Achtundvierzig Stunden
'Darin sind sie perfekt', grantelte der Mann vor sich hin. Jemanden auf die Wache schleppen und dann hockenlassen. 'Einen Moment noch' hatte es geheißen. Er besaß keine Uhr, das Handy war ihm abgenommen worden. Aber gefühlt waren bereits zwei Stunden vergangen, seit die Polizisten in Zivil ihn hier hereingeführt und dann den Raum wieder verlassen hatten. Ein kahler Raum, grob verputzt, natürlich keine Bilder, da hätte man ja wenigstens was zum Anschauen gehabt. Er hatte keine Idee was er verbrochen haben sollte. Die Tage, als er noch fleißig seiner Sucht gefrönt hatte waren vorbei, alles was damals geschehen war, war lange verjährt, niemand würde ihm daraus mehr einen Strick drehen können.
Bei der Verhaftung war nicht viel geredet worden, jedenfalls nicht von Seiten der Polizisten. Um vier Uhr in der Früh bist eh nicht so gesprächig. Seine Fragen nach dem Warum und Wieso waren unbeantwortet verhallt, die Handschellen schnitten ins Fleisch, die Wut ließ sich kaum unterdrücken - aber er wußte, daß er sich nur selber schaden würde wenn er jetzt anfangen würde zu toben. Also blieb er scheinbar ruhig sitzen und starrte auf den abgenutzten Tisch vor seiner Nase. Irgendwann mußten sie ja wiederkommen. Oder? Erneut begann er, seinen guten Vorsätzen zum Trotz, ungeduldig auf dem harten Sessel umeinanderzuzappeln. Wozu diente diese Warterei? Das war doch Folter, oder? Was zum Teufel wollte man von ihm?
'Schau ihn dir an, wie er dahockt, das personifizierte schlechte Gewissen', kommentierte Dieter Wendler im Nebenraum den Anblick, der sich ihm und seinem Kollegen Wasilj Petrow im Einwegspiegel bot.
'Nun,' mahnte Petrow zur Vernunft, wohl wissend, daß er nichts ausrichten würde, 'wir haben nichts gegen ihn in der Hand. Lediglich die Aufzeichnung des Mordomaten, und wie zuverlässig DER ist, wissen wir beide doch nur zu gut, oder? Also warum brät er noch da drin? Warum machen wir nicht einfach ein Protokoll und lassen ihn laufen? Mein Instinkt sagt mir, daß er absolut keine Ahnung hat, was wir von ihm wollen. Der Typ ist völlig harmlos.'
'Du, die Eisprinzessin damals hat auch voll harmlos ausg'schaut, deswegen san's jo olle auf sie eineg'foin.' Wendler verfiel beim Gedanken an den aufsehenerregenden Fall vom Anfang des Jahrhunderts in den heimischen Dialekt. 'So ein fesches Madl, so unschuldig hat's g'schaut, und dann knallts ihren Mann von hinten ab wie er harmlos am Computer hockt. Des mocht ma ned! Und zwa Joa späta da nächste Haberer. Bumm, tot. Zersägt und ob in Kölla. Oag, oda?'
'Naja, du weißt ja nicht, was man ihr vorher alles angetan hatte, aber hast recht, man sieht es einem Menschen nicht an. Aber dennoch kannst ihn ned aufgrund von Aufzeichnungen aus einem noch nicht wirklich ausgereiften System verknacken. Ned amal du!'
Unruhig wanderte Petrov im Wachzimmer auf und ab, warf ab und an einen Blick zu Wendler, der scheinbar ungerührt weiter den Gefangenen beobachtete.
'Es reicht!' rief Petrov böse und schlug mit der Faust an den Türrahmen, daß eine Staubwolke aus dem morschen Holz drang und ihn zum Husten reizte. 'Es reicht endgültig!' keuchte er. 'Nur wegen deiner Beförderung, oder warum machst du das? Entweder wir gehen jetzt da rein und reden mit dem Mann oder ich gehe alleine!'
'Vernehmungen alleine sind nicht gestattet, das weiß du so gut wie ich.'
'Verhaftungen ohne Grund ebenfalls nicht!'
'Wir können ihn 48 Stunden festhalten. Aber gut, gehen wir rein. Nur daß eins klar ist: ICH führe das Gespräch. Du hältst dich im Hintergrund, wie immer. Du weißt schon, Olga ...'
Zähneknirschend folgte Petrov Wendler ins Vernehmungszimmer. Eines Tages würde er ihn ... Lautes Fiepen unterbrach seine Gedankengänge, grinsend drehte Wendler sich um, griff eine Fernbedienung vom Schrank und schaltete das piepsende Gerät an der Decke aus.
'Hammer wieder Mordphantasien g'habt?', spottete er, angesichts des grimmig schauenden Kollegen. 'Waßt eh, der Mordomat is ned IMMER daneben, manchmal zeichnet er durchaus akkurat auf. Also überleg dir was'd denkst. Auch als Kriminaler bist ned unverwundbar.'
Als ob Petrov das nicht wüßte. Spätestens seit der Sache damals mit Olga ... Wehmütig dachte er an die junge Frau zurück, die er damals eines Gewaltverbrechens hatte überführen müssen und in letzter Minute hatte retten wollen. Naja, schiefgegangen. Wie so einiges in seinem Leben.
Behutsam schloß er die Türe hinter sich und setzte sich mit Wendler zu dem Angeklagten an den Tisch, dieser hatte hoffnungsvoll aufgeblickt als die beiden Polizisten den Raum betreten hatten, und mußte sich nun mit Mühe zurückhalten, um die Beamten nicht mit Fragen zu bestürmen. Würde sich das Mißverständnis nun endlich aufklären?
Wendler räusperte sich, er liebte diese Momente in denen er einen zerknautschten Häftling vor sich sitzen hatte. Nun, streng genommen war der Mann noch kein Häftling, aber wenn es nach ihm, Wendler, ginge, würde er bald einer sein.
'Sie wissen, warum Sie hier sind?' Wendler legte einen strengen Unterton in seine Frage.
'Nein!!!', kam es heiser und verzweifelt aus dem Mund des Angeklagten. 'Nun sagen Sie mir doch endlich, was ich getan haben soll! Mich in der Früh aus dem Bett zu reißen und abzuführen wie einen Verbrecher! Ich war noch nie im Leben auf einer Demo, ich trage immer meinen Mundschutz und habe auch keine Schulden, mein Impfpaß ist auf dem neuesten Stand, was liegt gegen mich vor!!!???!!!', brach es aus ihm heraus.
Wendler lächelte maliziös. Er genoß es sichtlich, wenn sich die Leute bedürftig vor ihm entblößten, ihre Angst und Unsicherheit verlieh ihm die Größe, an der es ihm im wirklichen Leben ganz offensichtlich fehlte, da halfen auch die teuren Einlagen nichts.
'Wo waren Sie heute Nacht um halb zwei?' fragte Wendler scheinbar ruhig.
'Na im Bett, geschlafen hab ich!'
'Wie kann es dann sein, daß der Mordomat exakt um halb 2 eine Meldung herausgegeben hat, daß in ihrem Haus ein Mord verübt worden ist? Wenn sie angeblich geschlafen haben?'
'Na, geträumt werd ich haben. Dafür kann ich doch nichts! Ist es das? Haben Sie mich deswegen verhaften lassen, nur weil ich irgendetwas geträumt habe, das den Mordomaten hat anspringen lassen? Das kann ja wohl nicht wahr sein, oder???'
'Ned tun'S Ihnen aufregen,' mahnte Wendler, 'die Fragen hier stelle immer noch ich und wenn der Mordomat anschlägt UND der Algorithmus gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit als hoch bewertet, daß hier tatsächlich ein Mord geschehen ist, dann ist es unsere Pflicht, der Sache nachzugehen, das wissen Sie genausogut wie ich. Oder sollen wir uns Nachlässigkeit vorwerfen lassen, nur weil wir alle Morde, die nachts geschehen, auf irgendwelche Träume zurückführen und lieber in der warmen Wachstube sitzen bleiben?'
'Nein, natürlich nicht, aber haben Sie in meiner Wohnung eine Leiche gesehen? Nein, haben Sie nicht. Ohne Leiche keine Anklage. Sie können mich hier nicht grundlos festhalten! Ich muß nach Hause, der Hund will raus!'
'No, hätten's Ihnen eine Katze gekauft, die macht weniger Arbeit,' entgegnete Wendler ungerührt.
Petrov verdrehte im Hintergrund die Augen. Sein Kollege war und blieb ein sadistisches Arschloch. Natürlich mußten sie den Anzeigen des Mordomaten nachgehen, genauso wie ein Feuerwehrmann jedem Alarm nachzugehen hat, auch wenn es dann statt des erhofften Großbrandes doch wieder nur ein Hotelgast war, der heimlich auf der Toilette geraucht hatte. Dennoch war es absolut unnötig, jedes Mal so einen Zirkus zu veranstalten, die Leute auf die Wache zu zerren und stundenlang zu demütigen. Aber er konnte ihn nicht davon abhalten. Wendler war sein Vorgesetzter, trotz dessen Jugend. Seit der Sache mit Olga war er nicht mehr befördert worden und würde es wohl auch nie mehr werden.
'Hören Sie, Sie müssen mir glauben!', beschwor der Gefangene sein Gegenüber. 'Ich habe keinen Mord begangen! Sie können mich hier nicht länger festhalten. Die Zeiten sind hoffentlich vorbei, in denen man Leute wegen nix eingesperrt hat!'
'No, Vorsicht! Wenn Sie so weitermachen dann wird das hier ganz schnell eine Sache für den Verfassungsschutz. Wegen nix san die Leut auch damals ned eing'sperrt worden. Wer ansteckend ist gehört isoliert, und wer Morde begeht gehört eingesperrt. Und nur weil Sie heute Nacht lediglich von der Ausführung eines Mordes geträumt haben bedeutet das nicht, daß Sie nicht das Potential haben, einen Mord zu begehen. Sie haben schon recht, der Mordomat kann das noch nicht so recht unterscheiden warum die Aktivität in diesem bestimmten Hirnareal zunimmt. Ob der Betreffende nun tatsächlich gerade einen Mord begeht oder ob er nur daran denkt. Aber allein die Bereitschaft zählt ... und wenn der Algorithmus dann berechnet, daß bei Ihnen die Mordwahrscheinlichkeit stark erhöht ist, dann können wir Sie nicht so einfach laufen lassen. Das werden Sie doch einsehen müssen. Die Bevölkerung muß geschützt werden. Vor Viren genau wie vor Mördern.'
'Was soll das heißen, Mordwahrscheinlichkeit stark erhöht', heulte der in die Enge Getriebene auf. 'Was für eine Mordwahrscheinlichkeit! Wen sollt ich denn umbringen? Ich hab doch garkein Motiv?'
'Na, sollen wir Ihnen das vielleicht auch noch liefern?, höhnte Wendler. 'Außerdem, noch nie was von Mord im Affekt gehört?' Wieder verdrehte Petrov die Augen. Mord im Affekt. Das wär dann höchstens Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge, aber Wendler war jetzt voll in Fahrt, da mußten sie jetzt alle durch, ob sie wollten oder nicht. Eigentlich sah er diese Stückerln seines Chefs manchmal nicht einmal ungern.
Natürlich war es grundfalsch was da ablief, andererseits verging so die Zeit bis zum Feierabend schneller, als wenn man lediglich tatenlos herumsaß. Seit der weltweiten Pandemie damals in den Zwanziger Jahren waren die Leute so verängstigt und handzahm, daß kaum noch Verbrechen verübt wurden. Und wenn, dann kam man ihnen dank der stark verbesserten Überwachungstechnologie recht rasch dahinter.
Allerdings war dieser Fortschritt eine ambivalente Sache. Die zu rasche Entwicklung der künstlichen Intelligenz hatte oft groteske Auswirkungen. Immer öfter wurden Neuerungen eingeführt, noch bevor sie völlig ausgereift waren. Was bei Autos lediglich leichte Kollateralschäden verursachte, führte in der Justiz jedoch bald einmal zum völligen Chaos.
Der Verhaftete war inzwischen zum wimmernden Wurm geworden - wie die meisten Leute war er ohne Kaffee in der Früh einfach zu nichts zu gebrauchen, nicht einmal dazu, sich vernünftig selber zu verteidigen. Anwalt hatte er, wie alle rechtschaffenen Leute, natürlich keinen. Wozu auch. Wer glaubte schon daran, daß man ihn eines Tages wegen eines Mordes verhaften würde, den er noch nicht einmal begangen hatte? Genausogut könnte man an Magie glauben oder an winzige Zwerge, die nachts Socken, Armbanduhren und Autoschlüssel umhertrugen, so daß man sich am nächsten Morgen fluchend alles wieder zusammensuchen mußte.
Am Ende würde Wendler den Mann gehen lassen müssen, wie jedes Mal. Aber wann dies der Fall war, das bestimmte Wendler alleine. Achtundvierzig Stunden können sehr, sehr lange sein, und man konnte in dieser Zeit eine Menge Spaß haben. Auch wenn das Vergnügen wie immer sehr einseitig sein würde. Immerhin, tröstete sich Wendler. Man konnte nicht alles haben, und ein bisserl was geht immer ...