“Mythologie der Worte” Der Erzähler Teil 2
Generalmajor Adamus beugt sich ehrfurchtsvoll dem würdigen Herrscher entgegen. Ein wissendes Lächeln umspielt seine Lippen. Eine Locke seines rabenschwarzen Haares fällt ihm vorlaut in die Stirn. Leise klirrt der feine Offiziersdegen an seiner rechten Seite. Das Licht der Fackeln und Leuchter hier im Thronsaal zaubert kleine, tanzende Sterne auf die
Kettenhemden der königlichen Ehrenwache. Hier und heute an diesem Hofe zu sein, ist dem hohen Offizier ein persönliches Bedürfnis. Zum einen als Bote und Gesandter seines Kaisers, welcher wichtige Nachrichten überbringen lässt. Mit sicherem Griff erfasst der Generalmajor drei Schriftrollen aus seiner Tasche. Erwartungsvoll blickt der König zu seinem Gast. Hehres
Entzücken glänzt freudig in seinen warmen Augen als er die Siegel und Petschaft seines Cousins, des Kaisers, erkennt. „Eure Majestät, ich darf Euch untertänigst diese Schriftstücke überreichen und meiner Hoffnung auf Euer Wohlgefallen aufrichtigen Ausdruck verleihen.“ Mit diesen ehrerbietigen Worten händigt Adamus die wertvollen Dokumente aus. Der versammelte Hofstaat, wie auch die geladenen Gäste verhalten in Anerkennung und Respekt. Andächtige Stille erfüllt den Thronsaal, nur das knistern von Papier ertönt. Der
vermaledeite Hofnarr kann sich allerdings ein leises Räuspern nicht verkneifen, was ihm einige strafende Blicke einbringt. Während der König liest huscht freudiges Gefallen über sein markantes Gesicht, der Inhalt scheint ihrer Majestät mehr als zuzusagen. Weitreichende Handels- und Beistandsabkommen, die nur noch unterschrieben werden müssen um den ewigen Pakt der beiden Reiche zu besiegeln. Eine gewisse
Prägnanz ist weder dem Pakt selbst, als auch der Person des Boten und Unterhändlers nicht abzusprechen. Genießt Adamus doch in seiner Welt einen sehr, sehr guten Ruf. Zum anderen versteht er sich als weiser Freund der an diesem Hofe Lebenden, in deren Herzen sich Adamus schon lange einen Weg geebnet hat. Allerdings ist Generalmajor Adamus oft ein ruheloser Besucher, Gast und Freund. An einen plötzlichen
Abschied seinerseits ist man hier gewohnt, wie auch an vielen anderen Orten. Auch diesmal wird es wieder so geschehen, wie schon so oft zuvor. Nicht nur die leuchtend grauen Augen scheint der tapfere Offizier mit dem vielseitigen Erzähler Britanicus gemeinsam zu haben.
Wir kennen nun einen kleinen Teil seines Geheimnisses, seine Existenz als Gestaltwandler und Zeitreisender. Die Benutzung von Raum/Zeitfalten um schnelle und mystisch anmutende Ortswechsel vornehmen zu können. Aber noch andere geheimnisumwitterte Hilfsmittel stehen dem magischen Wanderer zur Verfügung. In Unwissenheit schweben wir noch ob es einen Auftraggeber gibt, einen Souverän, eine außerirdische Intelligenz oder ob der weise Wanderer selbst die Fäden wirkt, welche sein vielschichtiges Handeln bestimmen.
Friedliche
Abendstimmung liegt über der Mittelmeer Insel. Die Menschen hier sind einfach und bodenständig. Sie gehen ehrlichem Handwerk nach, betreiben den Fischfang und führen Handel. Man spricht
französisch, allerdings mit einem seltsamen Akzent. Die Lingua Corsa verleiht eine anheimelnde Würze. Der malerisch gelegene Ort Saint-Florent bezaubert mit seiner kleinen, verwinkelten Altstadt. Von leuchtend grünen Höhenzügen umfangen schauen die Häuser hinaus auf die Bucht. Im Hintergrund präsentiert sich trotzig der Donjon, der Wohnturm einer einstmaligen Befestigung der Genuesen, aus dem Jahre 1440. Die kleine pianesische Kirche Santa Maria Assunta, aus dem 12ten Jahrhundert, auch Cathredale di Nebbio genannt schaut aus einiger Entfernung auf das emsige Treiben am Hafen. Wir schreiben das Jahr 1911 und im Städtchen leben etwas über siebenhundert Menschen. Die Fischer des Ortes machen ihre Boote bereit zum nächtlichen Fang. Darunter ein nicht mehr ganz so junger Bursche, stämmig und untersetzt von Gestalt, mit wehendem blonden Haar und einem nordisch anmutenden Bart. Er scheint Wikingerblut in seiner Ahnenreihe zu haben. Seine Kleidung ist aus grobem Stoff und festem Leder, zweckmäßig halt. Der lange Dolch an seiner Hüfte zeigt jedem deutlich das er sich zu behaupten weiß. Auch sein Fischkutter ist etwas anders gebaut als hier üblich. Das Boot wirkt bullig und stark. Am Bug blitzt der Name in silbernen Lettern, Hope. Leuchtend graue Augen mustern den Horizont und schauen der langsam im Meer versinkenden Sonne nach. Jean-Luc Bartoc lautet der Name des Mannes und niemand im Ort weiß so genau woher er kommt. Oft ist er lange Zeit weg, in Geschäften unterwegs, so sagt er wenigstens. Aber da er ein hilfsbereiter und liebenswerter Kerl ist stört sich niemand daran. An Jean-Lucs Eigenarten haben die Menschen sich schon lange gewöhnt. Er weiß spannende und nachdenkliche Geschichten zu erzählen welche die einfachen Leute einer
Fessel gleich die Zeit vergessen lässt. Oft lauschen sie bis in den frühen Morgen den Begebenheiten von denen der Monsieur Bartoc berichtet, mythischen Sagen, spannenden Heldengeschichten oder einfach Dinge aus dem Alltag. Nett verpackt und immer ein wenig zum Nachdenken anregend. Jean-Luc wirkt wie ein behutsam lehrender, aber nie aufdringlich werdender Freund. Die Menschen von Saint-Florent mögen ihn sehr und sind betrübt, wenn er nicht unter ihnen weilt. Heute Nacht ist die vorerst letzte Fangfahrt für Jean-Luc, danach wird er einige Zeit weg sein. Verwandte auf dem Festland besuchen, so sagt er. Fremdartig ist allerdings das nie jemand den Fischer Bartoc hat kommen oder gehen sehen. Er ist da oder auch nicht. Schon seltsam und allein daraus resultiert manch kuriose Vermutung der Einheimischen. Der älteste Fischer des Ortes murmelt manchmal leicht wirres Zeug. Etwas von wallenden Nebelbänken welche die, etwas abseits liegende, Kate des Bartoc umhüllen und meist ward er danach auf eine geraume Weile nicht mehr gesehen. In den frühen Morgenstunden des kommenden Tages wird der friedliche Fischer eine weite Reise antreten. Ein fernes, für die Menschen hier, unfassbares Ziel erreichen und dort seiner Aufgabe nachgehen.
Adalbrecht Hohenems ist bekannt für seine hervorragenden
Lindenblüten Mittel. Der knapp fünfundvierzig jährige Apotheker führt seinen Laden nach alter Tradition. Sehr viel seiner Waren stellt er selbst her, einige wenige bezieht er von Kräutersammlerinnen oder aus den Apotheken der Nachbarstädte. Hin und wieder reist er zu Boot oder zu Pferd um seine Besorgungen zu erledigen. Oft ist er dann auch länger fort und eine alte Kräuterfrau kümmert sich um seinen Laden. Tagelang streift er manchmal durch die umliegenden Wälder um die Heilkräfte der Natur zu erforschen. Hohenems weiß sehr viel über das empfindliche Gleichgewicht der Schöpfung, und den Schaden welche unbedarfte Menschen anrichten, denn er ist ein gebildeter Mann. Seit Wochen liegt Dürre über dem Landstrich und das Flüsschen Lahn ist nur noch ein schmaler Streifen Wasser.
Knochentrocken sind die Böden um die Stadt Limburg und man fürchtet um die Ernte. Einige schieben es auf die neuen Herrscher im Lande. Seit zwei Jahren ist Limburg mit seinen circa 2200 Einwohner dem Herzogtum Nassau zugewiesen. Das weitverzweigte Herzogtum unterteilt sich in drei Hauptlinien. Die Stadt Limburg gehört zur Weilburger-Linie. Adalbrecht weiß, im Gegensatz zu den Menschen in Limburg das das Herzogtum 1866 an Preußen fällt und die Nassauer dafür reichlich entschädigt werden. Aber zurück ins Hier und Jetzt. Wir schreiben das Jahr 1808 und niemand ahnt das die ach so kleine Stadt Limburg in neunzehn Jahren, auf Drängen des Herzogs Wilhelm von Nassau zum Bischofssitz wird und die Pfarrkirche sich zur Kathedrale erhebt. Doch halt, einer kennt die Zukunft. Adalbrecht Hohenems, der sich als Apotheker und Heiler in der Bevölkerung einen guten Namen gemacht hat. Niemand weiß so genau woher der Apotheker kommt, er war irgendwann einfach da. Eröffnete sein Geschäft und betätigt sich geschickt als Heilkundiger. Auch kann er bezaubernde Geschichten erzählen und viele kommen nicht nur wegen seiner Heilmittel und Künste in die Apotheke, sondern auch um seiner wohllautenden Stimme zu lauschen. Besonderen Anklang finden die Erzählungen über die Herrscherhäuser, hier und in fremden Landen. Ängstlich machend sind eher die Schilderungen über bevorstehende Kriege und Gräuel. Oft blitzen Adalbrechts grau leuchtende Augen leidenschaftlich, wenn er die Menschen zum Zusammenhalt, zum Miteinander aufruft. Sein wallendes, weißes Haar ist von weither zu erblicken, wenn Adalbrecht gemessenen Schrittes durch die engen Straßen und Gassen Limburgs schreitet. Mit liebevoll, erhabenem Blick betrachtet er seine Menschen, seine Schutzbefohlenen die er mit seinen Geschichten und Taten wohlmeinend zu lenken versucht, In Kenntnis ihrer Schicksale und Taten. Im Wissen um die kommenden Ereignisse und Veränderungen. Niemand hat je das geheime Gelass geschaut, welches sich im hintersten Winkel seines Kellers befindet. Der Zugang liegt sehr unauffällig im dunklen Schatten eines großen Holzregals welches Hunderten von gelehrten Büchern und Schriftrollen eine sorgfältige Heimstatt bietet. Hinter fest verschlossener Tür verbergen sich goldschimmernde Zeitkugeln welche Adalbrecht den distanzlosen Schritt in ein Anderswo ermöglichen. Für Wanderer wie ihn gibt es viel zu tun auf dieser Welt, gab es immer und wird es immer geben. An vielen Orten und in vielen Gestalten treten sie auf und manchmal spiegeln sie uns Menschen eine weitaus größere Anzahl vor. Denn oft ist es nur Einer und ein Fingerzeig der uns den rechen Weg weist. Und auch für Adalbrecht kommt nun der Moment wo er an einem anderen Ort und in anderer Gestalt wirken muss. Ein leises, schwirrendes Geräusch erklingt aus dem Kellergemach und Limburg muss eine Weile ohne seinen Schutzengel auskommen. Adalbrecht Hohenems ist hier so geheimnisvoll verschwunden wie er ganz woanders in Erscheinung treten wird.
Luigi Casserolle, tritt langsamen Schrittes vor das mächtige Portal seiner Kirche. Sein Blick fällt auf den naheliegenden Vesuv. Seine Gemeinde, Terzigno, liegt nicht weit entfernt von dem immer noch aktiven Vulkanberg und oft hört man ein Grummeln oder spürt ein leichtes Zittern des Erdbodens, so als ob der Vulkan rebellieren möchte gegen die mörderischen Gewalten welche die Menschen entfesselt haben. Von
Sommerfrische und Urlaub ist hier nichts zu spüren, die Welt liegt im Krieg und Italien kämpft an der Seite Deutschlands einen fast schon verlorenen Kampf. In wenigen Wochen wird Italien kapitulieren und die ehemals Verbündeten werden sich mit Misstrauen und Feindschaft begegnen. Tausendfacher Tod und unermessliches Leid wird über die Region hereinbrechen. Menschenleben zerstören, so einfach wie ein Bär einen
Ast zerbricht. Verteidigungslinien der deutschen Armee, wie die Volturno-Linie oder der Monte Cassino werden Hektoliter von Blut kosten und Tausenden tapferer Soldaten auf beiden Seiten zum Verderben werden. Man munkelt von einer Invasion seitens der Alliierten und vom Umsturz des Mussolini Regimes. Aber noch ist es nicht soweit. Parteibonzen laufen hektisch durch die Stadt,
Krawatten wie Henkerstricke um die Hälse geschlungen und verbreiten skurrile Durchhalteparolen. Versprengte, Verwundete, Junge und Alte werden als Notreserve an die zu erwartenden Schwerpunkte geworfen. Vorbereitungen des großen Abschlachtens, wenn es wirklich zum Schlimmsten kommt. Derweil frönen fanatische
Vollpfosten ihrer schändlichen
Lustbarkeit, feiern wüste Gelage und Orgien, faseln vom Endsieg.
Der kleinwüchsige, zartgliedrige Prediger hat Tränen in den Augen, das leuchtende Grau, sonst auffällig glitzernd, wirkt verschwommen. Die Soutane klebt verschwitzt an Casserolles Leib und sein dunkles Haar wirkt ungekämmt. Luigis Blick wandert in die Höhe, zu den romanischen Figurenreliefs über dem Portal. Auch sie scheinen betrübt in diese Welt zu schauen. Casserolle ist voller quälender Gedanken. Er möchte seine Gemeinde beschützen, sie vor dem Bösen bewahren und er weiß nicht wie. Die drohenden Urgewalten des nahenden Krieges fordern ihren Preis. Seine segensreichen Worte fallen ihm schwer. Seinen Predigten fehlt der Elan vergangener Jahre und seine Geschichten aus aller Welt drohen zu verstummen. Der sonst so heitere Mann droht zu zerbrechen. Er fühlt sich hier zuhause obwohl niemand in Terzigno seine Wege, seine Herkunft, sein Schicksal kennt. Er selbst könnte sich in Sicherheit bringen, jedem Inferno durch einen Zeitspalt entfliehen. Und das muss, wird er auch tun, weil er anderswo gebraucht wird. An einem anderen Ort, einer anderen Zeit, in einer anderen Gestalt. Aber seine Gemeinde verlassen zu müssen wird ihm seine Seele zerreißen……. Hoffen wir auf die Stimmen der Vernunft welche von einer italienischen Kapitulation reden.
Britanicus, oder wie immer ihr ihn auch nennen mögt, fühlt sich einem hohen ethischen und Moralischen Kodex verpflichtet. Dieser Ehrenkodex bestimmt sein Leben, jetzt, in der Zukunft und in tiefer Vergangenheit…. Seit Jahrhunderten folgt der einsame Wanderer zwischen den Zeiten und Welten diesem Ruf! In vielerlei Gestalt und in allen Zeiten, an tausenden von Orten.
Wir sind wieder am Rhein, in tiefer Vergangenheit. Dort wo diese Geschichte ihren Anfang nahm. Der Kreis schließt sich. Nach wochenlanger Abwesenheit sitzt eine starkwüchsige, bärtige Gestalt mit zauseligem Haar und einer Art Dreispitz auf dem Kopf in sich selbst versunken auf der kniehohen Mauer des Ziehbrunnens. Vor dem seltsamen Mann flackert ein kleines Feuer. An einem dünnen Zweig sind zwei Fische aufgespießt und werden von dem muskulösen Mann sorgfältig
gebraten. Behutsam agieren die riesigen Hände. Einfache Kleidung schützt den Koloss vor der Kühle. Flugs verbreitet sich die frohe Kunde in der kleinen Stadt. Einer ruft es dem anderen zu und im Nu bildet sich eine große Schar von Menschen. Stimmen schallen durch den beginnenden Morgen. „Britanicus ist zurück, der Erzähler ist wieder da.“ Die Bewohner der rheinischen Lande bestürmen ihren Erzähler, fragen ihn wo er war. Doch Britanicus schweigt… noch… und teilt seinen Fisch mit einem kleinen, vielleicht fünfjährigen Jungen. Dann richtet er sich zu voller Größe auf, erhebt seine Menschenfesselnde Stimme und beginnt zu erzählen… und eine Mythologie der Worte nimmt ihren Fortgang!
Atemlos lauschen die Zuhörer der melodischen Stimme die sie alle immer wieder verzaubert und in ihren Bann zieht. Immer noch strömt Volk herbei, mischt sich unter die bereits Anwesenden. Aufhorchend erfahren sie die Erlebnisse von Generalmajor Adamus, dem Fischer Jean-Luc Bartoc, dem Apotheker Adalbrecht Hohenems und dem Prediger Luigi Casserolle. Mannigfache Empfindungen spiegeln sich auf den Gesichtern der Zuhörer, Stunden vergehen wie Minuten und erst in der beginnenden Abenddämmerung hält Britanicus inne. Mit leuchtenden grauen Augen wendet er sich ab, steigt zum Flussufer hinab und in sein kleines Boot. Mit einigen kräftigen Ruderschlägen erreicht er seine kleine Insel. Begrüßt die wilden Schafe und nascht eine Handvoll Brombeeren. Dann verschwindet er in seiner Kate und streckt sich müde auf seiner einfachen Lagerstatt aus. Tiefes Schnarchen ist zu vernehmen und leicht erstaunte Schafe sammeln sich um die Kate.
Und wir, die einfachen Leser dieser hoffentlich ansprechenden Geschichte, kennen wir nun das Geheimnis des Britanicus oder wie immer man ihn rufen mag.
Kamasutra 10.07.2019