Was, wenn ...
„Was wäre wenn ...“, dachte sich Veronika, und spürte die düsteren Gedanken in sich aufsteigen. Wie alte Vertraute, die aus einem früheren Leben auftauchten, um die Seele einzuladen, auf den höllischen Trip in die angenehme Wärme der Traurigkeit mitzukommen.
„Was, wenn der Himmel für immer grau bleibt?
Was, wenn die Politiker in ihrer Weltläufigkeit den Weltfrieden vergeigen?
Was, wenn ich bei meiner Zettelwirtschaft den Überblick über mein Leben verliere?
Was, wenn sie morgen keine Metzgereifachverkäuferin mehr brauchen und mir das Umsatteln auf einen neuen Beruf nicht gelingen wird?“
Veronika hockte mit nassem Hintern im schmutzig-braunen Schneematsch und spürte keine Kraft, um aufzustehen. Die Arme hingen rechts und links schlaff an ihr herab. Sie spürte die Kälte in den Fingern nicht, die sich wütend in den Schnee krallten.
Gerade noch war sie hektisch auf dem Weg zur Arbeit im Supermarkt. In der Nacht davor fiel Schnee, der Nachtfrost wurde aber bereits von der kurz aus den Wolken blinzelnden Sonne verflüssigt. Veronika erschrak vor einer lautstark sich lösenden Dachlawine. Ihr war die mögliche Gefahr der nassen Schneemassen, vermischt mit Eisbrocken aus der Unterschicht, durchaus bewusst, weshalb sie impulsiv nach einem Fluchtweg suchte. Punktgenau erwischte sie dabei eine der wenigen eisglatten Flächen auf dem schmalen Gehsteig, rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und landete mit dem Hintern, gekleidet in ihrer makellos weißen Arbeitskleidung, in einer Pfütze aus Schnee, Streusalz und Matsch.
Es gab keinen Gott, der salbungsvoll eine schützende Hand über sie hielt. Es gab keine Schutzengel, die sämtliches Unglück abwehrten, welches querbeet aus allen amtlichen, privaten und öffentlichen Kanonenrohren auf sie abgefeuert wurde. Scheinbar gab es nur den Teufel, der sie jeden Morgen, taufrisch wie ausgekotzte Rinderleber, im trüben Spiegelbild ihres beengten Badezimmers grüßte.
„Was, wenn nach dem nächsten beschwerlichen Aufstieg, kein sonniger Weg ins Tal der Freude folgt?
Was, wenn es nach dem Dunkel nicht mehr hell wird?
Was, wenn es diesmal keine Lösung gibt?“
Ihr Leben war stets eine Berg- und Talfahrt. Sie hatte sich daran gewöhnt, doch mehr und mehr spürte sie, wie ihr die Energie zum Lösen von Problemen ausging und gleichzeitig die Flamme der Freude über kleine Erfolge schwand.
Drei Beziehungen vermasselt, nicht ohne eigenes Verschulden. Kinder groß gezogen, die aber wenig Kontakt mit ihr pflegten, weil sie es im Stress ihres Lebens nie schaffte, ein herzliche Mutter zu sein, die ihre Liebe zeigen konnte. Sie war eine gute Mutter. Nicht immer einfach, wenn die Väter Arschlöcher waren. Sie organisierte, es gab täglich ein warmes Essen, die Wohnungen waren stets sauber und die Noten der Kinder passabel.
Jeden Tiefschlag nahm sie mit ritterlicher Standhaftigkeit, überlebte ihn und feierte ihre Wiedergeburt. Doch jetzt ging ihr die Energie aus. Wenn der stete Tropfen den Stein höhlen kann, dann kann auch eine matschige Hose die Sonne explodieren lassen. Die zweite Mahnung ihrer Nebenkostenabrechnung lag ungeöffnet auf dem Küchentisch. Die Waschmaschine streikte. Der Kühler ihres zwanzig Jahre alten, japanischen Kleinwagens war geplatzt. Nur darum hetzte sie jeden Morgen zu unchristlichen Zeiten zur Bushaltestelle. Weihnachtsgeschenke für die Kinder? Wie bezahlen?
Veronika hockte im Schlamm und konnte ein aufkommendes Lachen nicht unterdrücken.
„Scheiß drauf! Braune Hose hinter der Fleischtheke, wen von ihren achtlosen Kunden kümmerte es?“, dachte sie sich.
„So viele Probleme habe ich schon gelöst, steh auf!“
Die Sonne streckte ihr ein freundliches Licht durch ein kleines Wolkenloch entgegen.
Sie könnte das schrottreife Auto verkaufen, anstatt es nochmals reparieren zu lassen. Die Wäsche würde sie bei einer Freundin waschen. Vielleicht würde ein Lottogewinn helfen und sie konnte noch eine überflüssige Lebensversicherung kündigen. Es gab doch immer einen Ausweg und Weihnachten würde schön werden. Vielleicht reichte es auch, dem Jüngling bei der Bank schöne Augen zu machen. Oder doch den Job bei der Sex-Hotline annehmen. Nach einer dunklen Nacht folgt ein heller Tag.
Vernonika erhob sich und ging los. Voller Zuversicht sah sich nach vorn.
Nicht nach links, und nicht nach rechts.
Den Linienbus, der auf abschüssiger, eisglatter Straße wenig Chancen hatte, rechtzeitig zum Stehen zu kommen, hatte sie komplett übersehen. Er erwischte sie mit voller Wucht.
So gesehen, hatte Veronika ihren Bus gerade noch rechtzeitig erreicht. Fröhlich blinkte der kleine Weihnachtsbaum hinter der Frontscheibe.