das deutsche Fräulein und der Tango
Ich war gerade auf dem Weg zu meiner Großmutter, eine aus vollstem Herzen halbherzig absolvierte Pflicht, als ich auf dem Weg durch das große Treppenhaus die Wohnungstür der Dame, die unter ihr wohnte, offen stehen sah. Unentschlossen stand ich davor und wusste nicht, was ich nun tun sollte, stand besagte Dame doch in dem Ruf, ein wahres Biest zu sein, welches es aufs genussvollste verstand, ihre Mitbewohner entweder mit bissigen Kommentaren oder völliger Ignoranz zu bedenken. Als Kind hatte ich immer Angst vor ihr.
Zaghaft klopfte ich, klopfte ein weiteres Mal mit mehr Elan, doch ich hörte keine Reaktion. "Frau Krause?" rief ich verhalten und schob die Tür ein wenig weiter auf.
Vorsichtig betrat ich die Wohnung, ich fühlte mich aufs Tiefste unwohl, doch etwas in mir ließ es nicht zu, hier einfach die Tür zu schließen und ins obere Stockwerk zu gehen.
Ich schaute in die Küche, den Salon - es war eine durchaus prächtige Wohnung aus der Gründerzeit- und gelangte am Ende des Flurs ins Wohnzimmer. Frau Krause saß auf einem Sessel und blickte mit leerem Augen auf den Kamin, aber sie atmete.
Ich setzte mich neben sie und berührte etwas unwirsch die Hand dieses alten Drachen. Da nahm sie wahr, dass ich mich im Raum befand.
"Ist alles in Ordnung Frau Krause? Die Tür stand offen. Geht es Ihnen gut?"
Ihr Blick schien aus weiter Ferne zu kommen, suchte einen Punkt, den sie fixieren konnte, und plötzlich starrte sie mich an.
"Wer sind Sie?" fragte sie mich und musterte mit zusammengezogenen Augenbrauen mein Gesicht.
Ich erklärte ihr wer ich war, warum ich hier war und während ich versuchte ihr meine Großmutter zu beschreiben, sah ich all die Photos, die um sie herum zerstreut lagen. Ich bückte mich, um sie aufzuheben. Ich wollte sie auf den Tisch legen, als mein Blick von dem Anblick eines tanzendes Paares gefangen wurde, verschlungen in einer graziösen Bewegung. Ein Moment, der eine längst vergangene Ewigkeit ausstrahlte.
Ich war völlig versunken in dieses Photo, als sie plötzlich zu sprechen begann.
" Dieses Bild wurde vor langer Zeit aufgenommen, es waren die dreißiger Jahre, damals, als wir alle zum Tango tanzen ins Esplanade oder ins Los Angeles gingen. Man sprach es ganz vornehm aus, nicht wie die Stadt drüben in Amerika. Das 'dsch' wurde zu einem kehligen 'ch'. Es war die Bar der Engel. Jeden Freitag tanzten wir dort Tango. Manchmal konnten wir nicht gehen, dann, wenn es Bombenalarm gab, aber wenn es irgendwie möglich war, dann bin ich mit Herbert hin.
Der Tango war unser Leben. Er ließ uns vergessen, dass Krieg war, dass Menschen starben. Menschen, die unsere Familie, unsere Freunde waren. Es war dieser Klang in dem diese Sehnsucht lag, der uns das alles für ein paar Momente vergessen ließ.
Es war ein besonderer Abend, der Abend des 24. Juli 1943. Herbert und ich hatten in der Lagerhalle, hinter dem Schlachthof in der Gneisenaustrasse eine neue Schrittfolge geübt. Offiziell brachte ich meine Nichte zu einem Kindergeburtstag, aber Melli, so hieß meine Freundin, hatte es arrangiert, dass wir ungestört üben konnten.
Etwas war anders an diesem Abend, bereits als wir das 'Los Angeles' betraten spürte ich es. Ich hatte den Nachmittag damit verbracht, meine Beine mit irgendetwas ein wenig zu kaschieren, das aussah wie Bräune oder Strümpfe
Weißt du, damals gab es noch keine Bräunungscreme.
Herbert muss auch gespürt haben, dass an diesem Abend etwas anders war, denn seine Bewegungen waren ungeschmeidiger, ja geradezu hölzern wirkte er. Nach einer 'Luna Media' schien er irgendwie zu schleifen.
Nach diesem Tanz habe ich ihn entdeckt. Geschmeidig und stolz wie ein Raubtier kam er auf mich zu.
Er signalisierte, dass er mit mir tanzen wollte. Ich kannte Herberts Eifersucht und zögerte, doch da dieser sich grade im Gespräch mit dem Fräulein an der Bar befand, gab ich ihm meine Hand.
Er war nicht besonders groß und ich trug hohe Schuhe an diesem Abend. Ich glaube man nennt sie heute High Heels.
Er führte mich gleich in der ersten Figur in einen gelaufenen Ocho, der in einre halben Drehung endete. Ich spürte nur den Druck seiner Hand in meinem Rücken, ganz sanft, doch er führte mich mit seinem ganzen Körper und Wissen. Das war der Moment, wo alles schwebte. In der Sanguchito con Traspie, hielt er an und beugte mich leicht nach hinten. Wir tanzten und tanzten, wir konnten nicht mehr aufhören..
Ich war hingerissen, bezaubert von ihm und seinen Bewegungen. Er kam aus einer anderen Welt, der anderen Seite der Erde, aus Argentinien.
Am darauffolgenden Freitag wollte Herbert mich nicht begleiten, er habe Kopfschmerzen und wolle sich auskurieren. Ich besorgte ihm eine Migränetablette und ging alleine.
Immer wieder, so viele Nächte. Manuel schien auf mich warten. Wir tanzten, wir vergaßen."
Während sie erzählte begann ihr Gesicht zu leuchten, es war als zauberte diese Erinnerung einen rosigen Schimmer auf ihr Gesicht. Ich konnte die junge Frau auf dem Photo in ihr wiedererkennen. Vor meinen Augen sah ich sie tanzen, das deutsche Fräulein und der Argentinier. Es war eine Welt in einer Welt, die gerade um sie herum in Schutt und Asche zerfiel. Ihre Geschichte rührte mich und nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass mir dir Zeit davon lief.
"Was ist mit ihm geschehen?" fragte ich
" Eines Tages war er nicht mehr da, ich fragte überall nach ihm. Keiner, selbst die Mitglieder der Band wussten nicht, wohin er gegangen war. Es gab Gerüchte über eine Deportation und es gab Gerüchte, er habe das Land über Casablanca verlassen."
Frau Krauses Blick versank wieder in der Ferne. Ich streichelte ihre Hand.
"Ich möchte sicher sein, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist. Ich werde morgen noch einmal vorbeischauen".
Ich verließ ihre Wohnung.
An diesem Tag hatte ich meine Großmutter vergessen. Ich übersah den Strafzettel an der Scheibe meines Autos und mindestens eine rote Ampel.
Vor meinen Augen sah ich immer noch diese strahlende, glückliche junge Frau in den Armen dieses Argentiniers, tanzend, die Welt vergessend. Ich lächelte...