Weihnachten allein zu Haus
Bist Du heute auch alleine zu Hause? Welche Gedanken plagen Dich? Aktuell plagen mich sehr die Gedanken an meine Eltern.
Soll ich meinem Vater diese Kurzgeschichte senden? Würde er verstehen, dass ich ihn verstehe? Oder würde er das als Aufforderung zum Suizid nehmen?
Der alte Mann packt seinen Rucksack. Sein Rücken ist gebeugt, die Knie muss er zur Bewegung zwingen. Aber diesen einen Aufstieg will er noch vollbringen.
Eigentlich wollte er nur leichtes Gepäck mitnehmen. Am Ende wird er nichts mehr davon brauchen. Sein seelisches Gepäck wiegt schwer, belastet jeden Schritt.
Es gibt für ihn keine Hoffnung, nur diese eine Absicht:
Er will den Berg bezwingen. Dieses eine, letzte Mal, wird er nun doch noch selbst bestimmt tun, was zu tun ist.
Mit jedem Schritt Richtung Berg wird sein Zorn größer. Was musste er sich alles anhören in seinem Leben? Was haben die anderen sich nur herausgenommen, ihn immer wieder so anzugreifen?
Für ihn ist kein Platz mehr in dieser Welt. Und nein, er will auch nicht mehr. Es war alles umsonst. Er kann nicht vergessen. Und Vergeben erst recht nicht.
Es gibt für ihn keine Zukunft. Nur diesen Weg den Berg hinauf. Um dem Ganzen dann beim Absturz ein Ende zu setzen.
Was wiegen schon die schönen Erinnerungen? Das war nur Schein und Trug. Es ging immer am Wesentlichen vorbei. Es waren kleine Auszeiten, Illusionen. Es ändert nichts daran, dass alle ihn verachten.
Schritt für Schritt setzt er seinen Weg zum Gipfel fort. Atmen, den eigenen Schrittrhythmus finden, kleine Pause machen. Weiter, weiter. Bald ist es geschafft. Er freut sich schon auf die Steilkante, den letzten Flug.
Zweifel haben keinen Platz. „Wenn ich nicht mehr da bin, seid ihr alle froh.“ wiederholt sich das Mantra in seinem Kopf. „Ihr habt mich nie verstanden“ kommentieren seine Schritte.
Er hat wenig und doch so viel Gepäck dabei. Sieht im Aufstieg den Matsch seiner Familie, versucht, im Geröll seines Lebens einen sicheren Tritt zu finden, findet kaum reinen, unschuldigen Schnee. Weder bei sich noch denen, die sein Leben begleitet haben. Sie haben ihm alle nur weh getan. Es ist genug! Unverzeihlich!
In der Weite des Berghangs fühlt er sich weniger einsam. Er spürt noch einmal seine Kraft, erinnert sich an das, was er in seinem Leben wollte. Was sein Wesenskern ist. Eigentlich wäre doch alles in Ordnung: Er ist ein guter Mensch, aber keiner wollte das sehen?
Von Weitem blökt eine Bergziege. Sie meckert.
„Auch Du verstehst mich nicht, klagst mich an?
Blöde Ziege! Dann mach ich es halt!“
Er hat den Gipfel erreicht. Darunter die Steilkante. Den Rucksack hat er abgelegt. Seinen Kummer nicht.
Die Sonne geht in Wolken unter. „Es hätte alles anders laufen müssen.“
Er setzt einen Schritt nahe an die Kante. Zögert.
„Ich will leben,“ schallt sein Echo von den Wänden der Bergwände. Und: „Mein Leben lang habe ich gearbeitet, mich bemüht, mein Bestes gegeben. Warum macht ihr mein Leben kaputt?“
Von den Berghängen schallt es: „Kaputt, kaputt, kaputt … „
Der alte Mann geht einen Schritt zurück, packt seinen Rucksack und macht sich an den Abstieg. „Kaputt, kaputt, kaputt“ wiederholen seine Schritte. Er hat Durst. Lebensdurst. Trotz allem. Die Wasserflasche ist leer. Er hat es nicht geschafft. Muss jetzt alles wieder ertragen.
„Die anderen sind schuld!“ erwidert sein Kopf auf seine Schritte. „Ich nicht. Alle haben mich falsch verstanden.“
Mit dem Abstieg schwindet die Bereitschaft, es anders zu sehen. Die anderen wollen ihn nur kritisieren. Er darf nicht so sein, wie er ist. Das Ganze ist unverzeihlich.
Schuld sind die anderen. Er kann ihnen nicht mehr trauen. Dieses Spiel von Friede, Freude, Eierkuchen macht er nicht mehr mit. Und ihre Einmischung auch nicht.
Der alte Mann beschließt, seine Gedanken zukünftig nicht mehr zu öffnen. Er wird niemanden mehr an sich heran lassen. Was er denkt, ist nur folgerichtig, davon ist er überzeugt. Wer daran kratzen will, ist unweigerlich ein Gegner. Der Berg hat ihm erzählt, dass er Recht hat. Er braucht keine Argumente mehr. Es ist alles gesagt. Er ist alt genug, um seine Schlussfolgerungen zu ziehen.
Er wird den Berg wieder besteigen. Und eines Tage endgültig hinab fliegen. Das ist sicher.