Dann wage ich mal den Anfang
Basti, rationale Ehe hört sich für mich komisch an. Habt Ihr aus rationalen Gründen miteinander Sex gehabt, aus rationalen Gründen nicht verhütet und aus rationalen Gründen Schwangerschaften, Geburten, Säuglingspflege und Kindererziehung auf Euch genommen? - Ähm, eher nicht. Oder?
Dem Bild von Polyamorie liegt ein(er von vielen) Gedanken zugrunde, das ein Mensch nicht alle Bedürfnisse befriedigen kann, dies aber zwangsweise gefordert wird, wenn man sich in die klassische Ehe und Familiengründung begibt. AMEFI - alles mit einem für immer. Das klappt nicht, oder zumindest meistens nicht. Weil aber alle Erwartungen in genau diese Beziehung mit genau diesem einen Menschen gelegt werden, kann diese Beziehung nicht funktionieren. Enttäuschung, Entfremdung, dann noch der vielschichtige Funktionswechsel im Übergang zu Vater und Mutter und dazu Liebhaber und Liebende - da kommt dann oft der Wunsch:
[...]wir konnten immer dem Alltag entfliehen und Energie tanken...
Eben viele, so auch ich, sind da an Grenzen unserer Beziehungsmuster geraten. Muss das so sein? Muss eine Liebesbeziehung immer alles bringen, und tut sie das nicht, muss ich sie wechseln und mir den nächsten Partner suchen, mit dem ich wieder alles probiere? In den ich wieder alle Wünsche nach Erfüllung lege?
Liebe kann vorbei sein, die Zeit miteinander ausgelebt. Kann, muss aber nicht. Vielleicht lohnt sich ein Blick in die Beziehung, Gespräche miteinander, Offenheit zueinander auch gerade in den Dingen, in denen man enttäuscht ist und sich etwas ganz anderes gewünscht hat. Eine Liebesbeziehung muss sich nicht darin äußern, das man ständig und immerzu Lust auf den anderen verspürt. Tiefe Freundschaft - ja wieso nicht Liebe wagen? Wie gesagt, ich will nicht über Eure Gefühle werten oder gar urteilen darüber, was an welcher Liebe noch da ist. Nur aus meiner Erfahrung sprechen: es lohnt, miteinander in Beziehung, in Gespräche, zum Beispiel Zwiegespräche zu gehen, um, so komisch wie das klingen mag, die Nähe zum Anderen wiederzufinden.
...Sie stelle nun fest das ich immer mehr Anteile in ihrem Herzen gewinne und dadurch ihren Ehemann verdränge
Ich wage einen verallgemeinerten Satz: Liebe wird nicht weniger, wenn man mehrere liebt, sie teilt sich nicht auf, sie ist nicht begrenzt. Zeit ist begrenzt, und ja Aufmerksamkeit. Ich habe die Erfahrung gemacht, das es keine Anteile im Herzen gibt, die automatisch andere verdrängen. Ich glaube, das ist einer der Voreinstellungen, die uns so unglaublich konditionieren und ganz viel Lebendigkeit verhindern und verbieten: Du kannst nur einen Menschen lieben, und Du musst Dich entscheiden. Liebst Du einen, dann musst Du andere ausschliessen. Sonst geht das nicht.
Und genau das versuchen wir: eben nicht auszuschliessen. Eben nicht in die Entscheidung zu kommen, wen ich jetzt mehr liebe und wen ich deswegen verlassen muss. Sondern offen zu schauen, was wo fliesst und schwingt, was lebbar ist, wo man miteinander richtig ist, und nicht zuletzt auch: wo ich Verantwortung trage, zum Beispiel meinen Kindern gegenüber.
Deswegen - und nur deswegen; null Bibel oder Parteibuch oder sonstwie Legitimierungsprüfung zur Zugehörigkeit der Erleuchteten des polyamoren Auserwähltenkreises - deswegen macht es soviel Sinn, miteinander offen zu sein; sich mitzuteilen, so schwer das auch zu Anfang sein mag. Wir können uns nur dann verstehen, wenn wir uns mitteilen, und interessanterweise lernen wir uns selbst in dieser Offenheit dem Partner gegenüber auch noch einmal anders kennen. Es schafft Nähe und holt die der (enttäuschten) Beziehung zugrundeliegenden ganz schlichten und puren Liebesgefühle hervor; ich kann den anderen nämlich wieder sehen, wieder wahrnehmen. Einfach ihn, ohne alles an Drumherum und Positionen und Rollen und Überlagerungen undundund. Und, so ist meine Erfahrung, und aus vielen Gesprächen mit Freunden habe ich das bestätigt gefunden: nur damit können wir überhaupt einen sinnvollen Weg finden, den man miteinander oder getrennt voneinander gehen kann. Erst jenseits von Voreinstellungen und Gedankenmustern können wir uns und dem anderen begegnen, und daraus etwas entstehen lassen, das lebendig ist, Sinn macht und uns nährt.
Ich lese gerade in einem Buch und habe da einen wunderschönen Satz gefunden. Sinngemäß: je mehr wir uns zu verändern versuchen, desto mehr verhindern wir diese Veränderung. Je mehr wir uns erlauben, voll und ganz zu erfahren, wer wir sind, desto größer die Möglichkeit einer Veränderung. Erlauben heisst auch, sich nicht unter der Voreinstellung von Ehe- und Beziehungsverständnis zu verstecken, und heisst auch, meinem Gegenüber zu erlauben, sich zu zeigen und seine Gefühle, Wünsche und Gedanken anzuhören und in sich einzulassen.
Wenn Deine Entscheidung schon fest steht, das Du Dich trennen möchtest, dann sind das natürlich unnötige Worte. Wenn Deine "Zweitliebe" sich genauso wie beschrieben entweder für Dich oder ihren Mann "rational" entscheiden möchte, auch. Es git aber eben auch die Möglichkeit, sich nicht für sich allein zu entscheiden, sondern zunächst mal in die Begegnung zu gehen und den Partner in diesen Prozess überhaupt mit einzubeziehen.
Ich glaube nullundnicht daran, das Liebe einfach weg ist. Nach meiner Erfahrung ist sie zugedeckt von eben diesen beschriebenen Entwicklungen in einer Beziehung. Will man den anderen suchen unter dieser Schicht, sollte man ihn rufen und fragen, wo er ist. Nur fragen und nicht sagen, das er doch bitte da und da zu sein hat, wo man ihn eben gut erreichen kann. Ist wirklich spannend und lebendig, so eine Suche.
Wie gesagt, willst Du nicht suchen, kannst Du es natürlich auch lassen. Samy habe ich so verstanden, das er die Gefahr sieht, schnell wieder in dieselbe Prozedur zu geraten, um wieder eine Schicht zwischen einander zu erleben - und wieder entfliehen und Energie tanken musst.
Ich kenne das und will das nicht mehr.