“Der Erzähler”
In einer Zeit weit vor unserem Jetzt, einem Zeitalter ohne Telefon, Funkwellen und moderner Kommunikation. Einer historischen Gegenwart wo Botschaften, Nachrichten, Wichtig- und Unwichtigkeiten sowie Neuigkeiten aller Art noch mündlich vermittelt wurden. Oder via gesiegelte Schriftrolle, von eifrigen Boten, eilends und zuverlässig überbracht wurden. In dieser urigen Zeit wo flackernde
Lichter in Gestalt von Feuern,
Kerzenund einfachen Laternen die dunklen Abende und Nächte erhellen, lebt auf einer kleinen Insel inmitten des Rheins ein wahrhaft seltsamer Gesell. Die Wellen des mächtigen Stroms umspülen unablässig die felsigen Ufer des kargen Inselchens. Darauf befinden sich ein paar Dutzend Bäume, borkig und uralt. Eine Handvoll wilder Schafe und ein riesiges Brombeergesträuch. Im Mittelpunkt des kargen Untergrundes erhebt sich eine einzige kleine Hütte. Dort haust der seltsame Mensch, starkwüchsig gebaut, muskulös, bärtig und ausgestattet mit riesigen Händen. Zauseliges Haar umwuchert seinen vierschrötigen Kopf. Ein eisgrauer Bart verdeckt sein Gesicht bis fast an die Augen. Einfache Kleidung umhüllt die massige Gestalt und der Koloss erweckt auf den ersten Blick schleichendes Unbehagen. Eine Art Dreispitz thront auf seinem Kopf, wirft tiefen Schatten über seine Augenpartie. Aber erklingt seine einfühlsame, schmeichelnde Stimme auch nur für eine kurze Spanne, zieht die sanfte Stimmmelodie die Menschen in ihren Bann. Mit zauberhafter Mär aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begeistert der Hüne das Volk. Denn Britanicus, so lautet sein Name, verdient seinen Lebensunterhalt als Erzähler. Misstrauisch beobachtet von den Schergen und Steuereintreibern des Königs, welche gnadenlos jedwede Einnahmequelle des Landes, zum Wohle des Hofes, ausbeuten.
So fesselt und begeistert der so wüst und ungestüm anmutende Britanicus seine geneigten Zuhörer in den Grafschaften, Dörfern und kleinen Städten entlang des mächtigen Stroms. Schenkt Kurzweil und Vergessen des mühseligen Alltags unter der Knute der Mächtigen, gegen eine kleine Gabe oder eine schmackhafte Mahlzeit.
Ob es die wundersame Mär der hochedlen Sternenprinzessin Bre Tsinga ist, welche in einigen Jahrhunderten in eiförmigen, fliegenden Kapseln das unendliche Himmelszelt bereist, den Völkern der Planeten Wissen und Visionen verkündet. Von den Wundern des Firmaments berichtet und den wundersamen Geschöpfen, welche die Sterne bevölkern.
Oder die gruselige Saga von „The Butcher“ welcher im London der 1970er Jahre zahllose Gräueltaten begeht. Seine vorwiegend weiblichen Opfer grausam in dunkelster Nacht ermordet, zerstückelt und die Leichenteile verpackt in
Blister Folie in der ganzen Stadt verteilt.
Auch die berührende Liebes- und Minnegeschichte des wunderschönen Edelfräuleins
Marievon Ehrenfels welche sich unsterblich in einen persischen Prinzen verliebt. Ihrem edlen Auserwählten Makahn, was soviel wie der Weise bedeutet, in seine exotische Heimat folgt. In seinen starken Armen die Erfüllung all ihrer Sehnsüchte findet. Die Anmut des Orients fesselt die erstaunten Zuhörer, die Schilderung des Gebarens der tanzenden Derwische erweckt Faszination und manch Aah und Ooh ertönt lauthals.
Aufmerksam mustert Britanicus die umfangreiche Menschenschar, die ihn im engen Kreis umgibt. Feuerkörbe lodern hell auf und beleuchten die schon lange hereingebrochene Nacht. Auch die heranwehende Nachtkühle hält die Städter nicht vom Lauschen ab. Geisterhafte Schatten umgeben den geheimnisumwitterten Erzähler. Kleine Armbewegungen werden ins Riesenhafte vergrößert, bilden tanzende Schatten vor dem Hintergrund der ärmlich wirkenden Häuserreihe. Noch ist Britanicus nicht am Ende. Sein Vorrat an Geschichten gleicht einem unerschöpflichen Füllhorn und genügt noch für viele Stunden. Notfalls wird er sich flugs noch die ein oder andere Neue ausdenken.
Mit sanfter Stimme hebt der Erzähler an und zieht die aufmerksam, neugierigen Menschen erneut in seinen sonderbaren Bann. Atemlos folgen sie der, für sie fremdartigen Geschichte. Der Schilderung eines kaiserlichen
Dinner und
CocktailAbend am prunkvollen Hofe des russischen Zaren Igor. Die Lüste und Gelüste der russischen Adelshäuser, der hohen Offiziere und Generäle lassen die einfachen Menschen des Rheinlandes ehrfurchtsvoll verharren und der aromatische Duft der fremdländischen Speisen scheint wahrlich verlockend in weit geöffnete Nasen zu ziehen. Aufmerksam mustert Britanicus sein Publikum. Auch heute sind zwei Büttel des Königs da. Gutes Schuhwerk lugt vorwitzig unter schäbigen, verschmutzten Umhängen hervor. Eine kleine Unachtsamkeit die sie dem Britanicus verrät. Dem gewitzten Erzähler ist durchaus sein Nutzen als Land- und Volksbefrieder für das Königshaus bewusst. Sonst wäre er wohl schon längst in einem der dunklen und rattenverseuchten Verliese gelandet.
Knisternd und knackend verglühen die Holzscheite in den Feuerkörben. Britanicus greift zu dem ledernen Trinkschlauch welcher dicht neben ihm am Boden liegt. Ein großer Schluck frischen Rheinweins perlt labend durch seine, vom vielen Reden, trockene Kehle. Benetzt seine Stimmbänder. Mit reiner und klarer Stimme hebt er an zu seiner nächsten Geschichte.
Von Silas, dem englischen Seemann auf des Königs Schiff. Von dem wilden Sturm, der droht Mensch und Schiff zu verschlingen, die kostbare Ladung auf den unendlichen Grund des Meeres zu senden. Von flatternden Segeln zerrissen anschwankenden Masten. Zerborstene Stengen und Rahen, zerstört vom Fauchen des Orkans. Ein heftig schwingendes
Fock- Segel welches mit tödlicher Wucht zwei Seeleute ins tobende Meer wirft. Dem mutigen Silas, welcher unter Missachtung jedweder Gefahr das tobende Segel vom Mast schneidet und somit großes Unheil von seinem Schiff abwendet. Nur dank dieser selbstlosen Tat vermag das beschädigte Schiff dann doch noch einen sicheren Hafen zu erreichen.
Fast zu schnell ist die Nacht vorbei gegangen. Im Rausch der Erzählungen hat niemand auf die Zeit achtgegeben. Nun zeigt sich zaghaftes Morgengrauen am östlichen Firmament und Britanicus sieht seine Zeit gekommen hier einstweilig seinen Abschied zu nehmen. Sicher jedoch wird er in die rheinischen Lande zurückkehren, hat er doch hier eine gute Zuhörer- und Gefolgschaft gewonnen. Als Gestaltwandler und Zeitreisender ist er in vielen Gestalten und Zeitebenen unterwegs. Auch seine Namen und seine Gewandung wechselt, immer den jeweiligen Umständen angepasst. Hier ist er als Britanicus bekannt und die Menschen sind sein oftmals wochenlanges Verschwinden gewohnt. Sein Geheimnis allerdings bleibt im Verborgenen, hier in den rheinischen Gemarkungen wie auch anderswo.
Die letzten Worte des Erzählers erklingen. Gespannte Stille und greifbare Verblüffung hält die Menschen an ihren Plätzen. Plötzlich schiebt sich eine Nebelbank des nahen Flussufers heran, unaufhaltsam nähert sie sich dem Britanicus. Der Erzähler erhebt sich, strafft seinen Körper und schreitet gemessenen Schrittes auf das graue Gewölk zu. Die Menschen weichen ängstlich zur Seite. Die Nebelbank umhüllt den Erzähler in Gänze. Nichts ist mehr von ihm zu sehen. Ein pfloffendes Geräusch ertönt inmitten des geheimnisvollen Wallens. Eine Raum- Zeitfalte entsteht, Britanicus ist fort. Geheimnisschwanger, unheimlich und mystisch, einem Fabelwesen gleich. Nur blanker Lehmboden bleibt zurück.
„
Abflug“ hört man ganz leise, nur für einen sehr Aufmerksamen vernehmbar. Ganz woanders betritt Momente später ein fürstlich gekleideter schlanker Mann, mit rabenschwarzem Haar, einen festlich hergerichteten königlichen Thronsaal. „Generalmajor Adamus, Sire“ ertönt die laute Stimme des Herolds. Höflich lächelnd verneigt sich der hochgewachsene Gast vor seiner Majestät. Nichts erinnert an den Erzähler Britanicus außer vielleicht die Augen. Dieses leuchtende Grau ist wohl sehr selten… Ein Dutzend Schriftrollen ragen naseweis aus seiner ledernen Umhängetasche.
Kamasutra 28.06.2019