Geistertstunde
Die beiden letzten Träume waren für mich derartig intensiv und eindrücklich, dass ich schier darüber schreiben musste. Der Anlass bzw. der Rahmen dafür waren mal wieder die wöchentlichen 8 Reizwörter des Geschichten-Spiels der Kurzgeschichtengruppe. Lisella saß vor ihrer angestaubten Frisierkommode und betrachtete sich im Spiegel. Sie hielt die Farbtafel ihrer Großmutter in den Händen und streckte dabei die Arme so weit wie möglich von sich fort. Auch wenn sie ahnte, dass sie gar keine Affenarme hatte. Sie suchte mit ihren Augen die Kommode ab, in der Hoffnung, auf ihr einen Ort für die Tafel zu finden, um diese dort ablegen zu können. Denn mit jeder weiteren Sekunde und Minute, in der sie die Tafel in ihrer immer größer werdenden Abneigung von sich weghielt, desto schwerer und schwerer wurden ihre Arme. Doch die Ablagefläche der Frisierkommode war so vollgeräumt, dass sich ihr gar keine Chance darbot, die zunehmende Last in ihren Händen vorerst loszuwerden.
Lisella stöhnte laut auf, wenn sie daran dachte, was für einen Kaffeeklatsch sie sich demnächst von ihren verstorbenen Ahnen anhören musste, wenn es ihr nicht gelang, sich der ihr aufgebürdeten Pflicht zu entledigen, eine Verbindung zu dieser, ihrer, Albtraumwelt herzustellen. Denn das war schließlich ihre von der Großmutter vererbten Aufgabe. Sie war das Medium und die Vermittlerin ihrer Ahnen und deren Anliegen an die Heute-Welt.
Lisella hielt die Farbtafel weiterhin soweit wie möglich von sich auf Abstand. Doch ihre Augen wurden mit der Zeit willenlos und deren Blick irgendwann frontal von dem zweigeteilten Objekt gnadenlos angezogen. Links war es Weiß angemalt und rechts Schwarz.
„Links die blütenweiße Weste des himmlischen Paradieses auf Erden und Rechts die abgründige Finsternis der menschengemachten Hölle in den Untiefen einer verletzten Seele“, dachte Liserella und schüttelte ihren Kopf
„Wie im Himmel, so auf Erden …“, murmelte sie.
Ihre Augen begannen automatisch zu zwinkern. Plötzlich visierte sie wie in Trance die linke Seite der Farbtafel an und tauchte mit ihren Gedankenströmen tief ins Weiß der Augäpfel ihrer Ahnen hinab. Für ein paar Minuten erstarrte sie und ihr Blick, während sie leise vor sich hin gluckste und kicherte.
Das Weiß der linken Tafelhälfte wurde heller und heller, begann zu pulsieren, überstrahlte bald den ganzen nächtlichen Raum ihres Schlafzimmers und hüllten Lisella komplett ein. Schließlich erblickte sie von Angesicht zu Angesicht ihre längst verstorbenen Ahnen von anno dazumal. Sie wandelten alle in weißen Gewändern im Garten von Lisellas Großmutter umher, plauderten mit den Vögeln, hörten der Natur zu, wie sie wuchs und gedieh und spielten Schach. Partie um Partie bis hin zur alljährlichen Ernte der Früchte des Daseins dieser Welt
Die Äpfel der Bäume auf der Fallobstwiese raunten schließlich Lisella zu, sie solle sie doch endlich pflücken und unter den Holunderbüschen im Vorgarten der Großmutter ablegen. Doch Lisella war dazu nicht bereit. Stattdessen stibitzte sie sich einen besonders rotbäckigen Gesellen von dem unmittelbar neben ihr stehenden jungen Sprössling seiner Gattung und biss verstohlen in ihn hinein. Denn sie hatte unmittelbar vor diesem Augenblick einen gewissen Hunger verspürt gehabt.
Doch daran konnte Lisella sich schon nicht mehr erinnern. Denn sie erwachte schlagartig in ihrem Bett. Es war irgendeine Novembernacht. Viele, viele Jahrzehnte später. Das jedenfalls glaubte sie. Und die Frisierkommode war nun einem mit blattgoldenen Ornamenten verzierten Standspiegel gewichen, dessen Spiegelfläche aus schwarzem Obsidian gefertigt war. Die Farbtafel jedoch fand sie unter ihrem Kopfkissen wieder. Noch immer war diese in eine Schwarze und eine Weiße Hälfte unterteilt und hielt nun ihren Blick mit der Aura der schwarzen Tönung gefangen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fand sich Lisella vor dem reich verzierten Spiegel aus Obsidian wieder und betrachtete darin ihren Schatten. Dieser hockte in der hintersten Ecke der Spiegelfläche und hielt sich seine Schattenohren zu. Denn Lisella war wie erstarrt, hörte sie doch urplötzlich all das stöhnende Leid ihrer Ahnen und der ganzen Welt. Und nicht nur das. Es überrollte sie auch gefühlsmäßig und schnürte sie toxisch - wie ein um die Welt reisendes, mit Ketten fest verzurrtes Paket - ein.
Lisella wusste nicht, wie ihr geschah, als sie sich plötzlich auf dem Hochseil einer längst verblassten, gräulichen Jahrmarktsszenerie wiederfand. Sie balancierte sich mühevoll aus und bewegte sich ruckartig über die Köpfe von Unmengen an polternd stöhnenden Schattengeistern hinweg. Diese bildeten die dunkle Masse eines brodelnden Vulkans, der kurz vor seinem Ausbruch stand, weil sich schon lange niemand mehr das Klagelied der Poltergeister in ihrem Schattendasein angehört hatte. Doch nun spürten die unergründlichen Untiefen der verletzten Seelen Lisellas Nähe und drohten sie in ihrer selbstgemachten Hölle fast gänzlich zu absorbieren.
Lisella geriet ins Schwanken und spürte das nahe Debakel ihres Scheiterns, wusste sie doch um ihr eigenes Schattendasein sehr wohl Bescheid. Das ungeliebte etwas in ihr, dass sie oft schon in ihrer Verzweiflung als ihren Dämon bezeichnet hatte. Das Etwas, dass um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit rang, wenn sie dem ungewissen Alltag ihres Lebens oft parieren musste, damit sie nicht unterging.
Jetzt hielt sich auch Lisella selbst ihre Ohren zu, denn die Schatten der Ahnen stöhnten ihr umso vulgärer ins Mark und Bein, je mehr sie ihre wankelmütige Standhaftigkeit spürten. Sie bewarfen Lisella nun auch noch von unten mit veilchenblauen Vergissmeinnichten sowie buschigen Holler-Huschen und brennenden Fackeln, die sie in ihren emporgereckten Fäusten hielten. Und niemand war da, der sich schützend vor Lisella stellte, um sie mit Charisma zu verteidigen.
Nur ihr eigenes Schattenich nahm sie schlussendlich bei der Hand und zog sie aus der Schussbahn der anderen Poltergeister, um ihr stumm zuzuflüstern: „Hab sie alle lieb. Sie sind deiner würdig. Denn sie sind Teil deiner und unserer Ahnengeschichte. Nur wenn du ihnen, einem nach dem anderen, ihre eingeforderte Aufmerksamkeit schenkst, werden sie dich in Ruhe lassen und ganz allmählich befriedet sein vom Schattendasein ihres Selbst, dem eigenen Leid und dem dieser Welt.“
Dann erwachte Lisella schlagartig von ihrem eigenen Stöhnen, dass laut in ihren Ohren nachhallte. Es war gerade mal zwei Uhr in der Frühe des Martinstages. Noch am Vorabend hatte sie dem Lampionumzug der Familien aus der Nachbarschaft zugeschaut.
Sie fror, als sie eine alte, vergessene Keramikfliese ihrer längst verstorbenen Großmutter unter ihrem Kopfkissen entdeckte. Und sie klapperte mit den Zähnen, als sie das Nachtlicht wieder anzündete und bemerkte, dass die eine Hälfte der Fliese weiß war und die andere Hälfte schwarz.
© CRSK, 11/2023
Die wohlformulierten 8 Reizworte dieser Woche
Lisella stöhnte laut auf, wenn sie daran dachte, was für einen Kaffeeklatsch sie sich demnächst von ihren verstorbenen Ahnen anhören musste, wenn es ihr nicht gelang, sich der ihr aufgebürdeten Pflicht zu entledigen, eine Verbindung zu dieser, ihrer, Albtraumwelt herzustellen. Denn das war schließlich ihre von der Großmutter vererbten Aufgabe. Sie war das Medium und die Vermittlerin ihrer Ahnen und deren Anliegen an die Heute-Welt.
Lisella hielt die Farbtafel weiterhin soweit wie möglich von sich auf Abstand. Doch ihre Augen wurden mit der Zeit willenlos und deren Blick irgendwann frontal von dem zweigeteilten Objekt gnadenlos angezogen. Links war es Weiß angemalt und rechts Schwarz.
„Links die blütenweiße Weste des himmlischen Paradieses auf Erden und Rechts die abgründige Finsternis der menschengemachten Hölle in den Untiefen einer verletzten Seele“, dachte Liserella und schüttelte ihren Kopf
„Wie im Himmel, so auf Erden …“, murmelte sie.
Ihre Augen begannen automatisch zu zwinkern. Plötzlich visierte sie wie in Trance die linke Seite der Farbtafel an und tauchte mit ihren Gedankenströmen tief ins Weiß der Augäpfel ihrer Ahnen hinab. Für ein paar Minuten erstarrte sie und ihr Blick, während sie leise vor sich hin gluckste und kicherte.
Das Weiß der linken Tafelhälfte wurde heller und heller, begann zu pulsieren, überstrahlte bald den ganzen nächtlichen Raum ihres Schlafzimmers und hüllten Lisella komplett ein. Schließlich erblickte sie von Angesicht zu Angesicht ihre längst verstorbenen Ahnen von anno dazumal. Sie wandelten alle in weißen Gewändern im Garten von Lisellas Großmutter umher, plauderten mit den Vögeln, hörten der Natur zu, wie sie wuchs und gedieh und spielten Schach. Partie um Partie bis hin zur alljährlichen Ernte der Früchte des Daseins dieser Welt
Die Äpfel der Bäume auf der Fallobstwiese raunten schließlich Lisella zu, sie solle sie doch endlich pflücken und unter den Holunderbüschen im Vorgarten der Großmutter ablegen. Doch Lisella war dazu nicht bereit. Stattdessen stibitzte sie sich einen besonders rotbäckigen Gesellen von dem unmittelbar neben ihr stehenden jungen Sprössling seiner Gattung und biss verstohlen in ihn hinein. Denn sie hatte unmittelbar vor diesem Augenblick einen gewissen Hunger verspürt gehabt.
Doch daran konnte Lisella sich schon nicht mehr erinnern. Denn sie erwachte schlagartig in ihrem Bett. Es war irgendeine Novembernacht. Viele, viele Jahrzehnte später. Das jedenfalls glaubte sie. Und die Frisierkommode war nun einem mit blattgoldenen Ornamenten verzierten Standspiegel gewichen, dessen Spiegelfläche aus schwarzem Obsidian gefertigt war. Die Farbtafel jedoch fand sie unter ihrem Kopfkissen wieder. Noch immer war diese in eine Schwarze und eine Weiße Hälfte unterteilt und hielt nun ihren Blick mit der Aura der schwarzen Tönung gefangen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fand sich Lisella vor dem reich verzierten Spiegel aus Obsidian wieder und betrachtete darin ihren Schatten. Dieser hockte in der hintersten Ecke der Spiegelfläche und hielt sich seine Schattenohren zu. Denn Lisella war wie erstarrt, hörte sie doch urplötzlich all das stöhnende Leid ihrer Ahnen und der ganzen Welt. Und nicht nur das. Es überrollte sie auch gefühlsmäßig und schnürte sie toxisch - wie ein um die Welt reisendes, mit Ketten fest verzurrtes Paket - ein.
Lisella wusste nicht, wie ihr geschah, als sie sich plötzlich auf dem Hochseil einer längst verblassten, gräulichen Jahrmarktsszenerie wiederfand. Sie balancierte sich mühevoll aus und bewegte sich ruckartig über die Köpfe von Unmengen an polternd stöhnenden Schattengeistern hinweg. Diese bildeten die dunkle Masse eines brodelnden Vulkans, der kurz vor seinem Ausbruch stand, weil sich schon lange niemand mehr das Klagelied der Poltergeister in ihrem Schattendasein angehört hatte. Doch nun spürten die unergründlichen Untiefen der verletzten Seelen Lisellas Nähe und drohten sie in ihrer selbstgemachten Hölle fast gänzlich zu absorbieren.
Lisella geriet ins Schwanken und spürte das nahe Debakel ihres Scheiterns, wusste sie doch um ihr eigenes Schattendasein sehr wohl Bescheid. Das ungeliebte etwas in ihr, dass sie oft schon in ihrer Verzweiflung als ihren Dämon bezeichnet hatte. Das Etwas, dass um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit rang, wenn sie dem ungewissen Alltag ihres Lebens oft parieren musste, damit sie nicht unterging.
Jetzt hielt sich auch Lisella selbst ihre Ohren zu, denn die Schatten der Ahnen stöhnten ihr umso vulgärer ins Mark und Bein, je mehr sie ihre wankelmütige Standhaftigkeit spürten. Sie bewarfen Lisella nun auch noch von unten mit veilchenblauen Vergissmeinnichten sowie buschigen Holler-Huschen und brennenden Fackeln, die sie in ihren emporgereckten Fäusten hielten. Und niemand war da, der sich schützend vor Lisella stellte, um sie mit Charisma zu verteidigen.
Nur ihr eigenes Schattenich nahm sie schlussendlich bei der Hand und zog sie aus der Schussbahn der anderen Poltergeister, um ihr stumm zuzuflüstern: „Hab sie alle lieb. Sie sind deiner würdig. Denn sie sind Teil deiner und unserer Ahnengeschichte. Nur wenn du ihnen, einem nach dem anderen, ihre eingeforderte Aufmerksamkeit schenkst, werden sie dich in Ruhe lassen und ganz allmählich befriedet sein vom Schattendasein ihres Selbst, dem eigenen Leid und dem dieser Welt.“
Dann erwachte Lisella schlagartig von ihrem eigenen Stöhnen, dass laut in ihren Ohren nachhallte. Es war gerade mal zwei Uhr in der Frühe des Martinstages. Noch am Vorabend hatte sie dem Lampionumzug der Familien aus der Nachbarschaft zugeschaut.
Sie fror, als sie eine alte, vergessene Keramikfliese ihrer längst verstorbenen Großmutter unter ihrem Kopfkissen entdeckte. Und sie klapperte mit den Zähnen, als sie das Nachtlicht wieder anzündete und bemerkte, dass die eine Hälfte der Fliese weiß war und die andere Hälfte schwarz.
© CRSK, 11/2023
Die wohlformulierten 8 Reizworte dieser Woche
- • Charisma
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- • Debakel
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