Ich will mehr
Wie auf ein unhörbares Kommando hoben sie gleichzeitig die Gläser, lächelten und das Klingen ließ die Gäste am Nachbartisch den Kopf drehen. Er stellte das Glas ab und eine Nachdenklichkeitsfalte furchte seine Stirn.„Was ist?“, fragte sie und tupfte sich vorsichtig genug, um das Lippenrot nicht zu verwischen, den Mund ab.
„Weißt Du, eigentlich stehe ich nicht so auf die schnelle Hotelnummer.“
„Warum sitzen wir dann hier?“
„Na, um uns kennen zu lernen.“ Er knüllte die Stoffserviette zusammen. „Ich meine ... Du bist so unglaublich schön und ich möchte gerne ...“
„Was?“
Bis eben hatten ihre Augen noch gestrahlt wie zwei blaue Sonnen. Jetzt zogen Wolken auf und er nestelte weiter an der Serviette herum. „Also, ... dass wir ... länger ... Ich hab so meine Erfahrungen, aus der Vergangenheit ...“ Er blickte an ihr vorbei.
Sie griff nach dem Weinglas, trank einen Schluck, dann noch einen, schaute ihn über den Rand hinweg ins Gesicht und stellte das Glas mit einem harten Stoß wieder auf den Tisch. Dann zauberte sie von irgendwoher einen Schminkspiegel, blickte prüfend hinein und sagte: „Du willst heute Nacht nicht mit mir schlafen, nur weil wir uns erst vor ein paar Stunden bei der Feier kennengelernt haben?“
„Versteh mich richtig ...“
„Ich verstehe Dich richtig! Du willst nicht nur einen One-night-stand. Du willst mehr von mir. Korrekt?“
Er bog den Rücken durch. „Ja, ich will mehr“, erwiderte er und auch, wenn seine Stimme leise klang, so war jedes bisschen Unentschlossenheit daraus verschwunden.
Mit einem deutlich hörbaren Knall klappte sie den Schminkspiegel zu. „ Dann ist es an Dir, dafür zu sorgen, dass ich auch mehr will, genau wie es an mir ist, dafür zu sorgen, dass auch Du mehr als nur diese eine Nacht willst. Der Körper einer Frau – mein Körper – ist nicht so wertvoll, dass ich ihn nicht für die schönste Sache der Welt benutzen wollte. Ich bin doch nicht dumm und bestrafe mich selbst. Mich interessiert nicht, wer Du in der Vergangenheit warst, welche schlechten Erfahrungen Du da gemacht hast oder wer Du in der Zukunft sein möchtest. Ich sitze hier, weil mich interessiert, wer Du jetzt bist; was Du jetzt willst; was Du jetzt denkst, vor allem aber, was Du jetzt fühlst. Denn das ist das, was Dich für mich wichtig macht – was Du fühlst. Für Dich selbst und natürlich – auch für mich, und zwar genau jetzt, denn nur auf dem Hier und Jetzt lässt sich eine Zukunft bauen, nicht auf Versprechen, nicht auf Schwüre und schon gar nicht auf ein Ich-Will-Mehr. Ab wann ist das eigentlich für Dich? Nach dem zweiten Mal? Dem Zwanzigsten? Dem Zweihundertsten? Der längste ONS meines Lebens hat acht Jahre gedauert und ich möchte nichts lieber, als ihn aus meiner Erinnerung streichen. Ist es das, was Du willst?“
Er hob die Hand, aber sie fauchte: „Nein, jetzt bin ich dran. Du und ich sind das Ergebnis dessen, was wir erlebt haben. Nimm mich so, wie ich bin; fühle mich so, wie ich bin, denn das tue ich auch für Dich. Ich bin nicht hier, Dir die Sünden meiner Vergangenheit zu beichten und Besserung zu geloben, auf das Du mir Absolution gewähren und gestatten mögest, Dir in die Augen schauen zu dürfen. Ebenso wenig ist es mir möglich, ungeschehen zu machen, was Du glaubst, dass Dir meine Geschlechtsgenossenninen angetan haben und ganz sicher habe ich nicht die Absicht, für deren Sünden bei Dir zu büßen. Ist eine Nacht, in der zwei Seelen Hand in Hand zu den Sternen geflogen sind, so viel weniger wert als hundert Nächte, in denen sie es nicht mal bis zum Mond geschafft haben? Die Berührung der Seele hat kein Verfallsdatum, sie bleibt für immer in der Erinnerung, selbst, wenn es nur ein einziges Mal geschieht. Öffne Dich mir, so wie ich mich für Dich öffne, damit wir uns berühren können, denn nur dann hört Zeit auf, irgendeine Bedeutung zu haben. Das ist der einzige Weg, der funktioniert. Und nein, ich meine nicht den Sex. Ich meine, sich dem anderen zu öffnen. Aber zu sagen: ‚Ich will mehr von Dir‘ und das als Bedingung für irgendetwas zu machen‘ ist es nicht. Es ist das Gegenteil vön Öffnen. Denn Bedingungen kriegen Kinder und sobald erst einmal eine gestellt ist, folgen die nächsten auf dem Fuße.“
Sie griff in ihre Handtasche, holte einen Kugelschreiber hervor und schrieb ihre Telefonnummer auf ihre Serviette. „Ich werde mich niemals mehr mit jemandem einlassen, der so wenig Vertrauen in sich selbst hat, dass er eine Mauern um sich ziehen und sich dahinter verstecken muss.“
Sie stand auf. „Ruf mich an, wenn Du die Mauer in Deinem Kopf eingerissen hast.“