Nach der Wolkenwand
Die Außenwände des Erdgeschoss standen noch, wobei diese Wände nur vereinzelte Fragmente waren, die gerade noch bis zur halben Höhe der einstigen Wohnung reichten. Den Umstand, dass er noch am Leben war, verdankte er der Stabilität seines Kellers, der glücklicherweise eine eigene Ausgangstür hat, die nicht von Trümmer total verschüttet wurde. Die wenigen Brocken konnte er nach dem Knall mit letzter Kraft wegräumen, um den Weg nach draußen zu finden. Auch wenn es draußen nicht mehr viel gab. Er hätte niemals geglaubt, dass es so weit kommen würde. Sie hatten tatsächlich die Bombe gezündet. Nicht nur eine. Es war scheinbar eine weltweite Reaktion aus Gegenreaktionen. Die Welt, die er seit 59 Lebensjahren als eine friedliche Welt kannte, gab es nicht mehr. Was jetzt herrschte, war kein Frieden. Es war eine gespenstische Ruhe.
Die Druckwelle kam wie eine Wolkenwand. Sie brachte aber nicht den erhofften Regen, sondern Sturm, Hitze, Feuer und Rauch. Er war nur zufällig im Keller, seine Frau hatte es nicht geschafft. Sie wurde mitsamt dem Haus zu Asche verbrannt und in alle Winde zerstreut. Seine Kinder lebten schon seit Jahren in anderen Städten, er hatte seit dem Knall nichts von ihnen gehört. Wie auch? Es gab keine funktionierenden Mobilfunknetze mehr. Sämtliche Datenübertragungsnetze der Welt waren verglüht. Rechenzentren waren zu großen Klumpen zusammengeschrumpft, bestehend aus verschiedenen geschmolzenen Edelmetallen und seltenen Erden. Treibstoffe für Notstromversorgungen beinahe restlos verdampft.
Seit dem Knall war bereits ein Winter vergangen, der Frühling ging mit großer Hitze nahtlos in den Sommer über. Der Unterschied zwischen den Jahreszeiten war nur noch marginal spürbar. Vielleicht wehte es im Winter mehr Asche durch die Luft. Vielleicht regnete es im Frühjahr mehr. Da waren keine Vögel mehr, die den Frühling verkündeten, es brummte keine Hummel mehr durch den Sommer. Verdrossen öffnet er die schwerfällige, verzogene Brandschutztür und ging nach draußen. Eilig goss er die wenigen Pflanzen, die er sich, im furztrockenen Beet, versuchte anzubauen. Das Wasser dafür sammelte er in allen möglichen Behältern, die er im umliegenden Gelände zusammentragen konnte: Reste explodierter Ölfässer, Blecheimer, Benzinkanister, Kochtöpfe. Zur Wassersammlung hatte er sich eine riesige Plastikfolie, die er noch im Keller hatte, über das Beet gespannt, in der Mitte die tiefste Stelle mit einem befestigten Schlauch, den er in die jeweils leeren Wasserbehälter hielt, solange es doch mal regnete. Gleichzeitig spendete die Folie Schatten, denn sonst würden seine zarten Pflänzchen gnadenlos unter den Strahlen der Sonne verbrennen.
Er wusste, er sollte nichts essen, was draußen wuchs und sich von radioaktiver Erde und verstrahltem Wasser nährte. Er wusste aber auch, seine Vorräte, die er sich schon weit vor dem Knall angelegt hatte, würden nicht ewig reichen. Trinkwasser, Konserven, Trockennahrung, Notmedikamente, Kaffee, Tee, Gaskocher und Batterien waren ausreichend vorhanden, aber für wie lange? Gelegentlich schaltete er ein Transistorradio ein, doch es gab keine Sender mehr. Zum Lesen nutzte er eine Lampe, deren Batterien sich mit einer integrierten Solarzelle aufladen ließen. Glücklicherweise hatte er noch eine Kiste voller Bücher im Keller gefunden. Sonstige Zerstreuung stand nicht zur Verfügung.
Er schaute über den Stadtteil, in dem er wohnte. Die Bombe hatte das Stadtbild geglättet. Es gab keine Landmarken aus Glas, Beton und Stahl mehr. Die Umgebung lag in Schutt und Asche. Natürlich hatte er mehrmals über Selbstmord nachgedacht. Doch in seinem Alter brachte man sich nicht mehr um. In seinem Alter starb man sowieso schon bald. Für die Gesellschaft gehörte seine Altersgruppe bereits zu Friedenszeiten schon zur Resterampe der digitalen Arbeitswelt. Man bekam ab Mitte Fünfzig keine Mietwohnung mehr, keine Kredite bei den Banken, keine neuen Verträge bei Versicherungen und Krankenkasse. Rein statistisch könnte er schon tot sein. Welch ein Witz, dass sich die Jungen jetzt selbst ausgelöscht hatten und ausgerechnet er, als nutzloser Oldie, das Fiasko überleben durfte. Oder musste. Täglich lachte ihm der Wahnsinn von neuem ins Gesicht, er versuchte, zurück zu lächeln, weil er schon immer ein harter Brocken war. Als junger Kerl hätte er den Knall gefeiert, sich tagelang Alkohol und Drogen reingepfiffen, um dann irgendwann von einem Hochhaus zu springen. Mist. Jugendlicher Denkfehler. Es gab ja keine Hochhäuser mehr.
Heute ging er zum zehn Kilometer entfernten „Markt“. Er war nicht der einzige Überlebende. Seltsamerweise rotteten sich die Überlebenden nicht zusammen, um die Welt neu aufzubauen. Vielleicht ahnten sie, dass es nichts mehr zum Aufbauen gab und ihnen nur noch eine Restlebenszeit von wenigen Jahren blieb. Die Strahlung würde den Überlebenden zusetzen, egal wie sehr diese versuchten, sich davor zu schützen. Erst Generation später wird man sagen können, ob die Menschheit wirklich überlebt haben wird.
Hier auf dem Markt tauschten Menschen die wenigen Halbseligkeiten, die sich noch hatten. Gelegentlich hatte auch jemand Alkohol oder Zigaretten im Angebot. Derjenige konnte dafür hbekommen, was er wollte: Nahrungsmittel, Batterien, Kleidung, Sex. Oft wurde hier gestritten und um die wenigen Güter gerungen. Gelegentlich hörte man aber auch ein menschliches Lachen. Ein Zeichen für den unbedingten Überlebenswillen der menschlichen Seele. Ein Lachen klang wie der Spross des Löwenzahns, der sich nach dem ersten Frühlingsregen durch den gerissenen Asphalt bohrte.
Der Besuch auf dem Markt war eine willkommene Abwechslung zu seinem Kellerloch. Jeder wusste, die Strahlung war zu meiden, doch sterben muss man sowieso, also Finger in Po und ab nach Mexiko! Bisher gingen ihm nur die wenigen Haare aus, die der natürliche Altersprozess übrig gelassen hatte. Auf dem Markt konnte er Menschen sehen, denen der Einfluss der Strahlung auf unterschiedliche Art und Weise anzusehen war: Glatzen, Verbrennung, Hautverfärbungen, Pusteln und Pocken, offene Wunden, Geschwüre und Auswüchse. Menschenzoo. Er tauschte ein ausgelesenes Buch gegen einen abgegriffenen Asterix-Comic.
Wieder zuhause im heimischen Garten, bemerkte er auf der gegenüberliegenden Seite der nicht mehr vorhanden Grundstücksmauer eine Bewegung. Die Nachbarin verließ ihren Keller. Auch sie gehörte zu den wenigen, unglücklichen Überlebenden. Sie konnte ihren Keller verlassen, weil das Haus darüber, gebaut aus Holzständerfertigteilen, komplett verglühte und pulverisiert wurde. Ihren Mann hatte er nie mehr gesehen, die Kinder kamen nicht aus der Schule zurück, um im Garten laut Fußball zu spielen. Neugierig beobachtete er die schwerfälligen Bewegungen seiner Nachbarin.
Zu den üblichen Nachbarschaftsstreitigkeiten war in den letzten Jahren ein Streit über politische Einstellungen gekommen. Die gesellschaftliche Spaltung wurde exemplarisch an dieser Grundstücksgrenze vollzogen:
Sie stellte sich eine blauen Gartenzwerg in den Garten und glaubte alle diese Fake-News aus den sozialen Medien. In jedem fremdländischen Gesicht vermutete sie, den Teufel zu erkennen. Sie war überzeugt, der verrückte Russe, der senile Blonde aus den USA und der fette Koreaner würden den Frieden schützen vor der Verschwörung grüner Ideologen, die sich von der jüdischen Kapitalherrschaft als Marionetten lenken ließen.
Er hingegen war der Meinung, man müsse die Demokratie schützen. Allen Völkern, die von Imperialisten und Diktatoren angegriffen wurden, zur Seite springen. Kneifen und sich raus halten war für ihn keine Option. Es galt etwas zu verteidigen, auch wenn dieses Etwas nur eine vorgetäuschte Freiheit war, die von einem maßlosen Turbokapitalismus von innen, wie durch eine hochwirksamen Schimmelpilz, zersetzt wurde.
Die Streitigkeiten begannen oft am Gartenzaun und endeten nicht selten vor Gericht. Schließlich ignorierte man sich jahrelang und verweigerte jedes weitere Wort.
Sie hatten beide unrecht. Das Ergebnis aller weltweiten Streitigkeiten war der weltweite Knall. Wer konnte jetzt noch die Wahrheit für sich beanspruchen? Niemand war Gewinner, alle waren Verlierer. Er beobachtete seine Nachbarin und bekam Mitleid. Sie wirkte ausgehungert und vertrocknet. Die fadenscheinige Kleidung hing flatternd an ihrem dünnen Körper. Er blieb stehen und betrachtete sie gedankenverloren, dass Asterixheft in der Hand. Zufällig blickte sie zu ihm hinüber. Ihr einst prächtiges, dunkles Lockenhaar war dünn und grau geworden. Die Augen waren von dunklen Rändern umgeben, die Lippe trocken und spröde. Ihr Lippen bewegten sich zu einem Gruß, doch er konnte sie nicht hören. Zu laut schwirrte das grelle Sonnenlicht. Er fasste sich ein Herz, hob die freie Hand zum Gruß und rief hinüber:
„Möchten Sie eine Tasse Kaffee mit mir trinken?“
Er erkannte ein schüchternes Lächeln in ihrem grauen Gesicht. Sie nickte.
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