Adventsgeschichten
Zürich. Es ist Dezember, drei Uhr dreiunddreissig am Morgen, es ist der erste Advent. José, 38, mit Gemütsbauch und Bärtchen, sitzt in seinem Taxi. Er wartet. Und während Rihanna im Radio das Weihnachtsfest ohne ihren Liebsten bewimmert, erinnert sich José an sein letztes Mal «Haut an Haut» mit Marie.«I can hear the music playing, See the lights upon the tree, I can feel the joy in every soul, But for me its incomplete, And I try my best to play the part, But no matter what I do, No it just don’t feel like Christmas, without you.»
Mit Rihanna kann José nichts anfangen. Die würde ja auch nichts mit ihm anfangen, denkt er. Aber das ist José egal. Er denkt sowieso nur an Marie.
Seine Marie, die er vor mehr als sieben Jahren am Limmatquai hat einsteigen lassen in sein Leben. Es war eine seiner ersten Taxi-Fahrten. Marie, also Mariechen, stand abends so da, mit einem langen, blauen Kleid. Sie rauchte Mary Long und weinte. Weil aus dem Freund plötzlich ein Feind geworden war, sogar mit Flüchen, mit Fäusten. Also hat José sie mitgenommen. Und da sie selbst nicht wusste, wohin mit sich, fuhr er sie kurzerhand zu sich nach Hause. Da ist sie dann geblieben, bis vergangene Weihnacht.
Wenn er an sie denkt, riecht er sie noch immer.
Sie roch ganz furchtbar gut, am allerbesten hinter den Ohren. Da roch es nach Maiglöckchen, das ganze Jahr durch. Gäbe es ein Duftbäumchen davon, José würde es sich sofort ins Taxi hängen. Als Ablenkung von dem, was jetzt von den Rücksitzen nach vorne und in Josés Nase dringt: eine Mischung aus teurem Aftershave, abgestandenem Zigarettenrauch und zwei, drei Tropfen Trostlosigkeit. Gut durchmischt mit Testosteron. Der Mann zu dieser Mischung heisst Mark. So hat er sich vorgestellt.
Mark kommt gerade von einem Weihnachtsessen mit seinem Geschäft. Er hat von da auch was mitgenommen: Sofie. Die Praktikantin in der Kommunikationsbude, wie José erfährt. Und die beiden wollen noch in einen Club, «weil die Nacht doch noch jung sei und yolo». - «Yolo?», fragt José. «You only live once», erklärt Sofie. Man lebe nur einmal. Jedenfalls erzählen sie dem Taxifahrer unaufgefordert Anekdoten vom Abend. Mark reitet dabei die seltsame Vorstellung, dass gerade Trauriges witzig sein kann: «Der Chef-Chef, müssen Sie wissen, der hatte am Schluss ganz schön einen sitzen. Und dann hat der doch prompt dem Martin, also dem Buchhaltungs-Martin, gesagt, dass er doch so gut im Rechnen sei. Und dass er doch schon mal einkalkulieren soll, so fürs neue Jahr, keinen Job mehr zu haben. Weil er allen dermassen auf den Sack gehe.« Sofie findet das Traurige nicht lustig: «Es ist grausam, jemandem so kurz vor den Feiertagen mit der Kündigung zu drohen.»
José betrachtet Sofie im Rückspiegel und findet, sie sieht jetzt aus wie ein Engel.
Ein Engel, der schützend seine Flügel ausbreitet über diesem Martin. Mark stört sich am Gefieder. Er hätte mit der Praktikantin gerne etwas ums Höllenfeuer getanzt. Aber die redet jetzt weiter von Weihnachten und dass es beim Fest doch genau darum gehe, denen die Hand zu reichen und Liebe zu zeigen, mit denen wir es schwer finden, gut auszukommen. «Herrgott, zitierst du jetzt etwa aus der Bibel?», spottet Mark. Er verdreht die Augen. Dann aber nimmt er das Wort Liebe selber in den Mund, kaut darauf rum und formt eine Blase: «Liebe also. Davon hab ich eine ganze Menge in mir. Wenn du willst, teile ich sie heute mit dir.»
Als die beiden schliesslich aussteigen, ist die Blase zerplatzt. Tanzen gehen sie trotzdem. Weil «yolo» und so. Aber noch zanken sie sich auf der Strasse.
Und José fährt weiter. Er denkt wieder an Marie und daran, wie das Ende ihrer Beziehung begonnen hatte...
Der zweite Teil unserer Adventsgeschichte folgt am nächsten Sonntag, dem zweiten Advent.