Begegnungen - der Kuss
Sie sahen sich an. Über Meter hinweg trafen sich ihre Blicke. Glitten an der wabernden Masse von Menschen vorbei und blieben aneinander haften; ineinander versinkend. Liebkosten sich. Wie zwei Seelen, die sich nach langer Zeit wiedergefunden hatten. Die Welt erbebte kurz, bevor sie stehen blieb. Er lächelte. Eine Augenbraue spöttisch in die Höhe gezogen, während ihr Mund ein wenig geöffnet war. Ihre Lippen schienen ihn einzuladen, noch bevor sie sich überhaupt nahe gekommen waren. Langsam bewegten sie sich aufeinander zu, magisch angezogen, bis sie vor einander standen. Sich immer noch wortlos ansehend. Ihre Gesichter waren sich so nahe, dass sie sich fast berührten. Sie konnte seinen Geruch wahrnehmen. Ein herber, männlicher Duft voller Sinnlichkeit. Nun lächelte auch sie. Ein kleines, vertrauensvolles Lächeln, welches in ihren Mundwinkeln begann und in ihren Augen endete.
„Hallo“, sagte er leise. Ein warmer Hauch an ihrem Ohr. „Hey", flüstert sie ebenso leise zurück. Plötzlich schüchtern. Sie spürte immer noch seinen Atem an ihrem Ohr. Seine Hand umfasste die ihre. Hielt ihre Fingerspitzen einen Moment, bevor er sie an seine Lippen führte. Und immer noch blickte er sie unverwandt an. Ihr Kopf war wie leergefegt. Keines klaren Gedankens fähig, stand sie wie paralysiert dort vor ihm. Dicht an dicht. Nur Zentimeter Luft dazwischen. Elektrisch aufgeladen. Verlangen stieg in ihr auf. Eine warme Welle, die sie umschloss. Die sie zu übermannen drohte. "Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an Deine rührt?!" schoss ihr eine Gedichtzeile blitzartig durch den Kopf. Sie trat einen Schritt zurück. Entzog ihm ihre Hand. Bemüht, den Strom zu unterbrechen. Die Kontrolle wieder zu erlangen. „Was war nur los?! Sie kannte ihn doch gar nicht!“ Er registrierte Ihre kleine Veränderung und sein Lächeln wurde eine Spur breiter.
„Wollen wir etwas trinken?“ fragte er und gab ihr damit Gelegenheit, sich wieder zu sammeln. Ganz Herr der Lage. „Gerne“, antwortete sie. Ihre Stimme klang heiser. Rau. „Verdammt noch mal, reiß Dich zusammen!“ schalt sie sich. Doch schon während sie ihm folgte, seine Hand die ihre umschloss, fühlte sie sich willenlos. Hypnotisiert. Als hätte sie sich verloren, folgte sie ihm traumwandlerisch. Es gab nur ihn und sie; nur sie und ihn.
Er hielt an einem Stand, orderte zwei Glühwein. Kleine Schneeflocken tanzten in der Luft, landeten auf ihren Gesichtern, schmolzen und blieben wie Tränen haften. Sie wischte sie beiseite und nahm den Becher, den er ihr hinhielt. Wärmte ihre Hände daran. Wieder blickte sie zu ihm auf. Sie hätte ihn gerne berührt, an ihm gerochen, ihn geküsst. Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, stellte er den Becher beiseite. Nur wenige Millimeter trennten sie voneinander. Sie konnte seine Wärme fühlen. Seine Finger, die sich leicht auf ihre Lippen legten. Sacht darüber hinweg strichen, den Konturen folgend, sie umkreisten. Sie erschauerte. Aus großen, dunklen Augen blickte sie ihn an. Ihre Lippen öffneten sich. Sie wusste nicht, wann sie jemals ein solches Verlangen verspürt hatte. Dann beugte er sich vor. Wie ein Windhauch berührten seine Lippen die ihren. Streichelten sie zärtlich. Sie spürte den Atem an ihrem Mund. Bot ihm ihre Lippen dar. Einladend. Weich. Warm. Wachs in seinen Händen. Eine Hand legte sich in ihren Nacken. Zog sie näher. Alles Verlangen lag in diesem einen Kuss. Eine ganze Seele. Eine ganze Welt. Ihre Welt.
"Wie soll ich meine Seele halten....", flüsterte sie verloren.