Wahr oder Falsch?
Ich erinnere mich noch an meine Kindheit und die vielen faszinierenden Bücher, die ich damals las. Aufsätze, Zeitungsartikel, Berichte – viele davon haben mich gefesselt und mich oft nachts nicht schlafen lassen. So viel Stoff zum Nachdenken, zum Diskutieren; zum Die-Eigene-Meinung-Überprüfen, ja sogar, seine eigene Meinung zu ändern, wenn es notwendig war. Nie hat mich interessiert, wer etwas gesagt hat; selten, warum etwas wie gesagt wurde. Eine Aussage ist wahr oder falsch, sie ist in Teilen wahr oder falsch und ja, sie kann sogar trotzdem wahr oder falsch sein, wenn Teile von ihr wahr oder falsch sind. Das ist die Frage und nichts dazwischen. Es gibt genau so wenig ein „halbwahr“ wie ein „halbschwanger.“
Habe ich etwas über die Quelle einer Aussage gesagt? Nein? Weil sie unwichtig ist, zumindest für den tatsächlichen Wahrheitsgehalt. Natürlich nicht für die Glaubwürdigkeit der Aussage, da ist es schon wichtig, zu wissen, wer etwas von sich gegeben hat und, natürlich auch dann die Vermutung, warum er das getan hat. Damit haben offenbar die meisten Menschen heute ein echtes Problem, denn Glaubwürdigkeit ist kein Kriterium der Kategorien „wahr“ oder „falsch“.
In Glaubwürdigkeit steckt der Glaube und seit der Mensch ein Gehirn entwickelt hat, hängt er auch in einem Dilemma fest: Jedes Gehirn hat ein genau definiertes Volumen und um dieses Volumen streiten sich Glaube und Wissen. Ist wenig Wissen darin, ist viel Platz für Glauben. Nimmt die Zahl der Wissenden und der Wissen-Wollenden ab, steigt die Zahl derer, die glauben wollen und Scheiß auf das Wissen.
Glauben beruhigt. Glauben ist einfach. „Ich glaube“, sagt man und fertig ist der Lack. Niemand wird das hinterfragen, denn über den Glauben diskutiert man nicht.
Wissen ist da eine ganz andere Nummer. Wissen bedeutet fragen, hinterfragen, nichts glauben, egal, von wem es kommt; prüfen, unvoreingenommen sein; bedeutet Offenheit; bedeutet Ehrlichkeit, auch und vor allem zu sich selbst und es bedeutet in jedem Fall die beiden M: Mühe und Mut.
Mühe, um all das auf sich zu nehmen und Mut, sowohl dafür einzustehen als auch zu sagen: „Da habe ich mich wohl geirrt.“
Beide vertragen sich nicht mit Schubladen: Lesben, Schwule, Transgender, Außerirdische, Frauen, Männer, Nazis, Linke, Rechte, Politiker, Journalisten, Ärzte, Liberale, Neoliberale, Kommunisten, Sozialisten, Terroristen. Sie vertragen sich weder mit „...isten“, noch mit „...mus“ und auch mit keiner wie auch immer bezeichneten Gruppe von Menschen.
Über wahr und falsch konnte man einmal diskutieren. Es gab einmal eine Zeit, in der waren Menschen in der Lage, einander zuzuhören, mit gutem Willen; mit der Bereitschaft, sich die Argumente des Kontrahenten anzuhören; mit dem Willen, ihn nicht mit Gegenargumenten niederzuschreien, sondern mit Sachlichkeit zu überzeugen und manchmal auch mit der Bereitschaft, selbst überzeugt zu werden.
Müssen verdammt lang her sein, diese Zeiten. Aber nicht so lange, dass ich mich daran nicht mehr erinnern würde. Weil ich sie vermisse. Weil ich vermisse, dass mir jemand aufmerksam zuhört und auf meine Argumente eingeht statt auf mich. Weil ich vermisse, dass mir jemand mit Fakten die Beine weghaut statt mit der Einschätzung meiner Person oder der Kategorisierung der Person oder Gruppe, über deren Aussage/Artikel/Buch ich gerade rede.
Ich vermisse Diskussionen, bei denen der Glaube nicht eingeladen ist, ebenso wenig wie Genosse Ego, der beleidigten Leberwurst, dem Brüllaffen und dem Typ, der mit seinen Händen ständig ein Dach über dem Kopf bildet. Die können sich meinetwegen gefälligst den Arsch vor der Tür abfrieren.
Hat jemand Lust darauf? Ich schon und da nichts in der Welt ohne Regeln funktioniert, habe ich genau eine: keine Charakterisierung und „Schubladisierung“ von Personen. Wir reden über wahr und falsch von dargestellten Sachverhalten und Behauptungen und es ist völlig schnuppe, von wem sie kommen. Wahr und falsch sind weder hinterhältig, rücksichtslos, gemein, links, rechts, narzisstisch, nazistisch und so weiter; ja, sie sind nicht einmal gut oder böse. Sie sind.
Ist eigentlich ganz einfach. Warum nur habe ich dann das Gefühl, dass ich damit ziemlich alleine stehe?