Sturzbäche (Toxisches Papier Nr. 117)
Wege fressen sich bei Tempo 100 über scheinbar endlose Bitumenstränge. Nur durchsetzt von blauen Schilderwäldern und Rinnsalen aus vergifteten Quellen des regionalen Unterhaltungssenders. Das Gedudel ist kaum auszuhalten. Regen ist vorhergesagt und so wechsele ich vom Geplätscher aus dem Radio zu den Quellen des CD-Wechslers. Das Ding spinnt seit dem Frontalzusammenstoß vor gut fünf Monaten. Und man weiß nie, was der CD-Wechsler dann da so ausspuckt. Ich muss die Lautstärke aufdrehen- also erwartet mich wohl eine der älteren Disks, die ansonsten eher in irgendwelchen Umzugskartons Staub ansetzen.Erste Sequenzerbeats breiten sich mit dieser stringenten Unerbittlichkeit aus, wie sie nur Robert Görl in „Die Kleinen und die Bösen“ regelrecht in die linke Gehirnhälfte schießen konnte. Das Intro ergießt sich in fünf Minuten vierzig gestreckter Ewigkeit mit dieser Ahnung der Energie und des gleichsam verlorenen Lichts eines Pulsars. „Osten währt am Längsten“ wabert mit einer linearen Gleichförmigkeit durch scheinbar grenzenlosen Klangraum. Passt ganz gut zur Ödnis dieser gefühlt endlosen Gerade, die sich da auf der A 14 von Magdeburg-Reform bis nach Schkeuditz hinzieht. Minutenlang endlose Felder, diese nur durchbrochen von geduckten Häusern und verhärmten Baumsiedlungen.
Und doch: Ich sitze wieder am Wasserfall.
Fünf Minuten vierzig gestreckte Ewigkeit. Alles schien anders geworden. Es war damals schon eine zeit lang her, wo ich die Wirklichkeit der Billigfeuerzeuge gegen die kühlwarme Illusion eines S.T. Dupont Slim 7 Feuerzeuges eingetauscht hatte. Und sie über die vielen Jahre scheinbar das Befremden über den fast unmerklichen Übergang von ihren Gothicklamotten zu diesem körperbetonten Businesskostüm abgelegt hatte.
Und doch- als sich unsere Blicke nach gut zwölf Jahren der letzten Näheerfahrung in dieser Einkaufspassage rein zufällig wieder trafen, da war wieder diese stille Übereinkunft.
In ihrem Blick mischten sich Unbekümmertheit und doch tiefe Absicht, als sie dann Wochen später meine Wohnung betrat. Nach so vielen Jahren getrennter Wege zunächst leichtes telefonisches Abtasten einhergehend mit der für mich überraschenden Selbstverständlichkeit, wie sie dann die Einladung in meine vier Wände annahm. Und doch wusste ich es bereits, bevor ihre zierlichen Finger das erste Mal über die Klingelleiste fuhren. Und meine Stereoanlage auf Repeatmodus programmierte. Der letzte Schrei damals, immer nur bestimmte Musiktitel einzuprogrammieren und diese dann im Dauerbetrieb dudeln zu lassen.
Fünf Minuten vierzig in Endlosschleife. Die im Hintergrund wabernden Sequenzen des Poly 800 waren Taktgeber und Klangwiese zugleich in der Kadenz wiegender Leiber.
Als ich sie schweigend aus ihrem Kostüm schälte und sie sich rittlings an mich drückte, währenddessen ich Schicht um Schicht ihres Körpers und ihrer unausgesprochenen Wünsche freilegte. Unsere Blicke korrespondierten gebannt mit den Bildern, die der vor uns stehende Spiegel ausspuckte. Stundenlanges Eintauchen im freien Blau der Reisen über den Körper des anderen, lange bevor dieser Begriff des slowsex kreiert oder auch nur als Stichwort in unser Bewusstsein eingedrungen war. Reisefreiheit der Leiblichkeit fern des eingeforderten Besitzstandes all derjenigen, die die Reisen des Alltages prägten, nein sogar zu bestimmen gedachten. Und dann das erste Mal, als ich die Hände ausbreitete vor dem Wasserfall, der aus ihrer Mitte herausschoss…
In Höhe Bernburg schlenzt „Ich gebe dir ein Stück von mir“ mit schrägen Sequenzen in den Fahrgastraum. Bilder dieses so gesichtslosen Zögerns, ja Zitterns ihrer Stimme am Telefon paradieren die Übergänge zum Hügelland, welches an den Wagenfenstern im Fluss vorübergleitet. Diese Ambivalenz, als sie durchblicken ließ, dass es nicht bei diesem einen Mal bleiben sollte, durfte. So widersinnig es auch scheinen mochte angesichts der so verschiedenen Lebensentwürfe, in denen über viele Jahre Sicherheit und Zufriedenheit siedelten.
Seitlich rechts der Autobahn schießt ein Bahnübergang am Wagenfenster vorbei. Ein Momentum nur. Wie dieses Zögern, ja Zittern in ihren Blicken und ihrer Stimme, die am Andreaskreuz versagte angesichts dieses Rätsels, als ich ihre Papillen mit Calendula einölte. Bevor das Bienenwachs über ihren Körper rann. Das leichte Aufbäumen, so wie sich ihr Oberkörper nach vorne streckte, um die tiefen Quellen des Wasserfalls vor der Brandmauer erkaltenden Wachses abzuschirmen.
Fünf Minuten vierzig. Höhe Halle/Flughafen spuckt der CD-Player scheinbar unwillig den Tonträger aus. Fast schon symbolisch, wo es um die deutsch-amerikanische Freundschaft derzeit wohl nicht zum Besten zu stehen scheint. Unvermittelt breiten sich wieder diese Skrupel aus wie nach jeder Begegnung, wenn das Nachrauschen des Wasserfalls auf dem erkaltenden Bettlaken zu zerschellen schien. Mich allein und darauf zurückgeworfen zu sehen, in diesem Beat aus Hingabe und Nehmen nicht diesen Vorwurf schwelgender Biastophilie mitschwingen zu lassen.
Beim Einbiegen zum Flughafenzubringer der Versuch, mir diese stille Vergewaltigung der Sinne damit schön zureden, dass sie bestimmt gerade nicht darum weiß, wie ich sie für eine Wegstrecke mit meinen Sinnen einfing und die Fläche ihres Körpers und ihres Selbst- und wenn auch nur mit meinen Gedanken- vereinnahme. Sturzbäche von Vereinnahmung und doch der Ferne von Nähe, die einen so erfassen in der Schussfahrt durch ein Land der Einheit.
Raum ist nicht abhängig von Fläche.
In Memoriam Gaby Delgado-Lopez, der am 22.03.2020 die Reisen in den Klangwelten gegen die Reise zu den Sternen eintauschte.
©Einar_VonPhylen 230320+300420