Unheilvolle Gedanken
Manchmal sollte man auf sein Bauchgefühl hören und nicht denken, dass die Vernunft, die Erfahrung, die Bildung einem weiterhilft, egal wie stolz man auf sein erworbenes Wissen ist.
Auf der Arbeit mag es ja ganz hilfreich, sogar unvermeidlich sein. Aber hier, beim Ausflug am Ostersonntag, zu dem Hanna sich hatte überreden lassen, war sie mal wieder das schwarze Schaf, als ihr erster Beitrag zu den allgemeinen Gesprächen und Witzen in geselliger Runde darin bestand, ein Spiel vor zu schlagen, ein Wissensquiz natürlich.
Die Gruppe von Singlen um die Dreißig war mit dem Fahrrad Kilometer gestrampelt, um dann zum Essen in einem Dorf Rast einzulegen. Eine Art Zelt neben der Dorfkneipe bot Schutz vor dem einsetzenden Nieselregen und neben einer reichhaltigen Speisekarte – eher Junkfood als Bauernküche – auch Spielapparate und andere Unterhaltungsangebote. Als sie sich nach dem Essen dazu entschieden, eine Runde zu spielen, hatte Hanna das Trivial Pursuit in der Spielesammlung entdeckt und sich schon siegessicher gewähnt.
Ihre Freundin Sarah, die sie mit fiesesten Tricks gezwungen hatte, an einem ihrer wenigen freien Tage unter Leute zu gehen, wollte sie an den Mann bringen, das war ihr klar. Sie würden ja schon sehen, Sarah und die anderen, sie würden einsehen, dass Hanna nicht der gesellige Typ war. Dass sie sie besser in Ruhe allein in ihrem Appartement mit einem Buch gelassen hätte. So, wie sie die meisten Wochenenden und auch Feiertage verbrachte. Familie hatte sie keine und Sara war die einzige Bekannte, die sie als Freundin bezeichnen würde.
Hanna war glücklich mit ihrem Lebensstil. Ihr fehlte es an nichts. Sie kam gut über die Runden und wurde auf der Arbeit gewürdigt – man sah sie vielleicht seltsam an und ging ihr in den Pausen aus dem Weg, weil sie als seltsam und sozial ungeschickt galt. Aber man kam zur ihr, wenn man nicht weiter wusste bei Datenverbindungen oder Experimentaufstellungen. Man munkelte sogar, sie würde eine Lehrstelle für Physik angeboten bekommen, während Sarah selbst mit ihrer Anstellung als Laborantin zufrieden war.
Hanna konzentrierte sich auf ihre Arbeit, wozu brauchte sie einen Mann? Außerdem würde sie doch nie einen finden, der ihr nicht lächerlich vorkam oder sie schon nach wenigen Stunden langweilte. In der Gruppe heute befanden sich ein paar abschreckenden Beispiele – biersaufende, hängebäuchige Kerle mit dem IQ eines Bettvorlegers, hatte sie sich insgeheim gedacht. Eine auffällige Ausnahme, zumindest was das Äußere betraf, war ein Mann, den Sarah ihr augenzwinkernd als Josh vorgestellt hatte.
Sein Körper war sichtlich an Fitnessstudiobesuche gewöhnt, wie gephotoshopped sahen seine Bizeps unter dem weißen T-Shirt aus, auf dem ein Aufdruck auf der Brust prangte, das sie ziemlich ablenkte von seinem jungenhaften Grinsen. Das Bild eines Wesens mit himmelblau geschminktem Gesicht, das Hanna nicht kannte, aber lange konnte sie nicht hinsehen, das fiel auf. Sein 3-Tage-Bart gefiel ihr, das sah nachlässig aus, genau wie seine an entscheidenden Stellen eingerissene Jeans.
Hanna wunderte sich zwar, wie man direkt an der Pofalte einen handbreiten Riss ins Gewebe hinbekam, und welche wiederholten Bewegungen dazu nötig waren, den Stoff auf dem Oberschenkel so fadenscheinig zu machen. Aber sie musste sich aus diesen verwirrenden Gedanken und vor allem neugierigen Betrachtungen reißen, als Sarah ihr grinsend zunickte. Dieser Typ könnte sich sonst noch einbilden, sie würde sich für ihn interessieren.
Die anderen bauten das Spielbrett in der Mitte des Tisches auf und teilten Teams ein. Sarah, und Hanna sollten gegen Josh und die dritte Frau im Bunde, Heidi, und ein gewisser Harry mit dem dicken Bruno als weitere Partei spielen. Hanna wusste aus Erfahrung, dass Sarah ihr bei Fragen, die die Unterhaltungsbranche oder Königshäuser betrafen, eine wertvolle Unterstützung sein konnte und vielleicht würde sie wegen ihres offensichtlichen Schwärmens für Harry auch die leidigen Sportfragen erledigen können.
Bruno und Harry machten Witze darüber, dass das Kreissymbol eher Ähnlichkeit mit einem Gullydeckel hatte, was darauf schließen ließ, dass sie dieses Spiel bisher sehr selten gespielt hatten, wenn überhaupt. Dennoch hielten sie sich wacker, vor allem bei den Sportfragen, wie erwartet. Hanna hatte nicht viel Glück beim Würfeln und musste zig Fragen beantworten, bevor sie auf ein Törtchenfeld kam. Souverän kamen die Antworten auf Kunst- und Literatur- sowie die Geschichts- und Wissenschaftsfragen wie aus der Pistole geschossen, was zu Beginn noch ein anerkennendes Pfeifen bei den Herren hervorrief.
Sarah sprang ein, als es um Mode ging und erst beim dritten Kucheneck in Folge scheiterten sie an einem amerikanischen Historiker, von dem niemand je etwas gehört hatte. Die anderen atmeten auf, denn es wurde langsam langweilig. Josh erstaunte Hanna mit ein paar lässig hingeworfenen Antworten, die sie ihm nicht zugetraut hatte und das unangenehme Gefühl beschlich sie, dass hinter diesem Mann mehr steckte als ein schnuckeliger Po.
Sie waren wieder dran. Es war ein Kopf- an Kopfrennen mit Josh und der dümmlich kichernden Heidi, die offensichtlich mehr Glück als Verstand hatte.
Die Masterfrage kam, die Josh für Hanna und Sara mit einem seltsam genüsslichen Grinsen vorlas und Hanna danach herausfordernd ansah.
„Wie heißt der Film von James Cameron von 2009, der auf dem Planeten Pandora spielt?“
Sarah rief gleich „Ich weiß, warte, ich weiß es, ich komm nur nicht drauf… Mist! Hanna, sag schon, wie hieß der noch gleich. Da, da..!“
Sie zeigte mit dem Finger auf Josh Brust und hüpfte aufgeregt auf der Bank herum, doch Hanna schüttelte nur den Kopf.
„Keine Ahnung. Beruhig dich, vielleicht kommst du noch drauf. Was soll dieses Gehampel? Hat der Titel irgendwas mit einem muskulösen Schönling zu tun?“
Ups, was hatte sie gesagt? Wie musste Josh das auffassen? Er grinste amüsiert, das war ja ziemlich peinlich.
„Nein, Hanna, du verstehst nicht, Mensch, sieh nur, da, da ...!“
Sie verschluckte sich fast und stieß Hanna mit einer Hand in den Rücken nach vorne, dass sie beinah über den Tisch fiel. Harry und Bruno lachten sich ins Fäustchen, Heidi kicherte wie immer, Josh lehnte sich zurück und streckte die Brust raus, auf die Sarah weiterhin atemlos hechelnd zeigte. Alle Blicke gingen zwischen Josh Brust und Hanna hin und her, doch sie hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte.
„Äh, Cameron, gut, der hat doch Titanic gemacht? Sciencefiction auch? Terminator ist aber doch viel früher gewesen. Mmmhh.“
„Mensch Hanna, nun guck` doch hin, die blauen Wesen, da, das ist aus dem Film, kennst du den echt nicht? Ich komm nur gerade nicht auf den blöden Namen.“
„Ach, dieses blaue Ding? Hab` ich heute zum ersten Mal gesehen, echt. Warte. Aliens kann es auch nicht sein. The Abyss?“
Sarah bekam fast einen Herzanfall, die anderen lachten immer lauter und Hanna wurde nervös. Es schien so offensichtlich. Es war ihr langsam peinlich. Josh lächelte sie fast mitleidig an, klar, er würde gewinnen. Das wäre das zweite Mal, dass sie in diesem Spiel unterlag, das erste Mal war mit ihrem 85-jährigen ehemaligen Professor und Mentor gewesen, den sie über alles bewundert hatte. Jetzt meldete sich Josh zu Wort:
„Im Hinduismus bedeutet dieses Wort so viel wie die Menschwerdung eines Gottes ...“
„Avatar? Was hat das mit Aliens zu tun?“
„YES, yes, jaaaaa. Das ist es. Und du kanntest den echt nicht, Hanna? Mein Gott, Danke, Josh, das war echt eine große Hilfe!“
Wie peinlich, ihr Gegner hatte die benötige Hilfestellung gegeben. So könnte sie diesen Sieg nie genießen. Fast beleidigt nickte Hanna Josh zu, als die anderen anfingen, einzupacken, der Regen hatte aufgehört.
„Den kleinen Schnitzer verzeiht man dir gern. Du hast ja echt ganz schön was drauf“, sagte Josh zu Hanna, als sie wieder zu ihren Rädern gingen. „Ich mag gebildete Frauen. Könnten wir das nicht mal öfter spielen? Du und ich? Hast du nächstes Wochenende Zeit?“
Er überragte sie um gut einen Kopf, als er so vor ihr stand und ganz offensichtlich mit ihr flirtete. Das war eine Einladung. Er interessierte sich für sie! Oder suchte er wirklich nur nach einem ebenbürtigen Gegner?
„Es tut mir übrigens echt leid, was ich da vorhin gesagt habe. Vonwegen muskulöser Schönling … das war nicht so gemeint“, stammelte Hanna in einem letzten Versuch, ihre Würde zu wahren, sie mochte es gar nicht, wie nervös dieser Mann sie machte.
„Wirklich? Du meinst, ich bin gar kein Schönling? Oder du hast das nicht abfällig gemeint? Ich hab es eigentlich als Kompliment verstanden!“
Er lachte sie aus! „Nein, ich meinte, dass dieser Typ auf deinem T-Shirt ein muskulöser Schönling ist. Ich steh nämlich auf Außerirdische. Wenn du so blau wärst, würde ich vielleicht sogar mit dir ausgehen.“
„Kinky! Du stehst auf Rollenspiele? Ich könnte mir dich auch ganz nett in blau vorstellen.“
Er ging auf ihren Scherz ein, das konnte doch wohl nicht ernst gemeint sein.
Hanna starrte Josh einen Moment an. Einen Moment in dem seine ebenmäßigen Gesichtszüge mit diesen etwas schiefen, aber weißen Zähnen vor ihrem inneren Auge zu einem überirdisch schönen, blau wie Azur erstrahlenden Wesen verschwammen, das sie liebevoll und amüsiert ansah und sie lachend in seine Arme riss.
Dann lachte sie auch. Sie rissen weiter Witze, erzählten sich von vergangenen Triumphen in Trivial Pursuit und anderen Quizspielen auf dem Heimweg. Dass Sarah sich verabschiedete und sie schließlich zu zweit bis vor ihre Haustür radelten, bekam Hanna kaum mit. Dieser Mann war anders, außergewöhnlich, intelligent und witzig und dabei so gutaussehend wie den alten Filmen entstiegen, die Hanna so gern sah. Sie verabredeten sich, spielten, aßen, philosophierten und schauten sich zusammen Avatar an.
Als Josh eines Tages mit einer Avatar-Maske vor ihrer Tür stand, küssten sie sich zum ersten Mal. Hannas Hand fuhr seinen Rücken hinunter und glitt unter seinem strammen Hinterteil in den Riss in seiner Jeans. Endlich wusste sie, wieso dieser handbreite Schlitz gerade da so praktisch angebracht war.