Ich kenne dieses Gefühl von dem sogenannten "Ritzen", mit dem ich mich als Lehrerin theoretisch intensiv auseinandergesetzt habe, weil ich es musste. Mädchen, die das praktizieren und nicht einer Modeerscheinung folgen (auch das kommt vor), schildern den Effekt genau so... "sich (wieder) spüren können". Wenn Teenager das tun und keine hinreichende Distanz zu dem haben, was sie da tun, wenn es ihnen schadet, weil es suchtähnliche Züge annimmt und in immer extremere Formen führt, dann halte ich es für pathologisch - im Sinne von "es tut nicht gut, der Schaden ist größer als der Nutzen".
Wenn aber erwachsene Menschen, die sich selbst kennen und denen klar ist, was sie tun und warum, im bdsm durch Schmerzerfahrung ein ähnliches Gefühl erreichen und das genießen - "sich (endlich wieder) spüren" - dann finde ich das nicht bedenklich. Viele Menschen brauchen eine Art Ventil oder Grenzerfahrungen oder extreme Situationen, um Druck abzulassen, um sich auf einen kleinen Punkt herunterzubrechen oder eben um ganz bei sich zu sein oder "sich zu spüren". Mir geht es z.B. beim Edgeplay so, Choking, Schnitte, das Spiel mit Wasser (Richtung Waterboarding). Und mir ist total klar, dass viele Menschen das pathologisieren würden, wüssten sie es. Das ist mir aber vollkommen gleichgültig, solange es sich für mich "gesund" anfühlt 🙂.
Ein anderes Beispiel: Ich habe mir über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren, die beruflich und privat sehr aufreibend waren (Referendariat, zwei kleine Kinder, absolut ehrgeizig und perfektionistisch), regelmäßig den Finger in den Hals gesteckt und mich übergeben. Immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, der Druck wird zu groß, mir ist alles zuviel. Das hat mir geholfen, und als ungesund habe ich das nicht empfunden, sondern als in meinem Fall (!) sinnvolle psychische Strategie. Ich wusste allerdings auch zu jedem Zeitpunkt, dass ich damit aufhören kann und hab' das auch immer wieder "getestet". Irgendwann hat mein Mann das mitbekommen und mich zu einem Psychiater und Neurologen geschleift, ein Psychoanalytiker, der aussah wie Freud und mich auch mit dem, was er sagte, an ihn erinnert hat 😆. Ich war 5x bei ihm, und er hat sich in aller Ruhe angehört, was ich zu sagen habe. In der letzten Sitzung habe ich ihn gefragt, "Ist das denn aus psychiatrischer Sicht 'krank', was ich da mache?". Nein, meinte er, "gesund" und "krank" seien in der Psychiatrie und Psychologie ohnehin problematische Begriffe. Gesund sei, was helfe - wenn man es im Griff habe (das ist jetzt natürlich etwas verkürzt wiedergegeben).
Irgendwann hat dieses bulimische Verhalten von selbst (fast) aufgehört, das Bedürfnis war einfach nicht mehr da. Ab und zu mache ich es immer noch, und es ist völlig okay für mich.
Also: Ich denke, wenn man Dinge macht oder mit sich machen lässt, die gut tun, die helfen, die man genießen kann, dann ... so what? Es ist wichtig, sich dabei immer mal wieder selbst zu beobachten und darauf zu achten, dass keine extreme Abhängigkeit entsteht, aber ansonsten sehe ich da gerade im bdsm kein Problem.
Mir ist übrigens klar, dass man das Alles auch anders sehen kann, es ist meine ganz persönliche Meinung zu deinem EP 🙂.