Liebesroman oder Poly- und SM-Ratgeber?
Rezension: Sam Wiggla - "Mehrliebe":
Der gekonnt emontionale und detailliert ausschnückende Schreibstil gefällt mir, auch wenn mivh anfangs die langen Listen sexueller Vorlieben eher verstören. Wer dranbleibt, wird belohnt: Genial finde ich, wie der Autor die Träume und die gedanklichen Wirrungen des Hauptdarstellers aufzeigt: Die Lust auf fremde Haut und die Mauer aus Eifersucht.
Dann die Scheidung, die Trennungspartnerschaft und die Angst, sich einmal mehr zu öffnen, ausgeschmückt in einer bildhaften Sprache, die den Leser mit auf die Reise der Visionssuche nimmt. Die ersten Dates zu Dritt und zu Viert führen mir meine eigenen Wunschträume und Berührungsängste vor Augen.
Gratulation an den Autor für die Geilheit der Sexszenen und die Feinfühligkeit der Gespräche, auch wenn es mir angangs zu beliebig zugeht. Schade, denn diese Phase halte ich für die kritischste beim Öffnen einer Beziehung. So oder so ein Lehrstück für Menschen, die eine offene Beziehung führen möchten.
Dann verliebt sich eine Frau in den Hauptdarsteller und entpuppt sich als besitzergreifende Dramaqueen, stellt die Hauptbeziehung auf die Probe und führt mir die Herausforderungen der Polyamorie vor Augen. Welche Rachepläne sie wohl schmiedet? Ob es der Leser erfährt?
Interessant wird es, als die neue Kollegen ins Spiel kommt und den Hauptdarsteller nach allen Regeln der Kunst vernascht. Was ihm dann nach einem Gespräch unter Männern widerfährt, finde ich dramaturgisch übertrieben. Doch es ist ja ein Buch, welches den sexuellen Horizont erweitern soll.
Die Ereignisse in New York sind mir persönlich viel zu heftig. Ist es Fiktion? Oder gar autobiographisch? So macht mich die anschließende Szene im "Himmel" schon eher an. Dann wird es allerdings ungemütlich in der BSDM-Hölle ... Hier zeigt sich, wozu wahre Liebe, aber auch Eifersucht in der Lage sind.
In meinen Augen ist dies nicht nur ein Buch über Mehrliebe, sondern auch über Wünsche und Sehnsüchte, benutzen und Gefügig machen, Missbrauch und Hörigkeit. In diesem Buch wird jedenfalls deutlich, dass es unterschiedliche Motivationen gibt, BDSM auszuleben.
Vielleicht ist dieses Buch gerade deshalb lesenswert bzw. geradezu Pflichtlektüre für polyamor interessierte Menschen und erlebnishungrige BDSM-Neulinge, damit Frau oder Mann sich zweimal überlegen kann, sich auf einen Dom oder eine Femdom einzulassen ...
Vielleicht verhindert dieses Buch die ein oder andere Hörigkeit oder auch nur das völlige ausgeliefert sein ohne Einvernehmlichkeit. Vielleicht hätte es mir vor Jahrzehnten sogar die übelste Erfahrung meines Lebens erspart, wenn ich gewusst hätte, wie weit BDSM gehen kann.
Unterm Strich kein Roman zum hintereinander weg lesen, sondern einer, den man reflektiert, als Paar am besten gemeinsam. Ob mir diese Utopie Hoffnung macht? Vielleicht dann, wenn sie zusammen mit weiteren Büchern dieser Art Pflichtlektüre für Paarberater wird.
Der Autor führt mir meine eigenen Wünsche und Ängste vor Augen. Es gibt in diesem Buch Szenen, die finde ich gut - und dann kippt meine Gefühlswelt ins Gegenteil um. So sind eine Menge Außeinandersetzung mit der eigenen Sexualität und viele (Paar-)Gespräche notwendig, um das Ganze zu verarbeiten.
Letztlich lässt mich das Buch schwer beeindruckt zurück und hat mich unterwegs auf ungeheuerliche Gefühlsachterbahnen mitgenommen.