*******ANE:
*****hca:
Man braucht keinen Sex, um glücklich zu sein...
Das schreiben immer genau diejenigen, die schon Sex hatten.
Ich fühle mich gerade danach, mich zu diesem Punkt einmal genauer zu äußern. Das Zitat im Eingangspost stammt von einem meiner Beiträge und ich stehe nach wie vor dazu, dass ich es ganz unangenehm finde, wenn Menschen einem anderen einreden wollen, sein erstes Mal
muss ganz genau geplant werden, mit einem ganz besonderen Menschen, weil das ja nicht wiederkommt und wenn es schlecht wird, sei der Zug abgefahren.
Da ging es mir aber in erster Linie darum, den irrationalen Druck zu beseitigen, den Menschen sich nicht nur selbst, sondern vor allem anderen machen, wenn es um die fast schon zwangsweise wichtige "Besonderheit" des ersten Sex geht, als stelle das eine unanfechtbare Norm dar, die es zu erfüllen gilt. Das heißt natürlich nicht, dass das erste Mal nichts besonderes sein darf oder für jemanden persönlich etwas besonderes sein soll.
Vor einer Weile habe ich hier einen jungen Mann kennengelernt, der mich dazu gebracht hat, meine Sichtweise bezüglich den in den sozialen Medien sogenannten "Incels" (involuntary celibate) einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Hierbei geht es eben um "unfreiwillig zölibate" Personen - Menschen, die gerne Sex hätten (ob nun das erste Mal oder nicht), aber keinen haben. Bis vor einer Weile neigte ich selbst dazu, mit Ratschlägen a la "Mach dir keinen Stress, Sex ist nicht so wichtig" zu kommen, mit der durchaus guten Absicht, dass Menschen sich deswegen nicht selbst fertigmachen sollten und dabei ein möglicherweise ungesundes Verhältnis zu sich selbst entwickeln, oder genauso schlimm, ein ungesundes Verhältnis zum anderen Geschlecht.
Tatsache blieb aber, dass ich mich bei all den vermeintlich guten Ratschlägen, die ich gab, nie in derselben Situation befand wie Menschen, die sich nach Sex sehnen, aber keinen haben. Es erscheint doch so logisch, dass man jemandes Gefühle umso schwerer nachvollziehen kann, wenn man überhaupt keinen persönlichen Bezug dazu hat, aber gerade diese Denkweise habe ich bis vor wenigen Wochen überhaupt nicht beachtet, sondern meist von einem objektiven Standpunkt, oder von einem persönlichen Standpunkt aus argumentiert. Das ist quasi so, als würe ein Multimillionär - ob erarbeitet oder geerbt - einem Geringverdiener sagen "Geld ist nicht alles, Geld allein macht nicht glücklich."
Es gibt natürlich fachlich korrekte Argumente, wie zum Beispiel, dass sich mehr Frauen als Männer fortpflanzen. Dass Frauen bei ihrer Partnerwahl oftmals zwischen dem "Familienmensch" und dem "Hengst" unterscheiden und, wenn es um reinen Sex geht, eher letzteren wählen (mit aggressiveren Attributen), besonders wenn sie fruchtbar sind. Dass in einer freien Gesellschaft wie der unseren die Partnerwahl oft von der Frau ausgeht (Mann wirbt, Frau wählt). Kurzum: Männer haben es einfach schwerer, einen weiblichen (Sex)Partner zu finden, als umgekehrt.
Und es gab eben persönliche Argumente, die vor allem darin verwurzelt waren, dass ich, bis zu einem Alter von 29 Jahren, nie Interesse an Sex hatte und es mir dementsprechend nie gefehlt hat. Sicher, es gab andere Dinge, die ich in dieser Zeit haben wollte (emotionale Nähe) und nicht bekommen habe, aber dennoch kann ich von meinem persönlichen Standpunkt unmöglich für jemanden argumentieren, der vielleicht seit seiner Teenagerzeit Sex wollte und nie, oder nur sehr selten Sex hatte, während ich bis knapp 30 nie Sex wollte, aber ab dann so gut wie immer Sex bekam, wenn ich ihn wollte.
Ich möchte sogar behaupten, dass dieses Unverständnis von meiner Seite aus dazu geführt hat, dass ich den ein oder anderen (in der Regel männlichen) Mitmenschen harscher behandelt habe, als er es verdient hätte, weil es mir so vorkam, als hätten die "nur Sex im Kopf". Wobei man ja durchaus sagen kann, dass es bei Menschen, die unfreiwillig zölibat sind, unterschiedliche Entwicklungen aufgrund ihrer Situation gibt. Die hässlichste ist wohl das dazugehörende Subreddit mit dem Stichwort "Incels", wo sich vorwiegend Männer einem beunruhigenden Frauenhass hingeben, weil sie der Meinung sind, die Welt schulde ihnen eine schöne Frau und Sex, und dass Frauen Spaß daran haben, ihnen Sex zu "verweigern".
Das hat in jüngster Zeit auch dazu geführt, dass auf Männer, die über fehlenden Sex in ihrem Leben sprechen, aufgrund irrationaler Generalisierung verbal ziemlich eingedroschen wurde und da sich diese gruppendynamische Sichtweise irgendwann auch auf meine Argumentation oder meinen Umgang mit mir bekannten Personen ausgewirkt hat (und ich das ab einem gewissen Punkt richtig ekelhaft von mir fand), habe ich mich in den letzten Wochen ein wenig mehr damit auseinandergesetzt und möchte seitdem keine vermeintlich guten Ratschläge mehr geben, die das Problem an sich kleinreden, nur weil ich es nie hatte, oder weil ich es bereits überwunden habe.
Ich denke auch, dass Zeit und Frequenz negativer Erfahrungen einen Riesenunterschied machen. Es liegen zum Beispiel Welten zwischen einem Individuum (A), das über einen kurzen Zeitraum ein paar negative Erfahrungen mit Frauen gemacht und von ihnen abgewiesen wurde, und einem Individuum (B), das über einen langen Zeitraum und in hoher Frequenz immer wieder von Frauen abgewiesen wurde. Ganz zu schweigen davon, wie diese Erfahrungen vonstatten gegangen sind (freundliche Ablehnung, oder unfreundliche Ablehnung) und wie ein Individuum diese Erfahrungen persönlich aufnimmt (zB welche Gründe es dafür sieht). Nicht jeder geht locker flockig mit Ablehnung um.
Die meisten von uns mussten sich nie mit einer Situation auseinandersetzen, in der sie zum Beispiel länger als ein paar Wochen oder Monate keinen intimeren Kontakt mit anderen Menschen hatten. Und da geht es nicht nur um Sex, sondern auch um emotionale Nähe, Freundschaften, Berührungen. Die allerwenigsten mussten das ein Jahrzehnt aushalten, oder sogar länger. Mangelnde Empathie kommt daher fast immer von Menschen, die dieses Problem niemals hatten, oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Menschen, die anders - vielleicht besser - damit umgehen können, oder das Problem irgendwann beseitigt haben. Auch ich habe eine zeitlang zu diesen Menschen gehört, die mangelnde Empathie zeigten, weil sie dieses Problem einfach nie hatten. Ich habe ja leicht reden. Erst nie Sex wollen und dann, als ich Sex wollte, ihn problemlos bekommen und das nicht nur täglich, sondern auch gleichzeitig von verschiedenen Sexpartnern.
Der Grad an Einsamkeit ist für die meisten nur schwer verständlich. Denn - ohne alle über einen Kamm scheren zu wollen - zeigen sich doch hin und wieder auftretende charakterliche Muster, zum Beispiel Schüchternheit, Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle, und es gibt eben auch Menschen, die nicht nur keinen Sex haben, sondern gleichzeitig allgemein wenig menschlichen Kontakt, und die sich nicht einfach nur nach "ficken" sehnen, sondern vor allem nach sozialen Konstanten.
Natürlich kann man sagen "Sex allein ist nicht alles", genauso wie "Geld allein ist nicht alles". Aber wie beim Geld geht auch Sex mit anderen Faktoren einher, die man mindestens genauso, oft sogar noch
mehr will.
Menschlicher Kontakt, das Spüren von Haut und Atem eines anderen Menschen, das Gefühl, angenommen zu werden, begehrt zu werden, gemocht zu werden, vielleicht sogar geliebt zu werden, sich verletzlich machen, was gleichzeitig bedeutet, Vertrauen zu schenken und auch zu erhalten, Gedanken zu teilen, Emotionen zu teilen, Sicherheit spüren, gemeinsam lachen, berühren...
Sex führt zwar nicht in jedem Fall zu Intimität und Nähe, ist aber durchaus ein Teil davon und wer bitte kann nicht verstehen, dass Menschen sich danach sehnen? Wir sind eine hochsoziale Spezies, es ist völlig normal, sich nach menschlicher Nähe zu sehnen. Diese nicht zu bekommen, weil man immer wieder abgelehnt wird und das vielleicht sogar noch über einen sehr, sehr langen Zeitraum... Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, ich habe so etwas nie erlebt.
Ich bin introvertiert und bin gerne mal allein, aber nicht jeder Mensch ist introvertiert und gerne allein und selbst ich brauche meine wenigen, sozialen Konstanten in meinem Leben. Und ich habe in den letzten Monaten sehr intensiv erfahren, wie es ist, Sex zu haben und dabei gleichzeitig emotionale Nähe zu empfangen, sowohl von Lebenspartnern, als auch von "Sexpartnern". Nichtmal lieben muss man jemanden, um zu erspüren, wie emotional befriedigend Sex sein kann. Und es macht mich persönlich traurig, wenn ich mir Menschen vorstelle, die jemand anderem so nahe sein wollen, aber es nicht können.
Es gibt einige Wege, zu helfen, aber nicht jeder davon erscheint mir tatsächlich konstruktiv und produktiv. Wenn man einfach mal den Gedanken zulässt, dass Menschen unter diesem ganzen zusammenhängenden Konstrukt aus fehlendem Sex, fehlender Nähe, fehlender Liebe, wirklich
leiden können, ergeben sich mehrere Möglichkeiten, ganz besonders, wenn so ein Mensch die Eier in der Hose hat, andere Menschen um Hilfe zu fragen und sich möglicherweise selbst zu verbessern.
Mal angenommen, dieser Mensch erhält ernsthaft positive Reaktionen von anderen, die ihn beraten oder unterstützen, zum Beispiel auch ganz simpel mit "Ich war ebenfalls mal in deiner Situation, hier ist, was ich getan habe, um das zu ändern", oder "Es tut mir leid, dass du das durchmachen musst, ich weiß, wie sich das anfühlen muss", oder einfach nur "Danke, dass du dich öffnest". Einfach nur ein wenig Anerkennung, Aufrichtigkeit und guter Wille. Hier ist es viel wahrscheinlicher, dass dieser Mensch sich aufgrund der Grundstimmung mit einigen Leuten der Community anfreunden kann, vielleicht sogar festellt, dass einige gar nicht so weit weg von ihm leben. Es besteht die Chance, jemanden kennenzulernen und zu treffen (nicht zwangsläufig für Sex, sondern einfach so) und die eigene soziale Situation ein wenig zu verbessern, sich besser zu fühlen, selbstbewusster und glücklicher zu werden. Das heißt jetzt natürlich nicht, dass daraus irgendwann eine Märchen-Romanze mit happily ever after entsteht, aber man kann auch nicht leugnen, dass sozialer Kontakt auf der Basis von Gemeinsamkeiten das Leben sehr bereichern kann. Daher glaube ich auch, dass es fast immer am leichtesten ist, Frauen (oder Männer) über gemeinsame Interessen oder Aktivitäten kennenzulernen. Sei das jetzt ein MMORPG, ein Verein, Feiern, Foren, etc. Etwas mit Regelmäßigkeit, wo man auch wahrgenommen wird.
Es könnte für diesen Menschen aber auch ganz anders laufen, nämlich dann, wenn seine Suche nach Hilfe und das Problem, das ihn beschäftigt, kleingeredet wird, als seien seine Gefühle nicht valide und seine Einstellung infantil. Dazu muss man jemanden nichtmal beleidigen oder sich über ihn lustig machen. Es reicht schon ein "Whatever", wie im Sinne von "Sex ist nicht so wichtig".
Die Chancen stehen hoch, dass dieser Mensch seine Versuche entweder völlig aufgibt, mutlos und unglücklich wird, oder sich im blödesten Fall an andere Menschen wendet, bei denen seine enttäuschten Gefühle in negative Gefühle bis hin zu Hass umgeformt werden. Und davon hat dann wirklich niemand mehr was.
Die Quintessenz ist am Ende: Emotionen sind individuell subjektiv und jeder macht eigene Erfahrungen. Probleme, die wir nie hatten, oder die wir in verhältnismäßig kurzer Zeit erfolgreich lösen konnten, werden wir wohl nie auf dieselbe Weise wahrnehmen können wie jemand, der sich damit sehr lange und sehr erfolglos rumschlagen muss und immer wieder scheitert.
Es hilft nicht, das Problem kleinzureden, wenn es jemanden persönlich sehr, sehr unglücklich macht, nur weil es mich selbst (aktuell) nicht unglücklich macht.