Die Abwesenheit von Sonne
Die Abwesenheit von Sonne
September 1969: Wie ein grimmiger Moloch breitet sich das imposante Industriegelände um das alte Kohlebergwerk vor ihm aus. Mit seinen finsteren, rußgeschwärzten Nebengebäuden nimmt es fast den gesamten Horizont ein. Kein Mensch weit und breit, nur ein schäbiger, alter Leuwagen lehnt vergessen am Eingangstor. Der typische Geruch von Kohle liegt noch immer in der Luft, doch die Maschinen sind längst verstummt, die Werkhalle verlassen.
An einer geschützten Stelle hat Georg sein Stativ aufgebaut. Er wartet schon einige Zeit im Windschatten auf eben diesen Moment, in dem sich ein paar Wolken vor die Nachmittagssonne schieben. Das Licht verändert sich, wird diffus und weich. Er sieht durch den Sucher der Kamera und stellt die Entfernung neu ein. Die pittoresken Sonnenflecken auf den Backsteinmauern der Zeche verblassen langsam, das Spiel von Licht und Schatten auf den blinden Fensterscheiben erstirbt. Der alte Förderturm wirkt im Zwielicht der einsetzenden Dämmerung noch plastischer. Nichts lenkt mehr ab von der schlichten Eleganz seiner Formen, die ebenso zufällig wie wundervoll ist.
Dieses Zeitdokument gilt es festzuhalten, denn bald schon könnte es verschwunden sein. Zuerst dem Verfall, dann dem Abriss anheim fallen und für immer in Vergessenheit geraten. Doch das wird er, Georg, verhindern, das ist sein erklärtes Ziel, ja, seine Berufung.
Er macht einige weitere Aufnahmen, verschiebt mehrfach die schwere Plattenkamera, um das Objekt in gleichmäßigen Winkeln von allen Seiten aufzunehmen. Einzelne Schweißtropfen rinnen von seiner Stirn in die Augen. Er richtet sich auf und nimmt die Brille ab, wischt sich mit einer unwirschen Bewegung über das Gesicht. Dann wechselt er die Fotoplatte aus für eine weitere Serie von Aufnahmen.
Beim Fotografieren vermeidet er jede künstlerischen Effekte, die gerade so in Mode gekommen sind, wie die Überbetonung von Details, Verzerrungen der Perspektive oder expressionistisch anmutende Kompositionen. Das Objekt soll für sich selbst stehen. Wie gern möchte er die Fotografie von ihren romantischen Auswüchsen befreien! Oft genug fühlt er sich wie ein Rufer in der Wüste, weil er nach strengen Regeln arbeitet, die er sich auferlegt, um sich einer dokumentarischen Objektivität anzunähern.
Viel Zuspruch und Anerkennung hat er bisher nicht für seine Arbeit geerntet, geschweige denn, dass ihn sein karges Einkommen ernähren könnte. Doch das interessiert ihn nur am Rande. Für Georg gibt es nur eine Person auf der Welt, auf deren Meinung und Rat zählt und deren geschultes Auge er schätzt: das seiner Frau Hiltrud, die ihn auf seinen anstrengenden Missionen begleitet. Von Anfang an war sie eine der wenigen in der Düsseldorfer Akademie, die seinen Blick für Sachlichkeit verstand und teilte.
Außerdem weist seine kluge Frau neben ihrem Fachwissen eine Kommunikationsfähigkeit auf, die ihm völlig abgeht. Sie ist es, die mit den Fabrikbesitzern um die Genehmigungen verhandelt, um die Industriebauwerke fotografieren und katalogisieren zu dürfen. Solch Alefanz überfordert ihn völlig, die entsprechende Diplomatie ist ihm einfach nicht gegeben. Doch es geschieht immer wieder, entgegen Hiltruds geschickter Interventionen, dass sie mit ihrem roten VW-Bus umsonst anreisen, und sich gezwungen sehen, frühzeitig wieder zu retirieren. Ihre Anwesenheit wird von den Industriebossen nicht gern gesehen. Oft werden sie nur widerwillig geduldet.
Ebenso wenig hat Georg Interesse daran, sich der Kunstszene „anzubiedern“, wie er es nennt, und seine Fotografien wie Sauerbier anzupreisen. Es liegt ihm nicht, sich zu verkaufen. Dank Hiltruds Talent, Verbindungen und Beziehungen aufrecht zu erhalten, gibt es nun die ersten Ausstellungen seiner Werke. Er weigert sich allerdings standhaft, zur Vernissage anzureisen, weil er sich für eine „Bespaßung für Neureiche“ nicht von seiner Arbeit abhalten lassen will. Er hat ohnehin weder Lust noch Nerven, mit Menschen über seiner Fotografien zu diskutieren, deren Horizont sich auf das Niveau von Effekthascherei in Selfie-Automaten-Manier beschränkt. Was für eine Zeitverschwendung!
„Georg, du bist unverbesserlich! Ein wahrhaft Besessener!“ kommentierte Hiltrud seine Entscheidung lachend, und bei der Erinnerung daran wird ihm warm ums Herz. Weiß er doch, dass es gerade seine Hartnäckigkeit, ja, seine seine Passion ist, die sie besonders an ihm schätzt und liebt.
Die Sonne hat sich durch den verhangenen Himmel gekämpft. Geblendet vom Licht, reibt er sich die Augen und streckt seinen schmerzenden Rücken. Von Ferne sieht er, wie Hiltrud ihm über das Fabrikgelände entgegen kommt. Ihr helles Haar erinnert ihn an ein Weizenfeld im Sommer, an lange, zärtliche Nachmittage in saumseliger Muse. Sie winkt ihm zu und beschleunigt ihre Schritte. Die nackten Arme und Beine sind braun gebrannt und bilden einen reizvollen Kontrast zum ausgeblichenen Blau der Jeans und dem schlichten weißen T-Shirt.
Ein längst vergessenes altes Bild blitzt in ihn auf, wie ein verblichenes Schwarzweiß-Foto: Ein Mädchen läuft über ein Trümmerfeld, die blonden Zöpfe fliegen bei jedem ihrer Schritte. Asche wirbelt auf, das Feuer schwelt noch, es riecht verbrannt. In seinem Traum eilt er ihr nach, ruft ihren Namen, doch jedes Mal erwacht er, bevor er sie einholen kann.
In diesem Moment verschmelzen das Mädchen aus dem Traum und seine Frau zu einer Person, die jetzt vor ihm steht und ihn anlächelt. Georg spürt, wie sich Wärme in ihm ausbreitet. „Lass mich dein Adlatus sein – morgen!“ flüsterte Hiltrud und schlingt ihre Arme um seine Taille. Der Blick ihrer tiefblauen Augen ist eindeutig und einladend. Georg streicht ihr bedächtig eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. Dann küsst er sie.
„Du hast Recht, Liebste, es ist genug für heute“, murmelt er und zieht sie an sich, gräbt die Nase in ihr duftendes Blondhaar. „Lass uns zum See hinunter fahren!“ Kamera, Stative und Zubehör werden eingeladen in den roten VW-Bus, der ihnen ein zweites Zuhause geworden ist.
Der See in der Nähe der Zeche liegt verschwiegen an einem Wäldchen. Es ist einer dieser milden Septemberabende und das FKK-Strandbad hat geschlossen. Vereinzelte, blau gestrichene Strandkörbe stehen auf verwaistem Strand. Als Georg mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern vom Bus zurückkehrt, ist Hiltrud damit beschäftigt, die verwaschene Flickendecke am Strand auszubreiten. Er hält inne und betrachtet ihre schlanke Gestalt im Gegenlicht. Sie trägt nur noch das weiße Shirt, das ihren Po hervorblitzen lässt, als sie sich reckt, um die Decke gerade zu ziehen. Georg sehnt sich danach, ihre Haut zu liebkosen, will die Spur ihres vertrauten Geruchs nach süßem Schweiß, nach Gras, Erde und Freiheit aufzunehmen.
Sie spürt seine begehrlichen Blicke und richtet sich auf, sieht mit strahlenden Augen zu ihm hinüber. Seine Erregung verbindet sich mit ihrer Freude am puren Augenblick. Hiltrud legt den Kopf in den Nacken und lacht, ein helles, glückliches Mädchenlachen. Mit einer übermütigen Bewegung zieht sie das Shirt über den Kopf und läuft hinunter zum Wasser.
Georg betrachtet zärtlich seine nackte Frau, die sich nun mit einem spitzen Aufschrei ins kühle Wasser gleiten lässt. Die Sonne gießt ihre letzten rotglühenden Strahlen über den See, als Hiltrud sich auf den Rücken dreht und ihren Körper auf den sanften Wellen bettet. Die Spitzen ihrer kleinen Brüste erheben sich aus der Wasseroberfläche, süß und verführerisch wie wilde Brombeeren. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen.
Schnell schlüpft er aus den Sandalen, zieht er sich aus, lässt die Kleider achtlos fallen. Und folgt seiner Muse, der Verlockung seiner Sirene, seiner Geliebten und Komplizin.
• * *
Zu dieser Geschichte inspiriert wurde ich durch die Biographie von Bernd Becher, dem Begründer der Düsseldorfer Fotografenschule. Handlungen und Personen der Geschichte sind natürlich frei erfunden.
Bernd Becher (*20. August 1931 in Siegen; † 22. Juni 2007 in Rostock) und Hilla Becher, geb. Wobeser, (* 2. September 1934 in Potsdam; † 10. Oktober 2015 in Düsseldorf) erwarben als Künstlerpaar mit ihren Schwarz-Weiß-Fotografien von Fachwerkhäusern und Industriebauten (wie Fördertürmen, Hochöfen, Kohlebunkern, Fabrikhallen, Gasometern, Getreidesilos und komplexen Industrielandschaften) internationales Renommee als Fotografen.