Schuld...
... ist etwas Individuelles, also hat keiner von uns eine Schuld an Auschwitz. Der Gedanktag ist kein Anlass, um sich in Sack und Asche zu kleiden, sondern eine Gelegenheit, um nachzudenken. Was für gesellschaftliche Prozesse haben zu diesen Ereignissen geführt? Was lernen wir dadurch über die menschliche Natur? (Meine Antwort: Nicht, dass der Mensch böse ist, sondern dass er sich häufiger nach seiner Bezugsgruppe richtet als nach ethischen Prinzipien)
Und vor allem: Bei welchen Vorgängen in unserer aktuellen Gesellschaft sollte man wachsam werden?
Wie sehr müssen wir uns Sorgen machen über Politiker, die versuchen, mit billiger Hetze gegen Migranten Wählerstimmen zu bekommen (da rechne ich mal CSU und AfD auf jeden Fall dazu)?
Wie sehr müssen wir uns darüber Sorgen machen, dass die meistgelesene "Zeitung" unseres Landes ein widerwärtiges Hetzblatt ist, das weit mehr mit Propaganda als mit echtem Journalismus zu tun hat? Wie sehr müssen wir uns sorgen, dass der Begründer dieses Blattes an seinem 100. Todestag von fast unserer gesamten politischen Führungsschicht gefeiert wurde?
Wie sehr müssen wir uns Sorgen über die Ausgrenzung von Arbeitslosen machen, die nicht genug zum Leben haben (zumindest wenn man Bedarfsberechnungen glauben darf)?
Wie sehr müssen wir uns darüber sorgen, dass unsere Kanzlerin eine Politik vorantreibt, die die Sozial- und Gesundheitssystem eines Landes ruinieren, damit einheimische Banken ihre Kredite mit Gewinn zurückbekommen?
Wie sehr müssen wir uns darüber sorgen, dass Opfer von Polizeigewalt teilweise noch wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt werden, während die Täter fast immer davonkommen (und erst recht diejenigen, die die Befehle erteilt haben!)?
All das sind Fragen, deren Antworten für mich offen sind. Ich weiß nicht, worüber davon ich mir wie sehr Sorgen machen muss. Aber es sind Fragen, die mich ehrlich gesagt beunruhigen, weil sie eine Gesellschaft zeigen, in der meines Erachten einiges im Argen liegt. Man muss sich mit der Sorge nicht Zeit lassen, bis Leute verschwinden.
Ich empfehle zur Lektüre Sebastian Haffners "Erinnerungen eines Deutschen", in dem er auch die ersten Monate der NS-Herrschaft beschreibt. Es ist erschreckend zu lesen, wie hilflos der Durchschnittsbürger diesem System selbst in seinen Anfangstagen, als es sich gerade erst etablierte, gegenüberstand.