Ironie des Schicksals
Inspiriert durch eine wahre Begebenheit:Die Trommel gab einen dumpfen Laut von sich, als der lederne Würfelbecher mit Wucht auf ihr straff gespanntes Fell geschlagen wurde, und das Klappern der in ihm herumspringenden Würfel erzeugte eine Sekunde lang einen leise rollenden Nachhall, bevor es verklang.
Eine Sekunde gespannter Stille trat ein, die nur durch die Geräuschkulisse der Umgebung gestört wurde: das Knarren und Kratzen des Mühlsteins, das leise, scharfe Flappen von offenen Zeltklappen im Wind, das Scharren des Wetzsteins auf Metall, das Klappern von hölzernen Tellern, die Rufe von Maultieren und all die zahllosen, miteinander verwobenen Gespräche, aus denen sich gelegentlich eine einzelne Stimme rauh und barsch hervorhob.
Aus zusammengekniffenen Augen, die langen, sehnigen, feingliedrigen Finger der rechten Hand unverwandt auf dem Leder des Würfelbechers liegend, blickte Lucius sein Gegenüber an.
Titus Pullo war mit Sicherheit schon in seiner Jugend ein abgrundtief hässlicher Mann gewesen, und die vergangenen Jahre hatten es nicht gut mit ihm gemeint. Sein sonnengegerbtes Gesicht war vom Kinn bis an den Haaransatz von dunklen, stellenweise fast bläulich wirkenden Pockennarben überzogen, die Nase breit und bucklig wie die eines Preiskämpfers, zu oft gebrochen und schief zusammengewachsen, die linke Wange und der Mundwinkel von einer alten Narbe wie von einer Ackerfurche durchschnitten. Unter buschigen, schwarzen Brauen blitzten dunkle, wache Augen hervor, als sie zwischen Lucius’ Augen und dem Becher hin und her wanderten. Ungeduldig, fast höhnisch, zog er die Nase kraus und die Oberlippe nach oben und entblößte gelbliche Schneidezähne, bevor er einen Strahl dicken, mit Wein vermischten Speichels in den Sand spie.
„Worauf wartest du, Lucius Vorenus, du Sohn der billigsten Hafendirne von Ostia?“
Lucius ignorierte die altvertraute Beleidigung. Titus hatte nicht nur das Gesicht eines Bauern und die Kinderstube eines Fischers, er führte auch entsprechend niedere Redensarten im Mund. Fünfzehn Jahre Dienst unter dem Adler hatten diesem Umstand nicht abgeholfen, und die Anspielung auf seine Herkunft war eine bewusste Provokation.
Lucius Marcus Vorenus entstammte einer angesehenen Senatorenfamilie – zumindest zur väterlichen Hälfte, und genau das war das Problem. Sein Vater hatte sein gesamtes Leben lang gut für ihn gesorgt, ihm sogar einen Platz auf einer der begehrten griechischen Internatsschulen ermöglicht; er war ein begnadeter Athlet, er konnte lesen und schreiben, beherrschte die Künste der Rethorik und der Algebra, sprach fließend Griechisch und Iberisch. Sein Körper und Antlitz waren makellos wie die eines antiken Halbgottes, in jeder Stadt und in jedem Dorf erlagen Frauen seinem Lächeln, seinen wasserblauen Augen und seinen weizenfarbenen Locken, ihre Körper wurden unter seinen schlanken, starken Händen zu Wachs. Und doch haftete ihm stets und für alle Zeiten der Makel seiner Herkunft an: er war und blieb ein Bastard und der Sohn einer Mätresse, im Rausch gezeugt, in Schande geboren, noch im Kindbett verstoßen. Die Familie seines Vaters wollte nichts von ihm wissen, die leiblichen Söhne würden das Schwert gegen ihn ziehen, sollte er es wagen, auf ihrem Land zu erscheinen. Klingende Sesterzen aus der väterlichen Schatulle hatten ihm den Weg in den Dienst des Kaisers geebnet, doch der ehrbare Stand eines Offiziers würde ihm für immer verwehrt bleiben. Und so war er gezwungen, mit Rauhbeinen, Halsabschneidern und Bauernsöhnen wie Titus Tertius Pullo um ein paar Kupfermünzen zu würfeln.
Titus wiederum, nun, Titus beherrschte zwar nicht die Kunst der Algebra, dafür aber umso besser die Kunst, Eins und Eins zusammenzuzählen, und so liess er seit Jahren keine Gelegenheit aus, Lucius mit gezielten Schmähungen in Bezug auf seine Abstammung zu überziehen. Aber zumindest zollte er ihm trotz dieses beständigen Rituals gutmütiger Sticheleien einen zähneknirschenden Respekt, wenn Lucius um diesen Respekt auch lange und hart hatte kämpfen müssen. Trotz ihrer so grundverschiedenen Herkunft und unterschiedlichen Dienstzeiten bekleideten sie mittlerweile beide denselben Rang, den eines Centurios in der XIV. Legio Claudia, der ruhmreichen, sieggewohnten Vierzehnten Claudia, und sie beide verband nicht nur eine enge Kameradschaft, sondern auch eine daraus erwachsene, seit Jahren bestehende, tief verwurzelte professionelle Rivalität.
Lucius hatte diesen Rang und die damit einhergehenden Privilegien aufgrund seines Ehrgeizes, seines wachen Verstandes, seiner athletischen Geschicklichkeit, seiner hervorragenden Bildung und seines Charismas erlangt, und er hatte all diesen Ehrgeiz und diese Begabungen darangesetzt, seine militärischen Fähigkeiten zu vervollkommnen. Mit den wenigen Münzen, die er sich seinerzeit als einfacher Legionär von seinem kargen Sold abgespart oder beim Würfeln gewonnen hatte, hatte er einen einäugigen, hinkenden Veteranen vom Versorgungstross dafür bezahlt, ihm in seiner dienstfreien Zeit diejenigen Tricks und Kniffe des Fechtens mit dem kurzen Gladius beizubringen, die man auf keinem Kasernenhof in Ostia oder Pompeii lernte. Mit Erfolg: auf dem langen Marsch mit Imperator Gaius Iulius Caesar in den kargen, windgepeitschten Norden Galliens hatte die schwarze Erde dieses Landes bisher das Blut von vier Barbaren getrunken, die im Kampf Mann gegen Mann Lucius’ Schnelligkeit und Geschicklichkeit nicht gewachsen gewesen waren.
Titus seinerseits, zäh, gerissen und bauernschlau hatte in den Jahren seines Dienstes diese Kunst auf die harte Weise gelernt: auf dem Schlachtfeld, von den zahllosen Männern, die vergeblich versucht hatten, ihn zu töten. Die Männer erzählten sich hinter vorgehaltener Hand, weder würden Titus’ Speer oder Gladius jemals einen Feind verfehlen, noch sein Knotenstock jemals den Rücken eines glücklosen Legionärs, der seinen Zorn auf sich gezogen hatte. Und wenn man den kurz gewachsenen Titus Pullo unter sengender Sonne Meile um Meile unermüdlich über staubige Straßen und Karrenwege marschieren sah, konnte man den Eindruck gewinnen, weder sein Tornister noch sein Kettenhemd und sein Helm, noch der schwere, eisenbeschlagene Schild, der Scutum, unter dessen Last alleine junge Männer ächzten und die Götter verfluchten, würden irgendein nennenswertes Gewicht besitzen.
Sein Rang war hauptsächlich seinem Dienstalter geschuldet und der Tatsache, dass die Soldaten ihn seines Zornes wegen ebenso fürchteten, wie sie ihn seiner Gerechtigkeit wegen liebten: Titus Pullo lobte oder bevorzugte niemals einen Mann, der es nicht absolut verdient hatte, und selbst wenn er betrunken war, prügelte oder schikanierte er niemanden grundlos.
So unterschiedlich sie doch beide waren, so wetteiferten sie doch schon seit zwei Jahren mit äußerstem Ehrgeiz um die Beförderung zum Primus Pilus, dem „Ersten Speer“, dem Dienstposten des rangältesten Centurios einer Legion. Nur einer von ihnen würde schließlich die begehrte Ernennung zum Nachfolger des noch amtierenden Primus Pilus erhalten, doch beide waren der festen, unerschütterlichen Überzeugung, der aussichtsreichste Kandidat für dieses Amt zu sein und ließen keine Gelegenheit aus, den jeweils anderen zu übertrumpfen. Ihre aus dieser Rivalität ständig neu erwachsenden Mut- und Kraftproben waren unter den Soldaten längst Legende.
Mit einer unheilsschwangeren Vorahnung hob Lucius den Würfelbecher an und biss sich auf die Lippen, als er das Ergebnis sah. Zwei Dreien. Eine weniger, als er gebraucht hätte. Er zerquetschte einen frustrierten Fluch.
Titus hingegen warf mit unverhohlener Schadenfreude den Kopf zurück und lachte meckernd, so heftig, dass ihm Tröpfchen von Wein und Speichel aus dem Mundwinkel flogen, bevor er nach dem Häufchen von Kupfermünzen griff, aus dem der Spieleinsatz bestanden hatte.
„Tja, Jungchen, so wie’s aussieht, musst du...“
Er hielt inne, die Finger halb um das Geld geschlossen, und blickte mit plötzlich schmal gewordenen Augen an Lucius vorbei zur Brustwehr des nahen Lagerwalls, reckte den Unterkiefer vor und zog scharf die Luft durch die Nase wie ein witterndes Tier. „Ärger!“
Lucius’ Kopf fuhr herum auf der Suche nach dem, was Titus so plötzlich alarmiert haben mochte. Er kannte diesen misstrauischen Blick zur Genüge und hatte durch lange, bittere Erfahrung gelernt, dass Titus’ scharfes Auge für Details und seine Vorahnung in Bezug auf anstehende Schwierigkeiten ihn äußerst selten einmal trogen.
Und dann fiel es ihm selber auf und traf ihn wie einen Schlag in den Magen: am vorderen Lagertor waren mehrere wacheschiebende Legionäre zusammengeeilt und unterhielten sich in immer stärker steigender Lautstärke, wobei einige von ihnen hektisch auf einen Punkt außerhalb des Lagers deutete, andere sich suchend umblickten.
„Irgendwas ist dort draußen los. Flavius ist mit einer Gruppe am Fluss, Wasser holen!“
„Vergiss ihn, er ist tot.“ Titus sprang mit einer schnellen, fließenden Bewegung auf die Füße und griff nach seinem Schwertgürtel. Lucius beeilte sich, es ihm gleichzutun. Eine Sekunde lang dachte er sehnsüchtig an sein Kettenhemd und seinen Helm, die beide im Inneren des Zeltes lagen, verwarf dann aber den Gedanken sofort wieder. Jetzt war größte Eile geboten, und die Zeit, seine Rüstung anzulegen, hatte er nicht. Stattdessen gürtete er sich seinerseits hastig mit dem wie stets in Griffweite bereitliegenden Gladius, bevor er nach dem an einem der äußeren Zeltpfosten gelehnten Scutum griff. Während er noch mit fliegenden Fingern damit beschäftigt war, den schützenden Bezug aus derbem Leder herunter zu ziehen, der die bemalte und mit Messing beschlagene Vorderseite des Schildes schützte, ertönte von der Brustwehr her bereits das misstönende Schnarren einer mit zuviel Kraft geblasenen Trompete und der Warnruf „Ecce Barbares!“, der seine Befürchtungen bestätigte. Die Götter durch zusammengebissene Zähne verfluchend, zerrte er mit schmerzenden Fingern an dem widerspenstigen Leder, bis es sich endlich löste, dann riss er seinen mit der Speerspitze voran in den Boden gerammten Pilum an sich. Mit einem raschen Schulterblick und nicht geringer Befriedigung stellte er fest, dass er Titus um eine Sekunde geschlagen hatte, verkniff sich aber jeglichen Kommentar. Jetzt war weder die Zeit für Scherze noch für Spielchen.
Schulter an Schulter erreichten sie im Laufschritt das Lagertor, vor dem sich mittlerweile ein ungeordneter, wild gestikulierender und durcheinanderrufender Haufen von mehr oder weniger gerüsteten und bewaffneten Legionären drängelte. Lucius blickte über ihre Schultern und Köpfe hinweg auf die grasbewachsene freie Fläche, die zwischen dem Lagerwall und einem kleinen Wäldchen lag, das wiederum den Blick auf den nahen Fluss versperrte.
Vom Waldrand her kommend rannten mehrere römische Trossknechte offensichtlich um ihr Leben auf die Sicherheit des Feldlagers zu, während hinter ihnen drei oder vier verzweifelte Legionäre versuchten, sich halbwegs geordnet und kämpfend vor einer ihnen mindestens zehnfach überlegenen Zahl von gallischen Stammeskriegern zurückzuziehen. Pfeile und Speere hagelten auf die Soldaten hernieder. Die meisten Geschosse gingen fehl, einige prallten von den breiten Scutums ab, und dennoch biss sich Lucius auf die Lippen, als er einen seiner Kameraden fallen sah. Innerhalb eines Herzschlags hatten die rasch vorrückende Horde den gefallenen Mann eingeholt, und dann hoben und senkten sich die blitzenden Schwerter und Speerspitzen. Der Todesschrei des Legionärs ging im Triumphgeheul des rasenden Mobs unter. Die überlebenden Legionäre schlossen mit grimmiger Verbitterung ihre Reihe enger zusammen und ließen sich weiter stetig zurückfallen, in die Reichweite ihrer Gladii wagten die Gallier sich vorerst nicht. Dafür schickten sich mehrere ihrer Bogenschützen an, seitlich an den Soldaten vorbei vorzustürmen . Statt jedoch nun ihre Pfeile an den geschlossenen Schilden vorbei in die Seiten und Beine der Männer zu schießen und sie so zu Fall zu bringen, stürmten sie weiter vor in Schussweite des Walls und begannen, die Soldaten auf der Brustwehr und den Türmen mit Pfeilen einzudecken.
Die gallische Infanterie, fiel ihm auf, ließ die flüchtenden Legionäre ebenfalls größtenteils unbehelligt.
Das war merkwürdig. Die ungerüsteten Gallier mit ihren leichten, aus lederbespanntem Holz bestehenden Schilden hätte die mit Stahl gegürteten und behelmten Legionäre leicht überholen und umzingeln können, zumal diese offensichtlich entschlossen waren, durch ihren kämpfenden Rückzug den nahezu wehrlosen Trossknechten zusätzliche Zeit zu erkaufen. Aus irgendeinem Grund taten die Stammeskrieger aber genau das nicht. Statt dessen bedrängten sie die drei Soldaten zwar, machten aber keine Anstalten, sie ernsthaft anzugehen.
Ein Blitzangriff, schoss es ihm durch den Kopf. Sie wollen uns dazu bringen, aus Sorge um unsere Kameraden das Tor nicht zu schließen. Sie hoffen, auf diese Weise ins Lager eindringen, so viel Schaden wie möglich anrichten, ein paar Gefangene machen und sich dann wieder zurückziehen zu können.
„Eine Linie!“ Titus hatte den Plan des Feindes anscheinend auch durchschaut, seine donnernde Stimme holte Lucius zu den Vorgängen in seiner unmittelbaren Umgebung zurück. „Bildet eine Linie und deckt das Tor, ihr faulen Söhne von Sklaven und Huren, ihr trauriger Ersatz für römische Soldaten!“ Mit seinem Knotenstock drosch er wütend auf die ihm am nächsten Stehenden ein, während er sie weiterhin aus nächster Nähe anschrie und mehrere von ihnen in den Tordurchgang schubste. „Ich will eine Linie! Deckt das Tor! Wisst ihr nicht, was eine Linie ist? Erste Reihe, schließt die Schilde zusammen! Wo ist dein Schild, Junge?“ Der Unglückliche bekam einen furchtbaren Hieb über den Nacken, der ihn taumeln ließ. „Hol sofort deinen Schild, du Esel, du nutzloser Sohn eines nubischen Schafscherers!“
Es wirkte. Die eben noch ungeordnet und kopflos herumstehenden Soldaten schlossen sich zu der oft und lange eingeübten, im Gefecht nahezu undurchdringlichen Schlachtlinie zusammen, die Schilde miteinander überlappend, die Speere auf den oberen Rand aufgestützt. Aus der Mitte des Lager näherten sich bereits weitere Legionäre, kampfbereit, voll bewaffnet und gerüstet. Lucius erkannte den Legaten Marcus Verus Selena, ohne Helm und nur mit seiner Tunika bekleidet, aber das Schwert in der Faust, wie er persönlich mehrere auf die Wallkrone kletternde Bogenschützen zur Eile antrieb. Das Geschehen entwickelte sich in rasender Geschwindigkeit zu einem Wettrennen, bei dem römische Disziplin und Ausbildung mit gallischer Wildheit und Gerissenheit wetteiferte. Mehr noch als Mannesmut und Waffenkunst würde der Ausgang dieses Rennens über den Ausgang des Gefechts entscheiden, wenn es in wenigen Augenblicken unweigerlich zum Nahkampf kommen musste.
• * * Fortsetzung folgt