Liebe Freunde des 'Acht-Wörter-Spiels',
im folgenden Text habe ich (bis auf ganz wenige Textpassagen) bewusst auf eine dialektale Schreibweise verzichtet.
Der gestohlene Kuss
"Ich habe dem Narren sein Karneval geklaut!" Spätestens jetzt werde Ich zur lebenden Zielscheibe. "Mann, bist du doof! Überleg doch mal, ist doch ganz einfach. Wer hat was von wem geklaut?" Volker, der Alemanne vom See kennt sich aus und besteht auf die rechte Schreibweise.
"Mei o mei, das sind doch Kinkerlitzchen!" Voller Bewunderung für ihn und wegen seiner Eloquenz himmele ich ihn schon seit einer gefühlten Ewigkeit an. "Also gut, Volker, für dich nochmals, und jetzt hoffentlich korrekt: Ich habe dem Narren des Karnevals beraubt!" Kopfschüttelnd wendet er sich ab und schwimmt zurück ans rettende Ufer.
"Kinkerlitzchen?" Paul, der kesse Hesse, lässt den hölzernen Kochlöffel wutentbrannt im gusseisernen Kessel kreisen. Der Vertreter aus der Mainmetropole rührt kräftig und unkontrolliert. Zu kräftig, sodass die kochende Wurstsuppe überschwappt, bis sie schlussendlich zischend und dampfend in der heißen Feuerglut verpufft.
"Das ist eine Todsünde, eine Todsünde", rufen die anderen im Chor. "Was meint ihr jetzt? Den Diebstahl oder das 'Überschwappenlassen'?" Das Gesicht zur Faust geballt, brüllt Paul mich an: "Du kriegst gleich was in deine Hackfresse, Alter!"
Augenblicklich durchzieht mich ein äußerst ungutes Gefühl.
"Na du, Fracksausen?" Michael, der Kölner Delegierte, sieht es mir als Allererster an. "Kann dich gut verstehen", klopft er mir aufmunternd auf die Schulter. "So ein grobschlächtiger Kerl kann einen schon in Angst und Schrecken versetzen. Und wenn so einer wie der dir was vor den Kopf knallt, brauchst du zwei Paar Schuhe zum Bremsen."
Langsam realisiere ich, welch gewaltigen Pflock ich mit meiner saloppen Äußerung in die Herzen der hier Versammelten getrieben hatte. Hätte ich doch wenigstens dieses eine Mal mein loses Mundwerk gehalten. Zu spät, das Wort war ausgesprochen. "Kinkerlitzchen!", wie konnte ich nur? Händeringend, wild gestikulierend, versuche ich, die sich am Anblick meiner schlotternden Knie ergötzende Menge wieder zu beruhigen, vielleicht ja sogar zu beschwichtigen. Sie rücken aber näher. Immer dichter schließt sich der Kreis aus wutschnaubenden, schweißtriefenden Narren um mich. Die Luft ist angereichert mit übel stinkender Feindseligkeit, lässt keinen Raum für ein schmerzfreies Atmen.
"Macht ihn platt", brüllt einer der zahlreich erschienenen Holzschädel böse, "er hat unsere Fasnet geklaut!" Mit einem seiner geschnitzten Hufe zeigt er geradewegs auf mich.
Da rutscht Günne Kottá, das Mannheimer Tanzmariechen, beschwingt auf den glitschigen Bühnenbrettern heran, durchbricht mit lautem "Ahoi" den Ring aus Jecken und kommt vor mir mit einem kräftigen "Mama, die Mama, die ma ma Platz da!" zum Erliegen. Sie schüttelt sich wie eine nasse Hündin und richtet sich postwendend in ihrer ganzen Pracht imposant vor mir auf. Dabei überragt sie mich um mindestens zwei Kopflängen und um dreimal so viele Brustbreiten. Sie reißt ihre himmelblauen Sehkörper weit auf. glotz mich markdurchdringend an und versetzt mich mit ihrer eindringlichen Miene augenblicklich in tiefste Hypnose.
Kaum im Reich der ewigen Träume angekommen frage ich mich, ob es eine Steigerung von Hypnose gibt. "Hey, Klugscheißer, was meinst du?" Doch er kann mich nicht hören. Jetzt, nachdem ich seinem Blickfeld entschwunden bin, kratzt der dicke Hesse leutselig und zufrieden an der blank gescheuerten Innenwand des Kupferkessels, in dem längst nichts mehr überschwappt. Die Suppe ist verdampft!
Helmut hält das Schild hoch, das die Mainzer Fassenachtsfraktion in Ermangelung der lecker anmutenden Brühe flugs gemalt hat. "MAKE WORSCHTSUPP GREAT AGAIN", ist darauf in übergroßen, rot-blau-weißen Lettern zu lesen.
Die hungrige Meute grölt und klatscht Beifall, der ohrenbetäubende Lärm dringt bis ins Mark der luftleeren Blase vor, in der ich krampfhaft versuche, Dietrich zu fangen. Im Grunde genommen ist Dietrich ein feiner Kerl. Auch, wenn er sich nie so richtig entscheiden kann, in welche Richtung die Reise gehen soll. Ständig will er erst vor, dann lieber zurück, vor und zurück und nochmals Mütze Glatze. Deshalb fällt es mir auch immer so schwer, den Schlawiner zu erwischen.
"Was treibst du da?" Gerade, als ich ihn endlich zu fassen glaube, taucht Günne inmitten des Hohlraumes auf. Provokant positioniert sie sich zwischen uns. "Habe ich euch erlaubt. miteinander zu spielen?" Demütig senke ich meine Blicke, bis sie sich weit unterhalb des Saumes ihrer leuchtendroten Kniebundstrümpfe in den unendlichen Tiefen des Blasenbodens verlieren. Sie berührt mit gekrümmten Zeigefinger die Unterseite meines Kinns, hebt sanft aber bestimmend mein Gesicht, lächelt mich an und küsst mich unvermittelt auf meine vor Ehrfurcht zitternden Lippen. Zunächst küsst sie mich zart und vorsichtig, dann kräftiger, schließlich leidenschaftlich und fordernd. Sie küsst mich, als ob sie niemals damit aufhören wolle; so, als ob es kein morgen gäbe. "Nichts als küssen will ich dich, verstehst du das?", haucht sie mir in elektrisierend in einen meiner empfindlichen Gehörgänge. Willenlos, ja ohne zu Zögern lasse ich mich ein und genieße ihre wundervollen Lippenberührungen.
In einer der wenigen Atempausen, die sie mir gönnt, entdecke ich Dietrich zusammengekauert in der hinteren linken Blasenecke. Es scheint, als sei er beleidigt. Nein, stinksauer wirkt er und zutiefst enttäuscht. Schluchzend telefoniert er mit Hans. Hans gehört zu Heiner, Heiner hat einen viel zu niedrigen Blutdruck. Die beiden fühlen sich alleine gelassen und ziemlich vernachlässigt. Brüder im Geiste, jeder auf eine eigene Weise vom Schicksal bestraft, Schwänze eben, die keiner mehr braucht. Nicht hier, nicht jetzt und auch nicht übermorgen.
Man könnte meinen, die Geschichte sei jetzt aus. Das stimmt aber nicht. Es verhält sich wie folgt:
Günne hat sich dann doch schneller als erwartet wieder verzogen. Ich nehme an, sie konnte ihren eigenen hohen Erwartungen nicht mehr standhalten. Trotzdem hinterlässt sie tiefe Eindrücke bei mir und sieben kleine Herpesbläschen. Jedes einzelne davon gleicht einem mit Wurstsuppe prallgefüllten Miniballon. Dietrich findet das ekelig. Er taucht zwar gerne ein in jedes einzelne der sieben Weltmeere, doch Wurstsuppenbläschen meidet er, wann immer er kann.
Bleibt noch die Frage, was mit Paul ist? Die einen sagen, Paul habe seine Aggressionen austherapiert und sei ausgewandert. Er versuche sein Glück jetzt in Amiland und mache in Baumwolle. Ich hingegen vermute, dass er selbstverliebt im Solmspark in Rödelheim hockt und auf seinem einflammigen Gaskocher Wurstgeschichten schreibt.
Tom (the Sun)