. Hier Red, White, Blue - In celebration of Fourth of July.
Eines der beliebtesten Nachtmotive ist die Skyline von Manhattan vom Old Pier 1 im Brooklyn Park. Mittlerweile ist dieser Punkt im Netz so beworben, dass sich an manchen Nächten die Fotografen sich gegenseitig im Weg stehen.
Auf dem Rückweg zur Fähre. Man fragt sich wirklich, ob diese Stadt jemals zur Ruhe kommt.
Zurück nach Staten Island
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The New York minute - Teil 5 - Humans
“It's important to always have people who remember you at various stages of your life. It's especially important as you get older, because there are less of those people around. And they remind you of who you are.” [1]

Natürlich ist es eine Binsenweisheit, dass viele Menschen auf einem Haufen auch viele unterschiedliche Charaktere zeigen. New York City ist mit immerhin ca. 8,5 Millionen Menschen die größte Stadt der U.S.A. und die zweitgrößte Stadt Nordamerikas. [2] Bedenkt man die Millionen, die entweder zum Arbeiten in die Stadt kommen oder als Touristen zu Besuch sind, ist man schnell in Sphären, die jenseits jeglicher Vorstellungen sind. Das alles jedoch statistisch Aufzuarbeiten ist hier uninteressant - es sei denn, man hat einen Fetisch dafür entwickelt. Einigen wir uns also darauf: In New York City sind eine ganze Menge Menschen unterwegs... und Hunde. Und das ist schon mal eine ziemlich interessante Sache.

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[1] "Es ist wichtig, dass es immer Menschen gibt, die sich in den verschiedenen Phasen des Lebens an einen erinnern. Das ist besonders wichtig, wenn man älter wird, denn dann gibt es weniger von diesen Menschen. Und sie erinnern dich daran, wer du bist." - Brandon Stanton, Humans of New York: Stories
[2] Mit 8,9 Millionen Menschen (Stand 2015) ist Ciudad de México (Mexico City) die größte Stadt Nordamerikas.

Text und Fotos: Arlequin Photographie
Do something every day to remind this city why the hell you're here.
Tun Sie jeden Tag etwas, um diese Stadt daran zu erinnern, warum Sie zur Hölle hier sind.

WRDSMTH, an LA-based street artist.
New York's finest: Polizeischutz?
Meyer, Möller und Pöhlmann.
Pantomíme auf der Highline
Rush Hour in der U-Bahn.
New York's finest: NYPD Highway Patrol in Manhattan
Jazz-Session im Central Park
Was den Style angeht, darf es auch ruhig etwas individueller sein.
So manche U-Bahn Künstler sind richtige High Lights - wie dieser hier. Manchmal verpasst man die Station, an der man eigentlich austeigen möchte.
Für 5 $ ein Erinnerungsfoto am Time Square. Aber vielleicht möchte man sich später daran gar nicht erinnern.
Der Nächste bitte ;-)
Während irgendwo jemand Musik macht ...
... erklärt jemand anderes wie die Welt funktioniert.
New York's finest: Weniger Polizistin, mehr Dirigentin.
Die Schärfe liegt eindeutig auf der linken Bildhälfte.
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The New York minute - Teil 6 - Central Park
“I tried to do a puppet show on the streets, and I wasn't a very good street performer. But I found that I could stand in one place in Central Park and bounce a soap bubble on my arm, and I didn't have to gather a crowd for the puppet show. I had a crowd.” [1]

Das Zentrum der US-amerikanischen Filmindustrie liegt ganz offensichtlich nicht mehr in New York City sondern in Hollywood, das seit den 1910er Jahren New York den Rang abgelaufen hatten und zur Welthauptstadt der Filmindustrie avancierte. Ab 1915 war Hollywood Sitz aller großen US - Filmproduzenten. Aber... eines der beliebtesten Drehorte der Welt liegt wiederum in NYC: der Central Park. Gedreht wurden hier u.a. Szenen aus Harry und Sally (When Harry Met Sally...), Sex and the City (Sex and the City), Frühstück bei Tiffany (Breakfast at Tiffany's), Manhattan Love Story (Maid in Manhattan) und, und, und... Die Liste lässt sich weit, weit fortsetzen. Und der wohl beliebteste Central Park Drehort für Winterszenen ist dann der Wollman (Skating) Rink. Hier war Ryan O'Neal als Oliver Barrett IV. in Love Story auf Schlittschuhen unterwegs, während ihm Ali MacGraw als Jennifer Cavilleri von der Tribüne aus zuschaute. 22 Jahre später zog dann anstelle von Ryan O'Neal Daniel Stern als Marvin „Marv“ Murchins in Kevin – Allein in New York ( Home Alone 2: Lost in New York) weniger romantisch, mehr tollpatschig seine Bahnen und Joe Pesci als Harry Lyme schmiedete unterdessen finstere Pläne. Wenige Beispiele für unzählige Filmszenen und wenn in der Filmgeschichte nicht alle Schlittschuhszenen am Wollman Rink gedreht wurden, so diente diese Location oft als Vorlage.

Ich kritzelte mir einige Dinge zum Thema NYC und Manhattan im Vorfeld meiner ersten Reise dorthin auf einen Zettel und unter dem Orten im Central Park befand sich auch der Wollman Rink. Es sind manchmal kleine Dinge, die sich im Netz der Erinnerungen und Gedanken verfangen und damals war bei mir eine dieser Assoziationen mit dem Central Park eben der Wollman Rink und das Backcover von Simon and Garfunkels Greatest Hits, auf den beide am Zaum beim „Reservoir“ sitzen, fotografiert von William „Bill“ Silano. Nun, neben vielen filmischen Szenen „musste“ und „muss“ der Central Park für viele Plattencover Motive bieten. Und das schaffte er auch locker, immer und zu jeder Jahreszeit - obwohl... Wie viele New Yorker Parks gilt hier eine „Ruhezeit“ - zwischen 1 Uhr in der Nacht und 6 Uhr am Morgen gilt der Park als geschlossen.

Eine Frage, die immer wieder auftaucht, ist die nach der besten Zeit für den Central Park. Meiner Meinung nach gibt es die so pauschal nicht. Es kommt immer darauf an, was man erwartet. Ein Besuch im schneelosen Winter kann ebenso interessant sein, wie die gleiche Zeit mit Schnee und Frost. In den wärmeren Jahreszeiten zieht es zwangsläufig mehr Menschen in den Park, infolge dessen verändern sich auch die Öffnungszeiten vieler Attraktionen oder Cafés. Das ist wohl überall so. Aber, der Park ist so groß, dass es kaum zu voll wird. Sicher ist, dass es im Frühling und Sommer mehr zu sehen gibt. Dann tummeln sich hier Straßenkünstler - und da gibt es richtig gute Performance zu sehen, die Spielplätze sind voll von lebhaften Kindern und auf den verschiedene Gewässern sind Tret- oder Ruderboot-Verleih im Angebot. Langweilig wird es nie - im Central Park.

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[1] "Ich habe versucht, ein Puppentheater auf der Straße zu machen, aber ich war kein sehr guter Straßenkünstler. Aber ich fand heraus, dass ich an einem Ort im Central Park stehen und eine Seifenblase auf meinem Arm hüpfen lassen konnte, und ich musste keine Zuschauer für das Puppentheater versammeln. Ich hatte ein Publikum. " - Tom Noddy (Tom McAllister), amerikanischen Entertainer und Erfinder einer großen Anzahl von Seifenblasenzaubertricks, die heute von Entertainern in der ganzen Welt aufgeführt werden.

Text und Foto: Arlequin Photographie
Gapstow Bridge und Wollman Rink im November
Masken schminken für Kinder
Funny bubbles
Jazzig ;-)
Wir sitzen alle im gleichen Boot - und während die einen rudern, "daddeln" andere auf ihrem Phone 'rum.
Äußerst beliebt im Central Park: Wedding Photography
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David Mancuso's Loft
Oh, you make me feel mighty real
You make me feel mighty real
Make me feel mighty real
Make me feel mighty real
Make me feel mighty real
Make me feel mighty real
[1]

Ein Blick in die Vergangenheit birgt in sich die Gefahr, alles durch eine rosa Brille zu sehen. Man darf dabei einfach nicht vergessen, dass sich die Vergangenheit von der Gegenwart und der Zukunft nur dadurch unterscheidet, dass man bei ihr weiß, wie die Geschichte ausgegangen ist. Und bei jeder (guten) Geschichte kann man sich im Nachhinein auch nicht an jedes Detail erinnern. Das Gesamtpaket ist es, dass uns auf eine glückliche oder unglückliche Vergangenheit blicken lässt.

New York City, Greenwich Village, 28. Juni 1969 - In den frühen Morgenstunden dringt die Polizei im Zuge einer der vielen Razzien ins Stonewall Inn ein. Obwohl Razzien in Schwulenbars in den 1960er Jahren Routine waren, verliert die Polizei schnell die Kontrolle und die Besucher des Stonewall Inn und anderer Schwulen- und Lesbenbars in Greenwich Village - Trans-Aktivisten und LGBT-Personen wehren sich, als die Polizei gewalttätig wird. Es entstehen weitere Proteste und Unruhen und ein Jahr nach dem Aufstand finden anlässlich des Jahrestages am 28. Juni 1970 in Chicago, Los Angeles, New York City und San Francisco die ersten Gay-Pride-Märsche statt. Innerhalb weniger Jahre werden überall in den USA und auf der ganzen Welt Organisationen für die Rechte von Schwulen und Lesben gegründet. Heute finden jährlich im Juni weltweit LGBT-Pride-Veranstaltungen zu Ehren der Stonewall-Unruhen statt. In diesem Jahr ist geplant im ehemaligen Stonewall Inn zum 55. Jahrestag der Stonewall-Rebellion am 28. Juni 2024 das Stonewall National Monument Visitor Center zu eröffnen. [2]

Aber zeitgleich und miteinander verwoben entstand noch etwas anderes. Dadurch gezwungen, dass sich damals Schwule und Lesben im öffentlichen Leben verbergen mussten, entstand in New York City eine Clubkultur in der gefeiert und getanzt wurde und DJs Platten auflegten, immer mit der Angst, dass die Polizei diese in Großaktionen auflöste. Um dieses zu umgehen und auch um die Kosten für das Loft, dass er illegal bewohnte, zu bestreiten, organisierte David Mancuso [3] sogenannte House-Rent-Partys, eine Veranstaltungsform, die ursprünglich in der Jazzszene der 1920 und 1930 Jahre entstand. Besucher dieser House Parties - überwiegend aus der LGBT-Szene - bezahlten einen kleinen Obolus und konnten damit an den halböffentlichen Partys mit Musik, Tanz und Getränken teilnehmen. Dieses galt nur auf Einladung. Die Polizei hatte keine rechtliche Handhabe, diese „privaten“ Feiern zu unterbinden. Weitere Partys folgten und wurden nach ihren Veranstaltungsorten Loft-Partys genannt. Mit der privaten Wohlfühlatmosphäre und dem buntgemischten Publikum - schwul, lesbisch, schwarz, asiatisch, Latino etc. - waren diese Loftpartys stilprägend für die New Yorker Clubkultur und die aufkommende Disco-Bewegung.

Hiervon berichtet die dreiteilige BBC Dokumentation Disco: Soundtrack of a revolution, mit den Folgen 1 - Rock the Boat (Soundtrack eines Aufbruchs), 2 - Ain't No Stoppin' Us Now (Keiner kann uns aufhalten) und 3 - Stayin' Alive (Am Leben bleiben) [4], ausgestrahlt in einer deutschen Synchronisation auf arte am 2.2.2024 und noch in der ARTE Mediathek zu sehen [5]. Diese Dokumentation ist absolut sehenswert und bringt viele „Helden“ der Bewegung aus den 1970er Jahren als Interviewpartner auf dem Schirm (sofern sie noch leben) und lässt sie von ihren Geschichten und Erfahrungen aus dieser Zeit berichten. Sie erzählt die Geschichte der New Yorker Clubs (u.a. Paradise Garage, Studio 54), der Musik (u.a. Soul Makosa, The Love I Lost, Love's Theme, You Make Me Feel) , der DISCO Queens (Gloria Gaynor, Donna Summer), der DJs, die es immer wieder schafften aus den Hits noch mehr herauszuholen und die Dancefloors zu füllen, wie z.B. Nicky Siano.

Übrigens, Nicky Siano legt immer noch auf und ich habe mir vorgenommen, bei meinem nächsten Besuch in NYC eine seiner „Reunions“ zu besuchen.

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[1] https://en.wikipedia.org/wiki/You_Make_Me_Feel_(Mighty_Real)

[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Stonewall_riots#CITEREFCarter2004
[3] David Paul Mancuso (October 20, 1944 – November 14, 2016) American disc jockey
[4] https://www.bbc.co.uk/iplayer/episodes/m001tkyk/disco-soundtrack-of-a-revolution
[5] https://www.arte.tv/de/videos/RC-024756/disco-soundtrack-eines-aufbruchs/

https://billbernstein.com/PROJECTS/LAST-DANCE-(70s-NYC-DISCO)-/thumbs

Text: Arlequin Photographie
Danke *herz* , ich liebe ARTE Dokus!
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