Familienbande
„So wird das nichts!“ Wütend warf er den Stift zu Boden. „Ich kann so nicht arbeiten! Das hier ist meine große Chance und ihr habt nichts besseres zu tun, als mich in den Wahnsinn zu treiben!“ Sein Gesicht verzog sich zu einer graugelben Fratze. „Verschwindet! Alle! Sofort!“ Die Welle aus Wut überrollte ihn mit fundamentaler Wucht. Der Tsunami trieb ihm die Luft aus den Lungen und den Blutdruck nach oben. Pfeifend zischte sein Atem durch die zusammengebissenen Zähne.
Laura zuckte zurück. Alles in ihr schrie, „halt endlich die Fresse. Du bist nicht der einzige Mensch im Universum!“
Doch bevor die Worte in ihrem Mund ankamen, wurden sie von einem anderen Bild gestoppt. Paul, ihr Paul, mit einer Rose in der Hand, fiel auf die Knie und gestand ihr seine Liebe. Sie wusste, dass er das Meer hasste. Trotzdem war er bereit gewesen, mit ihr diese Hafenrundfahrt zu machen. Gott allein wusste, wie er es geschafft hatte, seine Angst zu überwinden und an den Landungsbrücken nicht umzukehren. Die Barkasse hieß zu allem Überfluss auch noch „Alte Liebe“. Es war kitschig, es war romantisch und es regnete in Strömen. Und dieser Mann ignorierte all das, nur um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Das war ihr Paul, nicht dieses Nervenbündel da vor ihr. Ohne es selbst zu merken, begann sie zu summen. Sie versank in sich selbst.
Das konnte nicht wahr sein. Jetzt fing sie auch noch an zu summen. Er kannte diesen Rhythmus. Stundenlang hatten sie dieses dämliche Spiel gespielt auf dem Hof vom Kinderheim. Eine neue Welle aus Wut und Hass überschwemmte ihn.
„Eins und zwei und drei und vier und
fünf und sechs und sieben und acht, ein
Hut, ein Stock, ein Regenschirm, und
vorwärts, rückwärts, seitwärts, bei
und ...
Eins und zwei und drei und vier und
fünf und sechs und sieben und acht, ein
Hut, ein Stock, ein Regenschirm, und
vorwärts, rückwärts, seitwärts, bei
und ...“
„Du blöde Kuh“, schnaubte er. „Jetzt kriege ich diesen dämlichen Reim den ganzen Tag nicht aus dem Kopf! Mach dich doch einfach unsichtbar, wenn große Geister dichten! Und nimm das verdammte Katzenvieh mit!“
Lizzy lag friedlich schnurrend auf ihrem Hocker. Mit ihren knapp 21 Jahren hatte sie besseres zu tun als an Gummibäumen hochzuklettern oder Gardinen abzureißen. Paul griff in höchster Aufregung nach der Blumenvase, die immer auf dem Sideboard stand. Laura verstummte, raste los, griff sich die Katze und rannte aus dem Zimmer. „Kommt mit“, murmelte sie dabei.
Justin und Marie schlichen mit gesenktem Kopf hinter ihr her. So leise wie es einem Vierjährigen nur möglich war, zog Justin die Tür hinter ihnen zu. „Ruhe!“, kreischte es auf der anderen Seite, dann knallte etwas. Es klirrte. Marie fing an zu weinen. „Still!“, flüsterte ihr großer Bruder. „Komm, wir gehen weg. Mit Verschwörermiene zog er seine Schwester hinter sich her. Auf Zehenspitzen schlichen sie den Flur entlang, ängstlich bemüht, die Dielen nicht knarren zu lassen. Justin reckte sich und drückte die Klinke herunter. „Komm. Hier findet er uns nicht“, hauchte er und schob die noch immer weinende Marie in den großen Wandschrank. „Ich bin gleich wieder da“. Er schob die Tür wieder zu.
Ihre Mutter war inzwischen in der Küche verschwunden. Sie setzte die Katze ab und stützte sich auf die Anrichte. „Du brauchst Futter“, murmelte sie vor sich hin. Dann ging sie in den Vorrat und holte eine Packung Whiskas. „Hier, meine Liebe, Leckereien vom Hummer, die magst du doch besonders“, kicherte sie, während sie den Deckel abriss. „Aber erst müssen wir dein Näpfchen spülen.“
Sie begann erneut zu summen und so bemerkte sie nicht, wie Justin hinter ihr lautlos in den Vorrat schlich. Er holte eine Flasche Brause und eine Packung Kekse, dann schlich er ebenso leise zurück.
„Hier kommt dein Leckerchen, mein Schätzelein“, sagte Laura und stellte den Napf auf den Boden. Lizzy schritt desinteressiert näher und schnüffelte kritisch an ihrem Napf. Zaghaft begann sie, am Futter zu lecken.
Justin enterte den Wandschrank und drückte seiner Schwester seine Schätze in die Hand. Dann zog er mühsam die Tür nach innen an. Ein kleiner Schlitz blieb immer, denn irgendwann mussten die kleinen Finger nach innen schlüpfen, um nicht gequetscht zu werden. Zwischen leeren Reisetaschen und eingerollten Luftmatratzen kuschelten sich die Geschwister aneinander.
„Papa schimpft immer“, sagte Marie.
„Papa muss arbeiten. Papa meint das nicht so“. Justin wusste zwar selbst nicht so genau, was das bedeutete, aber es waren die Sätze der Mutter, und immer wenn sie sie ausgesprochen hatte, war Justin ruhig geworden. Ganz ruhig und ganz leise. Und noch nie hatte ihn jemand in seinem Versteck aufgescheucht. „Komm, Mariechen. Wir trinken ein bisschen Brause“, schmeichelte er. Doch Marie schüttelte den Kopf. „Dann muss ich Klo. Und ich will nicht Klo. Papa schimpft, wenn das Klo laut ist.“ Sie schmiegte sich so eng wie möglich an ihren Bruder. Der nahm sie fest in den Arm.
Laura setzte sich auf den Stuhl und sah der Katze beim Fressen zu. Paul hatte Recht. Sie war wirklich rücksichtslos gewesen. Er musste diesen Jingle schreiben, und sie hatte nichts besseres zu tun als mitsamt Kindern und Katze in sein Arbeitszimmer zu kommen. Sie musste ihn auf andere Gedanken bringen. Er musste sich nur etwas entspannen, dann würde der Jingle fertig. Sie ging zurück in den Vorrat. Viel war nicht mehr da. Und es war erst der Vierte. Ihr Geld von dem Putzjob kam erst am Zehnten. Aber da war ja noch der Chai. Sie lächelte versonnen. Sie hatten Justin bei ihrer Mutter gelassen, um endlich mal ein wenig Zeit nur miteinander verbringen zu können. Sie waren im Kino gewesen. „Lebe und denke nicht an morgen“, hatte der Film geheißen. Es hatte diesen Tee als Marketinggag gegeben und sie hatten eine Packung gekauft. Es war die Nacht, in der Marie entstanden war... Sie ging zurück in die Küche und setzte Wasser auf.
Paul saß mit dem Rücken zur Tür am Klavier, als sie mit dem Tee hinein kam, und klimperte leise. „Wachsdol gibt den Schuhen Glanz, damit geht es dann...“ Die sich öffnende Tür schob die Scherben beiseite. Es klirrte leise. Er erstarrte. Gerade hatte er den Reim gehabt. Laura stand mit dem Tablett in der Hand da und lächelte über das ganze Gesicht. „Ich dachte, etwas Tee könnte dir helfen, Liebling.“
Weg! Der Reim war weg! Mit einem Schrei sprang er auf sie zu und schlug ihr das Tablett aus der Hand. Der heiße Tee verbrühte ihm den Arm. Er ballte die Faust. Ungläubig sah sie ihn an. Er schlug zu. Es knirschte, als ihr Kiefer brach. Er griff sich eine Scherbe. Sie riss die Arme hoch, doch gegen seine Wut war sie machtlos.
„Eines ist merkwürdig“, sagte Kriminalhauptmeister Wegener zu seiner Assistentin. „Die Nachbarn sprachen von zwei Kindern. Aber sie scheinen spurlos verschwunden."
„Vielleicht waren sie Tatzeugen und haben sich versteckt?“, antwortete Kriminalmeisterin Müller. „Verstehen könnte ich es ja... Ihr Martyrium muss Stunden gedauert haben. Es scheint, als hätte er ihr mit den Scherben der Teekanne systematisch die Haut herunter geschält.“
„Ich muss Klo“, flüsterte Marie. „Mach unter dich“, hauchte Justin. „Wir können nicht Klo. Draußen sind böse Menschen.“
© Sylvie2day, 04.11.2012