Welche Art von Tantra? Leitfaden zur Orientierung
Angeregt durch eine Frage via PN möchte ich hier eine Art Leitfaden zur Verfügung stellen, damit sich Neulinge auf dem Gebiet des Tantra einigermassen orientieren können. Nach meiner Auffassung gibt es heute mindestens drei verschiedene Arten von Tantra. Selbstverständlich ist die Trennlinie nie ganz scharf, und diverse Mischformen sind denkbar.Welche Art von Tantra ist die richtige für mich?
1. Tantramassage
Was
Tantramassage ist eine Ganzkörpermassage die...
1. im Gegensatz zu herkömmlichen Massagetechniken (wie z.B. Sportmassage) explizit auch die erogenen Zonen des Körpers mit einschliesst, und
2. in einem ritualisierten Kontext stattfindet.
Normalerweise findet Tantramassage in einem 1:1 Setting statt, wo es einen passiven Part und einen aktiven Part gibt. Der Passive lässt sich massieren, greift aber in die Massage nicht aktiv ein, sondern fokussiert sich auf das eigene Empfinden von Körper, Geist und Seele. Der Aktive massiert.
Oft sind sowohl der aktive wie auch der passive Part nackt oder mindestens teilweise nackt.
In einem Gespräch wird vor der Massage abgemacht, was der Massierte möchte und was nicht. Beispielsweise, ob die Genitalien ebenfalls massiert werden sollen oder nicht, oder ob ein Orgasmus grundsätzlich erwünscht ist oder gerade nicht. (Das Weglassen der Erwartung, einen Orgasmus zu haben, stellt für viele Menschen eine Entlastung dar, wodurch sie sich mehr auf das körperliche Empfinden einlassen können.)
Ein Geschlechtsakt mit Penetration findet üblicherweise nicht statt (ausser vorher explizit abgemacht), und viele Praktizierende stehen der Vermischung von Sex und Tantramassage eher skeptisch gegenüber, da dadurch erneut gewisse Konditionierungen hervorgerufen werden können, die üblicherweise mit Sex in Verbindung stehen.
Ziel ist Kultivierung einer eher langsamen und achtsamen Sexualität, die weniger auf Leistungsdruck und Konditionierungen abzielt, als auf die Schulung von tatsächlichem Körperempfinden. Für manche Menschen kann Tantramassage auch helfen, sexuelle Traumatas bewusst zu machen und diese aufzulösen.
Tantramassage gibt es selbstverständlich im privaten Kontext unter Paaren, aber auch als kommerzielle Angebote durch professionelle Masseure und -innen. Oft gibt bereits die Webseite eines Instituts einem sehr rasch einen Überblick, ob es sich um ein eher seriöses Angebot handelt, oder ob hier jemand eher aufs Geldmachen aus ist.
Lernen kann man Tantramassage am einfachsten in Kursen, die oft in kleinen Gruppen ausgeführt werden, alternativ aus Filmen/DVDs oder auch Büchern.
Praktiken, die energetische Zusammenhänge betreffen, werden in Tantramassagekursen eher selten vermittelt, wenn dann nur in fortgeschrittenen Kursen, und nicht in Anfängerkursen, und auch dann eher unsystematisch.
Voraussetzungen
Für Tantramassage gibt es wenige Voraussetzungen. Ethisches Verhalten ist - wie in jedem Lebensbereich - wichtig, die Fähigkeit zu achtsamem Umgang mit Mitmenschen. Körperwahrnehmung für den eigenen und den anderen Körper.
Für wen
Für alle, die diese Art von Sexualität schätzen. Viele Paare schätzen an Tantramassage, dass sie ihnen eine neue Sprache der Sexualität vermittelt, weg von gewissen Vorstellungen und Konditionierungen, wie Sex auszuschauen habe, und von Sex, der hauptsächich auf die Genitalien fokussiert ist hin zu Sex, der viel stärker den ganzen Körper einschliesst. Manche Frauen (oder auch Männer) haben insbesondere nach der Geburt von Kindern wenig Lust auf Sex mit Penetration, und da kann Tantramassage eine interessante Alternative darstellen.
2. Traditionelles buddhistisches oder hinduistisches Tantra
Was
Traditionelles Tantra ist ein jahrtausendealter spiritueller Praxisweg mit dem ultimativen Ziel, das volle Potential in Menschen zu realisieren, und die uranfängliche eigene Identität zu erkennen. Die versprochenen Früchte der Praxis sind extrem tiefgehend: im buddhistischen Kontext beispielsweise die vollständige Befreiung von sämtlichen leidhaften geistigen Zuständen. Ritual, Studium, Meditation und die Übertragungslinie durch den Lehrer bilden zentrale Elemente sowohl von hinduistischem als auch buddhistischem Tantra.
Dabei ist Tantra (nebst dem Daoismus) einer der wenigen religiösen Praxispfade, welches expizite Übungen kennt, die die Sexualität einschliessen, etwas das im Christentum beispielsweise schlicht nicht bekannt ist. Alle tantrischen Systeme stimmen jedoch überein, dass diese sexuelle Vereinigungspraxis nur jenen offensteht, die über eine lange, anstrengende und gründliche meditative Vorbereitung verfügen. In Tat und Wahrheit wird im traditionellen Tantra > 99% der Zeit für Praxis alleine oder in der Gruppe aufgewendet, und der sexuelle Praxisteil macht < 1% aus.
Die sexuelle Vereinigungspraxis benötigt folglich zwei Partner, die beide den gleichen Praxishintergrund haben, also vom gleichen Lehrer Instruktionen erhalten haben bzw. im gleichen System praktizieren, so dass ihre Vorbereitung vergleichbar ist.
Manchmal wird auch zwischen linkshändigem und rechtshändigem Tantra unterschieden. (Die linke Hand galt früher als "unrein", da man sie beim Toilettengang verwendete.) Linkshändiges Tantra war immer schon subversiv. Es benutzte schon immer teilweise schockierende Elemente, um mittels des bewussten Verstosses gegen gewisse internalisierte Normen das eigene Bewusstsein aus der Umklammerung herkömmlicher Vorstellungen zu befreien. Rechtshändiges Tantra, obschon auch nicht immer konform mit gesellschaftlichen Vorstellungen, war oft viel orthodoxer, nicht selten klösterlich geprägt, und bedient sich viel eher symbolischer Entsprechnungen, ist deshalb i.a. gesellschaftskonformer in Bezug auf die benutzten Praktiken. Nichtsdestotrotz kennen beide im Prinzip sexuelle Vereinigungspraktiken, und eine scharfe Trennziehung letztlich nicht möglich.
Mehr zu dem Thema im anderen Diskussionsthread: Tantra: Die Voraussetzungen für Karmamudra/Maithuna.
Voraussetzungen
Ohne Einweihung und Meditation geht hier gar nichts, tatsächlich handelt es sich bei der traditionellen sexuellen Vereinigungspraxis um eine Art meditative Yoga-Praxis. Die Anforderungen an die Vorbereitung der Beteiligten sind sehr hoch, die Fähigkeiten zu ausgeprägter meditativer Konzentration, Achtsamkeit, Visualisation, intellektuelle Schulung in einem bestimmten System und einiges mehr müssen entwickelt sein, bevor sexuelle Vereinigungspraxis denkbar ist. Mantra-Rezitation und Visualisation einer Gottheit sowie yogische (Pranayama-) Techniken sind wesentlicher Bestandteil dieser Art Praxis. Wer sich dafür nicht interessiert oder nicht für die notwendige langwierige Vorbereitung begeistern kann, für den ist diese Art Praxis wohl nichts.
Auch ist ein Lehrer unabdingbar, der die Praxis kennt, und eine Anleitung geben kann, solche Lehrer sind sehr schwierig zu finden.
Für wen
Für alle Menschen, die bereit sind, den Rest des Lebens an sich zu arbeiten, weil sie ein inneres Bedürfnis nach Wachstum verspüren, das sie nicht ignorieren können. Für alle, die bereits über eine langjährige Meditationspraxis verfügen, die sie mit Sexualität verbinden wollen. Für alle, die genügend andere therapeutische Praktiken ausgeübt haben, so dass sie den transformativen Charakter dieser System zu schätzen wissen. Auch für jene, die glauben, mittels sexualmagischen Techniken weltliche Ziele erreichen zu können.
3. Modernes Tantra mit Energiepraktiken
Was
Eine moderne Mischform aus 1 und 2. Diese Art Tantra existiert wie auch Tantramassage erst seit ca. den 1970erjahren, und wurde usprünglich insbesondere von Osho (Sri Rajnesh) geprägt. Es handelt sich um eine nicht eindeutig festgelegte Mischung aus (paar- und körper-) therapeutischen Konzepten, gewissen Yoga- und Energie-Techniken des traditionellen Tantra jedoch unter weitgehender Weglassung der meisten meditativen Techniken des traditionellen Tantral, und ritualisierter sexueller Vereinigung. Massage kann unterstützend angewandt werden, steht jedoch eher nicht im Vordergrund. Von allen Tantra-Anbietern fokussieren nur wenige auf diese Art Praxis, und viele Tantramasseure haben selbst keine Erfahrung mit den Energietechniken. Die meisten benutzten Energietechniken stammen recht unsystematisch zusammengewürfelt aus älteren daoistischen, tantrischen und Hatha-Yoga Schulen, und stellen oft stark vereinfachte Versionen der sehr viel komplizierteren ursprünglichen Praktiken dar.
Der Fokus liegt dabei auf relativ einfachen Energiepraktiken, die zu einer temporären Aufhebung der Grenzen des Körpergefühls führen. Dies funktioniert im traditionellen sexuellen Tantra zwar nicht prinzipiell anders, jedoch ist die Einordnung, Interpretation und Zielsetzung eine andere (tiefere) und reicht meist weit über diese eher temporären Effekte hinaus. Während in der traditionellen sexuellen Vereinigungspraxis diese temporären veränderten Bewusstseinszustände als Sprungbrett für weitergehende Realisationen oder Zielsetzungen verwendet werden, begnügen sich i.a. im modernen sexuellen Tantra mit Energiepraxis die Beteiligten auf das Erreichen dieser veränderten Bewusstseinszustände.
Viele Lehrer in diesem Bereich lehren auch Techniken zum "trockenen Orgasmus", also einem Orgasmus ohne Ejakulation und der (oft) darauf folgenden Ermüdung.
Für wen
Für Forscher im Bereich der Sexualität, des Körpers und des Geistes. Für Menschen, die wenig Interesse am teilweise mühseligen traditionellen Tantra und der vielen Meditation haben, sich aber wiederum für mehr als nur Tantramassage interessieren. Für "Energiejunkies", die darauf abfahren, durch Sexualität Energien im ganzen Körper zu spüren, und die Grenzen des eigenen Körpergefühls aufzulösen.