@ Hedi1
Haben wir es verlernt unseren Lebens- und Berufsweg mit Bedacht und Rücksicht ohne professionelle Hilfe zu gehen?
Es gibt sicherlich das eine oder andere Seminar war uns wirklich etwas weiterbringt,trotzdem sehe ich viele Kurse als Geldbeutelschneiderei an.
Wie steht Ihr zu den sogenannten „Selbsterfahrungsseminaren?
Das sind für mich mehrere Fragen und unterschiedliche Themen, die Du in Deinem Eröffnungsposting zwar locker miteinander verknüpfst, die aber aus meiner Sicht nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben müssen und die ich deshalb gerne trennen und getrennt betrachten würde:
1. Haben wir es verlernt, unseren Lebens- und Berufsweg mit Bedacht und Rücksicht ohne professionelle Hilfe zu gehen?
2. Es gibt sicherlich das eine oder andere Seminar, das mich wirklich etwas weitergebracht hat, aber bei den meisten war dies nicht der Fall, die haben mich sogar genervt.
3. Ich sehe viele Kurse als Geldbeutelschneiderei an
4. Wie steht Ihr zu den sogenannten Selbsterfahrungsseminaren
ad 1:
Woran würdest Du ablesen können, ob jemand seinen Lebensweg mit Bedacht und Rücksicht geht oder nicht?
Woran würdest du ablesen können, ob jemand seinen Berufsweg mit Bedacht und Rücksicht geht oder nicht?
Was den eigenen Lebensweg betrifft so steht es uns doch frei, ob wir dabei Hilfe in Anspruch nehmen und von wem. Ich selbst habe mehrfach im Leben unvorhersehbare Ereignisse erlebt, die so einschneidend waren, dass alles vorher Überlegte und Geplante keinen Bestand mehr hatte und völlig über den Haufen geworfen wurde.
Es hat mir nie an wirklich guten Freundinnen und Feunden gemangelt, die mich, ebenso wie meine Familie, in diesen Situationen sehr unterstützt haben und auf die ich mich verlassen konnte.
Dennoch habe ich mehrfach sehr bewußt und gezielt zusätzlich dazu auch fremde, und zwar mit Bedacht (!)professionelle, Hilfe in Anspruch genommen, um diese Krisen zu bewältigen und die Erlebnisse zu verarbeiten, und um Rücksicht (!) darauf zu nehmen, dass auch die besten Freunde nicht unbegrenzt belastbar sind.
Du redest allerdings , wenn ich es richtig verstanden habe, hauptsächlich von beruflich veranlassten Pflichtfortbildungen.
Da bin ich grundsätzlich der Ansicht, dass in dem Moment, wo ich einen Beruf professionell ausübe und für diese Leistung eine Vergütung bekomme, egal ob von meinem Arbeitgeber oder als Selbständige von Kunden oder Klienten, dies die (Selbst-)Verpflichtung beinhaltet, dass ich mich tatsächlich auf einem Niveau der Professionalität bewege, welches dem jeweils aktuell anerkannten Standard dieser Berufstätigkeit in Bezug auf Wissen und Methoden entspricht und die legitimen Qualitätsanforderungen derer erfüllt, die mich beauftragen oder denen gegenüber ich eine arbeitsrechtlich verbindliche vertragliche Verpflichtung eingegangen bin oder einzugehen hoffe.
Das Schlagwort von der Bereitschaft zum lebenslangen Lernen ist nicht nur ein Schlagwort. Ein Arbeitgeben kann jedenfalls erwarten, dass Mitarbeiter grundsätzlich bereit sind, berufliche veranlaßte Anpassungs- und Fortbildungsmaßnahmen zu besuchen, die er für notwendig hält, damit die Qualität der angebotenen Erzeugnisse oder Dienstleistungen gewährleistet ist. Das fällt in den Rahmen des sogenannten Direktionsrechtes, das durch den jeweiligen Arbeitsvertrag begründet ist.
Ad 2:
In größeren Unternehmen und Organisationen gibt es eigens die sogenannten Personalentwicklungsfachleute, die dafür ausgebildet und eingestellt sind, den personellen Aus- und Weiterbildungsbedarf eines Unternehmens zu erheben und dafür zu sorgen, dass dem Unternehmen zur rechten Zeit die richtigen Leute mit der richtigen Qualifikation zur Verfügung stehen, und dies so passgenau wie möglich und mit so wenig Kosten wie nötig. Dies tun sie unter anderem dadurch, dass sie für bestimmte Funktionen bestimmte Qualifikationsvoraussetzungen identifizieren, über die ein Stelleninhaber idealerweise für eine bestimmte Funktion verfügen sollte, und dass sie ein innerbetriebliches Qualifikationssystem etablieren, welches sicher stellt, dass diese Qualifikationen auch in ausreichendem Maße vorhanden sind.
Dabei geht es einerseits um Kompetenzen rein fachlicher Art, andererseits aber auch um emotionale und soziale Kompetenzen, die man heutzutage als Schlüsselqualifikationen bezeichnet, welche unerlässlich dafür sind, dass Mitarbeiter auch in unvorhergesehenen Situationen über die notwendige Handlungskompetenz verfügen. Je höher in der Hierarchie jemand angesiedelt ist, desto höher sind dementsprechend die Ansprüche an die dementsprechenden Kompetenzen.
Vorgesetzte, egal auf welcher Ebene, haben heutzutage klare Vorgaben, welche Leistungen pro Zeiteinheit sie in welcher Form und Qualität mit ihren Mitarbeiten zu erbringen haben. Da unterscheiden sich auch die einzelnen Branchen heute kaum mehr voneinander. Die damit verbundene "Durchökonomisierung" sämtlicher Lebensbereiche mag uns nicht schmecken - entziehen können wir uns ihnen nur sehr begrenzt.
Dass vor diesem Hintergrund versucht wird, Bildungsmaßnahmen möglichst modular zu gestalten, um eine größtmögliche Flexibilität zu erreichen, kann nicht verwundern. Kein Unternehmen schickt seine Mitarbeiter zu Fortbildungen, von deren Wert es im Rahmen seines eigenen Bezugssystems nicht überzeugt wäre, jedenfalls nicht, wenn es die gesamten Kosten einschließlich der Opportunitätskosten dafür übernimmt. (Als Opportunitätskosten bezeichnet man die Kosten, die rechnerisch dadurch entstehen, dass der Mitarbeiter während der Zeit seiner Fortbildung nicht am Arbeitsplatz ist und "produziert" oder eine Dienstleistung erbringt, aber dennoch so bezahlt wird, als ob er es täte, sowie die anteiligen Overheadkosten pro Tag und Kopf, also umgerechnete Beträge für Bereitstellung und Unterhalt der Gebäude, Heizung, Beleuchtung, Maschinen- und Gerätewartung etc., die zur Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs notwendig sind).
Da abgesehen von Maßnahmen der rein fachlichen Anpassungsqualifikation allerdings nicht nur die Firma profitiert, sondern auch der Arbeitnehmer, die damit nämlich auch ihre eigene "Marktfähigkeit" auf dem Arbeitsmarkt erhöhen bzw. erhalten, haben sich inzwischen die meisten Unternehmen mit den betriebsräten darauf verständigt, dass auch die Arbeitnehmer einen Teil der anfallenden Gesamtkosten für solche Weiterbildungsmaßnahmen übernehmen. Die konkrete Ausgestaltung ist sehr unterschiedlich und äußerst vielfältig. Manchmal investiert der Arbeitnehmer lediglich einen arbeitsfreien Samstag, manchmal trägt er einen Teil der rein extern anfallenden Kosten, bei umfassenderen Lehrgängen beteiligt sich der Arbeitgeber teilweise zu einem festgelegten Prozentsatz an den Kosten, der sich unter Umständen noch erhöht, wenn mit einer bestimmten Note abgeschlossen wird - da gibt es unendlich viele Modelle, und gewöhnlich entsprechende Betriebsvereinbarungen im Einvernehmen mit den Vertretern der Belegschaft.
Je professioneller die Personalentwicklung in einer Organistaion betrieben wird, desto höher ist die Chance, dass ein Mitarbeiter nicht zu einer Fortbildungsmaßnahme verpflichtet wird, die ihm nach seinem subbjektiven Empfinden nichts bringt, denn professionelle Personalentwickler führen auch sogenannte "Rückkehrergespräche" und werten die Ergebnisse aus. Seminare, die von den meisten Teilnehmern als überflüssig und wertlos angesehen werden, sortieren sie aus und sorgen dafür, dass das, was mit jenem Modul erreicht werden sollte, dann auf einem anderen Weg erreicht wird.
Das setzt allerdings auch voraus, dass die Teilnehmer selbst eine ehrliche und differenzierte Rückmeldung geben und sich nicht ihrerseits passiv verhalten und eine Maßnahme besuchen, obwohl sie bereits von Kollegen, die dort vor ihnen waren, hinlänglich über die Mängel informiert wurden, weil ihnen dies angenehmer ist, als in der Zeit ihrer normalen Arbeit nachzugehen - eine leider eben auch weit verbreitete Mitnahme-Mentalität. (Ich bekenne mich an dieser Stelle dazu, dass ich selbst lange Jahre meines Berufslebens die leitende Personalentwicklerin eines sehr großen Dienstleisters war und sehr genau weiß, wovon ich diewbezüglich rede und wo die diversen Hasen im Pfeffer liegen.)
Manchmal wird auch nicht genügend darauf geachtet, bereits im Vorfeld einer Weiterbildung die Erwartungen der Teilnehmer an die Maßnahme zu erheben und sie abzugleichen mit der des Unternehmens, sowie den Stellenwert zu bestimmen, den eine bestimmte Maßnahme im individuellen Personalentwicklungsprozess des einzelnen Arbeitnehmers hat. Ich habe damals dafür gesorgt, dass mit jedem einzelnen Mitarbeiter im Abstand von maximal 2 Jahren von einem Mitarbeiter meiner Abteilung ein persönliches Weitebildungs- und Entwicklungsgespräch geführt wurde, und zwar bewußt getrennt vom Leistungsbeurteilungsgespräch, bei dem solche Dinge besprochen und möglichst paßgenau abgestimmt wurden.
Leider haben aber sehr viele Betriebe inzwischen ihre Personalentwicklungsabteilungen entweder totgeschrumpft, völlig aufgelöst, oder diese Funktion direkt an externe Anbieter ausgelagert, was zwar die Kennzahlen der Unternehmensbilanz entlastet, aber die Qualität der Qualifikationssicherstellung insgesamt sowie in einzelnen Aspekten drastisch gesenkt hat., teilweise sogar dieser in grotesk anmutenden Weise entgegensteht .
Dies schlägt zumiondest teilweise eine Brücke zum nächsten Punkt.
Ad 3:
Wenn Du Kurse als Geldbeutelschneiderei ansiehst, liebe Hedi, dann vermute ich mal, dass Du sie selbst bezahlen mußt, und dass der Ertrag, den Du aus ihnen ziehst, für Dich nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem Betrag stehst, den Du dafür zu bezahlen hast.
Falls ich Dich diesbezüglich richtig interpretiert habe, will ich Dein subjektives Urteil hier keineswegs in Zweifel ziehen. Du empfindest das so aufgrund eigener Erlebnisse, und das ist okay.
Dass es viele Mogelpackungen auf dem unerschöpflichen Aus- und Weiterbildungsmarkt gibt, ist sicherlich richtig. Aber wo gibt es die nicht?
Die viel interessantere Frage wäre für mich, wieso sie sich am Markt halten können.
Die ökonomische Definition von "Markt" ist "Der Ort, wo Nachfrage und Angebot nach einer Ware oder Dienstleistung aufeinandertreffen", und in einer martktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft regelt die Nachfrage nach einem Gut dessen Preis.
Eine hohe Nachfrage garantiert nicht unbedingt auch eine hohe Qualität. Wenn ich nur beschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung habe, muß ich abklären, ob es das, was ich möchte, um den mir möglichen Betrag gibt. Wenn dies nicht der Fall ist, muß ich mich entweder mit einer minderen Qualität begnügen oder darauf verzichten.
Und wie wir ja alle inzwischen hinlänglich oft gehört haben, ist Geiz angeblich geil. Und wir sind ja nicht blöd, oder?
Wendet da etwa jemand ein, man könne doch Bildungsmaßnahmen nicht als eine Ware wie jede andere betrachten???? Oh doch, man kann, genau so wie man die menschliche Arbeitskraft so betrachten kann, oder Sex.
Mainstream ist angesagt, egal wie hirnlos.
Was verkauft werden kann, wird verkauft. Fleisch minderer Qualität wird eben nach dem Verfallsdatum umettiketiert.
"Selbsterfahrung" ist ein Renner? Na dann - pepp ich halt meine alten Ladenhüterseminare etwas auf, mach ein Event draus, vielleicht ein kleiner Feuerlauf gefällig oder eine geile Begegnung mit einer Vogelspinne, was im Dschungelcamp funktioniert, werd ich doch nicht auslassen, Chakka! Fertig ist das neue "Selbsterfahrungsseminar" .
Davon auszugehen, dass ausgerechnet der Sektor, auf dem man offensichtlich so leicht so viel Geld verdienen kann, nur von edlen Gutmenschen wimmelt, erschienen mir schlichtweg als naiv.
ad 4:
Meine Einstellung zu Selbsterfahrungsseminaren habe ich bereits in meinen beiden vorhergehenden Beiträgen genügend erläutert.
Ihre Qualität und der Ertrag für die Teilnehmer hängt entscheidend davon ab, dass es kein Angebot von der Stange ist, sondern eine maßgeschneiderte Maßnahme für eine spezifische Teilnehmergruppe in einem klar definierten Zusammenhang und eingeordnet in ein abgestimtes Konzept zur Erlangung übergeordneter Ziele. und selbstverständlich ebenso von der Qualität und der Seriosität der Trainer ab. Diese Qualität hat ihren Preis. Das muß ich wissen.
Unter "sogenannten" Selbsterfahrungsseminaren verstehe ich genau solche, die diesen Kriterien nicht oder nicht ausreichend entsprechen, aber unter dem selben Etikett auftreten. Das nenne ich dann Etikettenschwindel.
Ich will Dir keinesfalls persönlich zu nahe treten, liebe Hedi, wenn ich jetzt immer noch nicht so ganz sicher bin, was nun Dein eigentliches Anliegen ist, das Du mit der Eröffnung dieses Threads diskutieren möchtest, und über welche Frage Du Dir einen Austausch mit uns wünschst:
• Über das Preis- /Leistungsverhältnis von Fortbildungsmaßnahmen allgemein und Sellbsterfahrungsseminaren im Besonderen?
• Über die Sinnhaftigkeit von Selbsterfahrungsseminaren?
- Über Sinn und Unsinn einer zunehmenden Professionalisierung beruflicher Fortbildung, die sich in deiner Wahrnehmung allmählich auch ins Privatleben ausbreitet ?
- Über die Qualität von Seminarveranstaltungen ganz allgemein? Über beruflich veranlaßte Fortbildungsseminare, die auch den einen oder anderen Baustein enthalten, der zwar locker als "Selbsterfahrung" bezeichnet wird, ohne dass es sich tatsächlich um eine seriöse solche handelt?
Sondern vielleicht eher um eine inszenierte Selbstentblößung, im Niveau vergleichbar einer dieser unsäglichen Talkshows am Nachmittag, die keineswegs darauf abzielt, einer Person bei der Lösung eines Problems zu helfen, die darum gebeten hätte, sondern darauf, dass diese Person wildfremden Menschen, mit denen sie nichts verbindet, intime Informationen über sich preisgibt, die ihr teilweise peinlich sind und lediglich die unverhüllte Neugier und sensationslust der anderen Teilnehmer bedienen.
• Also über die höchst unprofessionelle Simulierung von Professionalität?
- Oder über nichts von alledem, sondern etwas ganz anderes, was ich vielleicht völlig übersehen habe?