Bernt Spiegel und ich
Komisch, daß ich diesen thread erst jetzt entdecke ...
Ich bin totaler Bernt-Spiegel-Fan, und habe die "obere Hälfte" bestimmt 15 mal durchgeackert - es ist ein Buch, daß eben auch "erfahren" werden will. Vieles, was dort steht, sieht man anders, wenn man einiges, was dort empfohlen wird, ausprobiert und trainert hat - am Ende sogar halbwegs beherrscht.
Das Buch ist nicht für jederman geeignet, muß ich leider zugeben. Es hat wissenschaftlichen Anspruch, und wer es nicht gewohnt ist, wissenschaftliche Literatur zu lesen, wird sich mitunter sehr schwer tun. Es setzt auch eine gewisse Vorbildung voraus. Wer meint, daß "Systemtheorie" irgendwas mit Computer zu tun hat und sowas ähnliches ist wie "Systemadministrator", der wird möglicherweise wenig Freude an dem Buch haben.
Als ideale Ergänzung möchte ich hier noch "Der richtige Dreh I, II" von Keith Code empfehlen, einem Superbike-Trainer. Es ist ganz anders geschrieben als das Buch von Spiegel, rein aus der Praxis des racings. Es mußt daher auch manchmal etwas "gegen den Strich" gelesen werden, um diejenigen Elemente herauszufiltern, die nicht nur auf der Rennstrecke von nutzen sind. Codes Manual ist insbesondere wegen der ausführlichen Beschreibung der Blicktechnik sehr interessant. Bei Spiegel kommt sie etwas zu kurz, wie ich finde.
Als ich begonnen habe, mit "Spiegels Buch im Tankrucksack" zu trainieren, und mit auch schön brav die Klebezettelchen auf die Prallplatte geklebt habe, und dafür von denen, die Spiegel für "zu theoretisch" halten, verlacht worden bin, habe ich auch einen Trainingspartner oder eine Trainingsgruppe arg vermisst und mir online in einem halben dutzend Foren die Fingernägel rissig getippert, um "Gleichgesinnte" zu finden - erfolglos. Es war wie immer: entweder wohnten die wenigen interessierten in Rostock oder in Konstanz - hauptsache 500 km weit weg !
Es geht auch alleine, und es ist sogar recht sinnvoll, die praktischen Übungen auf der Landstrasse alleine zu absolvieren. Man kann "seinen Stiefel" fahren, braucht auf Mitfahrer keine Rücksicht zu nehmen, wenn man etwa Schalt- und Bremsübungen machen will, die auf einer gemeinsamen Tour doch ziemlich "schräg" wirken würden ...
Heute kann ich wohl sagen: es gibt keinen "Praxistip" von Spiegel, keinen Übungsvorschlag, den zumindest auszuprobieren nicht lohneswert wäre.
Was mir indessen schwer gefallen ist - und das ist mein zweiter Punkt der Kritik an Spiegel - ist die Sache mit dem Knie, die dort, wie ich meine, sehr umständlich und didaktisch etwas unglücklich behandelt wird. Da ist Harry Niemanns "Kniff mit dem Knie" schon besser. Aber das sind Kleinigkeiten.
Das wesentliche, was ich von Spiegel mitgenommen habe, meine aktuelle Haltung zu Spiegel in ein paar kurzen, dürren Thesen zusammengefasst:
1) Ständig mit Lernintention fahren: üben - üben - üben, ständig den "Fehlerzähler" benutzen ! Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um ! "Ich mach zu Anfang jeder Saison ein Fahrsicherheitstraining ! Ist echt gut, bringt echt was, solltest Du auch mal machen, statt Bücher lesen !" - lächerlich ! Wer mit Bernt Spiegel fährt, macht jeden Tag, bei jeder Ausfahrt sein tagtägliches "Fahrsicherheitstraining" und noch ein paar Sachen extra !
2) Blicktechnik lernen ! Man kann um sehr viele blinde Kurven "drumherumgucken", Strasse und Landschaft lesen, ja sogar ohne zu schielen in 2 verschiedene Richtungen gucken ! Das kann man lernen und trainieren ! (Steht allerdings bei Keith Code und nicht im Spiegel) Wenn Du die Kurve voll im Blick hast, gib Gummi ! Wenn Du gut drauf bist "gib alles !" Wenn sie blind bleibt, fahr lieber im 1. Gang herum, als blind im Tiefflug inne Kurve ! Es könnte Deine letzte sein !
3) Wer nur langsam fahren kann, lebt gefährlich. Gut und sicher Motorrad fahren kann man nur, wenn man schnell fahren und reagieren kann. Von Null auf Hundert in 4 Sekunden kann man nicht nur zum Kralle-Machen nutzen, sondern auch als Sicherheitsmaßnahme einsetzen - nach vorne fliehen ! Ach ja ... von Hundert auf Null sollte es übrigens auch nicht viel länger dauern !
4) Richtig sitzen lernen ! Die meisten sitzen falsch, haben endlose Wehwechen in Fingern, Händen, Rücken, Arsch, Hüfte, Knie ... verbasteln volkswirtschaftlich erwünscht Millionen an Zubehörteilen: Lenkererhöhungen und Tieferlegungen, Sitzbankfrickeleien usw - nur um ihre falsche Sitzhaltung etwas länger durchhalten zu können. Es nützt nichts: der Orthopäde ist ihnen sicher !
5) Richtiges Motorradfahren ist Tanzen mit Maschine und Strasse - mit vollem Körpereinsatz. Wer nur wie ein Sack Kartoffeln auf der Sitzbank hängt, wird weder die rote Laterne los, noch seine fahrerischen Defizite: Reinlegen in die Kurve, Innenknie ausklappen, das Moped unter sich durch ziehen, schwingen - tanzen eben ! Das muß man lernen, das geht nicht von heute auf morgen, und es sieht am Anfang furchtbar "eckig" aus, als ob man mit den racern mitspielen will und das Bein nicht hochkriegt. Scheiss drauf, da mußt Du durch !
6) "Hypothesenbildung" und "Gefahrenantizipation" - stets auf den schlimmstmöglichen Fall vorbreitet sein, der auf der Strasse vor einem eintreten könne: worst case thinking: aus jeder Einfahrt kommt ein spielendes Kind herausgeschoßen, jede Tür eines parkenden Autos öffnet sich, und hinter der blinden Kurve quält sich eine Waldmaschine mit 5 Kiefern im Schlepp auf die Strasse ! Wer so fährt, fährt und bremst um all diese Gefahrenlagen, wenn sie denn eintreten, mit unnachahmlicher Eleganz drum herum, bleibt oben, stürzt nicht, verunfallt nicht.
7) Fuck for stuipids - keine Macht den Doofen ! Wer immer Dir was von "aus dem Bauch heraus fahren" vorlabert - vergiss ihn, und vergiß, was er labert. Er hat keine Ahnung. Man fährt nicht "aus dem Bauch" heraus, wie man auch nicht "aus dem Bauch heraus" vögelt: man fährt und vögelt aus subcortalen Hirnschichten. Aber das weiss kaum jemand. Lass sie reden, mach Dein Ding mit "dem Professor", und in der übernächsten Saison lässt Du die "aus dem Bauch heraus" - Fahrer Deine Abgase schlucken !
"Der Flow" - ein herrliches Gefühl, auf dem Moped, wie auf einem 25-jährigen Bi-Boy ! Aber in beiden Fällen darf man sich nicht von ihm aus der Kurve tragen lassen. Den Flow "zuzulassen", ihn zu nutzen, aber sich nicht von ihm beherrschen zu lassen, ihn zu kontrollieren - das ist ein ungeheuer spannendes, mentales Arbeiten an sich selbst.
9) Fahr alleine oder mit guten Leuten, schnellen Truppen, wenn Du soweit bist ! Scheiß auf zusammengestoppelte Gruppen mit Choppern, Cruisern, Royal Enfields, Retro-Triumphs und Zahnwälten auf der 12er GS mit der F650 der hinterherfahrenden Ehefrau im 100% StVO-Tempo. Das ist eine andere Liga und das wird nix mit Dir ! Das wird eine einzige Quälerei für jeden, der sich wirklich aufs Motorradfahren einlassen will, nicht nur rumgurken, sondern wirklich fahren will. Wenn Du aus sozialen Gründen sone Scheisse mitmachen willst - vergiss fahren und Landschaft: eine solche Tour ist für Dich nur: Unfallvermeidung, sonst nix. Und fahr entweder vorne oder ganz hinten ! Da isses noch am wenigsten gefährlich !
Auch nicht jede schnelle Truppe ist eine gute schnelle Truppe. Es gibt auch schnelle Truppen die aus enthirnten Heizern bestehen - trau, schau, wem ?! Im Zweifel: Aussteigen, alleine Fahren !
10) Wenn Du Motorrad fährst, mach nichts anderes ! Keine Mucke, kein handy, kein Nachdenken über irgendwas - nur Fahren, Fahren, Fahren !
Gruß
Nacktzeiger