Schwarz zu blau
Schwer und süß stieg ihm der Duft der Lindenblüten in die Nase, als er auf die Straße trat, um sich zum vereinbarten Treffpunkt aufzumachen. Der nächtliche Regenschauer hatte keinerlei Abkühlung gebracht und von Sommerfrische konnte keine Rede sein. Die Bäume lechzten nach Wasser und warfen bereits braune Blätter ab. Die Rasenflächen der Parks waren verdorrt, die Blumenrabatte knochentrocken. Es war fast zwölf Uhr mittags, als Andros den belebten Platz in der Fußgängerzone erreichte. Die Außentemperaturen bewegten sich bereits auf die 30 Grad-Marke zu. Andros wischte sich den Schweiß von der Stirn und trat in den Schatten einer Litfaßsäule.
Er sah sie schon von weitem, ihr Gang war unverkennbar. Der Rücken sehr gerade, die Augen hinter einer großen Audrey-Hepburn-Sonnenbrille verborgen, schritt sie über den Platz. Die Bewegungen ihres Körpers waren effizient und genau. Das einzig Weiche an ihrer Erscheinung waren die ungebändigten schwarzen Haare, die spiralförmig ihren Kopf einrahmten und in Kaskaden auf die helle Haut des Dekolletés fielen. Trotz der Hitze trug sie eine schwarze Jeans und eine dunkelblaue Seidenbluse, sehr schlicht und doch feminin. Die schmalen Füße steckten in schwarzen Plateauschuhen, die die schlanken Fesseln betonten. Schwarz zu blau, blau zu schwarz. Ihm fiel auf, dass er sie noch nie in andere Farben gekleidet gesehen hatte. Alice wich nie von ihren Standards ab.
Während sie über auf ihn zusteuerte, ließ sie mit keiner Regung erkennen, dass sie ihn gesehen hatte. Der große Platz war voll mit Menschen an diesem Vormittag, durch die sie sich zielstrebig ihren Weg bahnte. Einige wichen ihr im letzten Moment aus, stoben links und rechts von ihr beiseite wie Tauben. Manche starrten ihr fasziniert und fassungslos hinterher. Sie schenkte diesen Reaktionen keine Beobachtung und verzog keine Miene, während sie unbeirrt weiter schritt. Es schien, als sei sie von einer blauen, undurchdringlichen Aura umgeben, die andere Menschen ausschloss und auf Distanz hielt.
Ein einziges Mal nur hatte Alice ihm einen Blick hinter ihre Fassade gewährt. In Lugano an der französischen Adria, letztes Jahr im August. Das Projekt war nicht nach Plan gelaufen, ein vermaledeiter Einheimischer hatte ihnen die Tour vermasselt. Treffpunkt war ein billiges Hotel am Hafen unterhalb der Altstadt. Eine Notlösung, aber Andros konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Sie trafen sich an der Hotelbar, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Dann, zwischen zwei Drinks tat sich ein Riss auf. Alice verlor zusehends die Contenance. Es war das erste und einzige Mal, dass er sie so aufgewühlt erlebt hatte.
Vielleicht war es nur ein Zufall, dass er zur Stelle war, als sie den eisernen Vorhang ihrer Selbstbeherrschung ein Stück herunterließ. Unter der kühlen Oberfläche lauerte ein Feuer, der ihn zu verbrennen drohte, später, auf den Laken des Hotelbetts in dem kleinen, schäbigen Hotelzimmer, im roten Schein der Nachtischlampe. Doch in dieser Nacht war reines, zärtliches Entzücken zwischen ihnen, eine kostbare Lustbarkeit, geboren aus der Laune der Augenblicks, der sich nicht mehr wiederholen ließ.
Andros tauchte aus seinen Erinnerungen auf und kniff die Augen zusammen. Die Mittagssonne blendete ihn mit gleißendem Licht. Alice war jetzt nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Die Hitze schien ihr nichts anzuhaben, kein Schweißtropfen auf ihrer Alabasterhaut. Der winzige Brillant in ihrem linken Nasenflügel blitzte in der Sonne, als sie ihm das Gesicht zuwandte und die Sonnenbrille abnahm. Obwohl er wusste, was ihn erwartete, traf ihn die Intensität ihres Blickes erneut völlig ungeschützt. Ihre Augen waren wie Röntgenstrahlen, kornblumenblau und punktgenau drangen sie in ihn ein. Entwaffneten ihn von einer Sekunde auf die andere und zielten auf seine wundeste Stelle. Er fühlte sich plötzlich völlig nackt und ausgeliefert, gefangen in einem dunklen Schacht, ohne Aussicht auf Linderung oder Trost.
Seine offensichtliche Schutzlosigkeit quittierte sie mit einem Lächeln und für einen Moment sahen ihre Züge fast weich aus. Sie nickte zufrieden und sagte:
„Es lief alles wie geplant. Den Schlüssel habe ich an der Rezeption abgegeben und die Paparazzi haben den Köder gefressen. Sie sollten jeden Moment im Hotel eintreffen.“
„Wo ist er jetzt?“
„Ich nehme an, er ist noch auf seinem Zimmer. Dort habe ich ihn vor einer Stunde zurückgelassen.“
Andros runzelte die Stirn und sah sie amüsiert an. „Du hast ihn doch vorher losgebunden?“
Ihre Blicke trafen sich. Alicia wirkte fast heiter, während sie sich Zeit ließ mit der Antwort.
„Nein, warum? Sollte ich…? Davon war vorher keine Rede.“
Andros fröstelte ein wenig unter ihrem eisblauen Blick und neigte dann bewundernd den Kopf.
„Respekt! Perfektes Timing. Was bin ich dir schuldig?“
Ihr Blick streifte ihn noch einmal, bevor sie wieder die Sonnenbrille aufsetzte.
„Geht aufs Haus, Andros. Wir beide sind jetzt quitt. Bis zum nächsten Mal, Amigo.“
Sie hob kurz die Hand und ging davon.
Andros starrte ihr hinterher, ihrer sehr geraden Gestalt, die sich nun immer weiter von ihm entfernte. So fern und doch so nah war sie ihm. Er konnte die Distanz zwischen ihnen nicht überwinden, so sehr er es versuchte, und ihre schier undurchdringliche Oberfläche bot soviel Raum für die wildesten Projektionen. Nicht allein ihr Wesen, nein, ihre Unerreichbarkeit schürte seine tiefsten Sehnsüchte.
Doch all das zu begreifen, veränderte noch lange nichts am Status Quo.
Andros drehte sich einmal im Kreis, ganz in Gedanken, und machte sich dann auf den Weg zurück. Ein Windhauch strich über seine erhitzte Haut und durch die Kronen der Linden ging ein Rascheln wie ein leises Versprechen.