Das Arschloch-Gen
Mein Freundin sitzt mit Katzenjammer bei mir am Frühstückstisch, das Gesicht vom zu kurz gekommenen Schlaf der letzten Nacht etwas verknittert, die Mundwinkel zum Ärger über sich selbst verzogen und in ihrem Blick prangt das schlechte Gewissen wie ein riesiges Reklameschild. Mit beiden Händen klammert sie sich an ihre Kaffeetasse als würde diese ihr irgendeinen Halt gewähren und nachdenklich fragt sie mich:
„ Das war Mist, dass er mich letzte Nacht wieder rumgekriegt hat, gell?“
Will sie darauf wirklich eine Antwort oder ist diese Frage eher rhetorischer Natur? Nicht, dass ich es nicht hätte kommen sehen, doch ich bin auf der Hut. Egal, was ich jetzt nämlich antworte, es wird falsch sein.
Auf der einen Seite steht ein klares „Ja“, denn letztlich kann ihr Ex einen zweifelhaften Erfolg verbuchen, weil sie noch einige Stunden zuvor auf der ausgelassenen Party, sein eindeutig zweideutiges Angebot, ihre ehemalige Beziehung für einige Stunden wiederzubeleben, noch brüsk abgelehnt hatte.
Und auf der anderen Seite ein „Nein“, weil sie so glücklich dabei war. Sie sprühte nahezu vor Esprit und sexueller Energie in ihrem koketten Spiel mit ihm wie schon lange nicht mehr. Necken, provozieren, sinnliche Augenaufschläge, aufreizende Bewegungen, das lockende Timbre ihrer Stimme; kurz: Das gesamte Repertoire eines gelungenen Flirts. Sie wollte ihn erregen und er sich von ihr hochtreiben lassen, sie wollten beide ihren Spaß haben, sie jedoch anders als er.
Er wollte sie erneut körperlich besitzen, weil es ihn störte oder reizte, dass sie sich ihm durch den Schlusstrich in ihrer Beziehung entzogen hatte. Sie war kurzzeitig wieder interessant für ihn. Er konnte nun wieder jagen, sie umwerben, was er auch in aller Intensität tat. Sein genetisches Programm war aktiviert oder weniger fein ausgedrückt - er war geil auf sie und wie!
Dagegen wollte sie ihn erst zum Lustwahn treiben um ihn dann am ausgestreckten Arm verhungern lassen. So ihr Plan - als Rache für seine wiederholten Kränkungen ihrer Person, das ständige Lügen, das wiederholte Fremdgehen, das Ende ihrer Beziehung. Sie hatte, zumindest zu Beginn des Abends, noch nicht auf dem Radar gehabt, wie diese Nacht enden würde – nämlich wieder mit Herzeleid und Kummer für sie statt mit Frust für ihn.
Nur zu gut konnte ich nachempfinden, was in ihr vorging und warum ihre Situation so war, wie sie war, war ich doch selbst auch nicht klüger. Ich hatte kein Recht sie zu tadeln, ich konnte ihr nur mein Mitgefühl schenken und versuchen, sie seelisch zu stärken. Als Himmelsstürmer hatten wir beide begonnen – jede mit einem anderen dieses mehr als anziehenden Typs - Marke: Mann von Welt - dem die Dominanz schier aus jeder Pore tropfte, der uns mit gutem Aussehen, mit Eloquenz, seinem unwiderstehlichen Sexappeal und dem gewinnenden Lächeln aus blauen Augen, sprichwörtlich herunter auf unsere Knie zwang, uns bewegungslos fesselte und unser Herz versklavte. Weder ein Seil noch eine Peitsche brauchte es dazu. Ein Blick genügte.
Der Trip mit diesen, in ihren Bann ziehenden Rasputinen, der nur eine Richtung führt, nämlich in unser Verderben, weil wir dummen Mädels blöderweise Gefühle für sie entwickelt haben, die sie ihrerseits so aber nicht teilen, gleicht einer Astralreise. Allein ihre Gegenwart macht uns zu verzauberten Wesen, ihre Liebeskunst befördert uns in derlei ungeahnte sinnliche und lüsterne Welten, dass wir glauben, mit dem magischen Strom des Universums eins zu sein. Eine transzendentale Erfahrung nach der anderen bescheren sie uns und so werden sie für uns zur unverzichtbaren Droge. Wir empfinden es so überwältigend, weil sie für uns etwas besonderes sind, wir lesen ihnen ihre Wünsche von den Augen ab, sind, wie immer sie uns haben wollen. Wir sind so, weil wir sie lieben, weil wir nicht mit jedem x-beliebigen Typen herumrammeln können oder würden, nur mit denen, für die wir "mehr" empfinden. Dusslig, aber wahr!
Nach diesen Höhenflügen und damit allein nach ihnen, weil andere uns das nicht auch nur annähernd bieten können, sind wir süchtig. Sie sind für uns wie das Ras el-Hanout fürs Couscous – der Gipfel des Mount Everest für den ehrgeizigen Bergsteiger, das Ziel unseres Sehnens. Sind sie uns fern, dann erleben wir kalten, grausamen Entzug mit all seinen Folgen. Wir dürsten nach ihrer Aufmerksamkeit, jedem WApp, nach jedem Brocken, den sie uns vor die Füße werfen und sich dabei über uns insgeheim amüsieren. Sie sind die Meister der Puppen, denn nicht nur wir tanzen so, wie sie es wünschen. Nach Gutdünken erheben sie uns über ihre anderen Gespielinnen oder lassen uns fallen wie seinerzeit die Mameluken ihre Herrscher, wenn eine kommt, die aufregender ist als wir selbst.
Nicht, dass wir das nicht wüssten, geistig verblödet sind wir ja nicht. Wir sehen das Elend in aller harten Deutlichkeit, auch die Konsequenzen für uns, aber wir sind nun mal herzensdämlich.
„Herz über Kopf“, wie in diesem blöden Lied.
Scheiß Gefühle! Die bringen nur Ärger.
Wo ist der Abstellknopf dafür in unseren Körpern?
Wo der Kaltblütigkeitshebel, den „unsere“ Ab-und-an-Männer, für die wir letztlich nur Mittel zum Zweck sind, offensichtlich alle haben?
Was ist die Alternative zu diesen ungesunden Beziehungen? Trennen wir uns aus sogenanntem Selbstschutzgründen von ihnen, dann ist das Loch, in das wir fallen so tief wie der Mariannengraben. Erscheint dann ihr lächelndes Gesicht nach einiger Zeit oben am Rande des Abgrunds und schaut auf uns, dann steigen wir nur allzu gern wieder auf, wie Nebel im Sonnenlicht. Sie wirken auf uns wie Riechsalz in unserem bleiernen Zustand zwischen Leere und Nichts. Und der Dealer lächelt sich mit diebischer Freude eines, denn er weiß, dass wir den nächsten Schuss brauchen und mit unserer Substanz zahlen. So wie meine Freundin letzte Nacht.
„Warum kann ich nicht mal einen netten Mann kennenlernen, einen, der kein Egomane, kein chauvinistischer Macho ist? Einer, der mich so liebt wie ich ihn und der mich nicht wie eine Figur auf seinem Schachbrett der Lüste hin und her schiebt?“, jammert sie nach einer längeren Pause.
„Weil du so einen Mann gar nicht sehen oder wahrnehmen würdest, wenn du einen treffen würdest. Weil die lieben, guten Typen nun mal kein Arschloch-Gen haben, das sie so anziehend macht und für die nicht nur du offensichtlich einen besonderen Rezeptor hast“, antworte ich trocken und verschlucke mich fast.
Autsch!
„Arschloch-Gen?“, jetzt lächelt sie trotz ihrer verräterisch feuchten Augen, „wirst du jetzt wissenschaftlich oder was? Gab`s darüber einen Artikel im PM oder hast du dir das eben ausgedacht?“
„ Das sagt mir meine Erfahrung Liebes. Wie viele Typen mit dieser Anlage hattest du schon in deinem Leben? Na?“, fordere ich sie heraus.
Sie zieht ihre Stirn kraus und anscheinend arbeitet es dahinter intensiv.
„ Willst du damit sagen, dass ich nur auf Arschlöcher stehe?“
Dabei grinst sie breit und ihr Kummer ist für einen Moment vergessen. Vielleicht fallen ihr dabei auch noch andere Assoziationen zu dem A-Wort ein.
Wie auch immer!
„Warum hängen wir bloß so an diesen Mistkerlen? Und nicht nur wir. Zumindest sind wir nicht allein so dämlich“, fügt sie nach einem Moment wieder verzweifelt hinzu. Im Geiste geht sie die Anzahl ihrer Leidensgenossinnen durch.
„Genauso ist es meine Liebe! Das Arschloch-Gen bei einem Typen ist wie die Marinade an einem Grill-Steak, ohne die schmeckt es fad. Sie bringt dich auf Touren, vor allem wenn sie so scharf ist wie dein G…..“, erwidere ich und mir wird beim Reden auch selbst so einiges klar.
„ Das Arschloch-Gen wirkt so anziehend auf uns, weil es uns herausfordert, es reizt uns, es weckt unseren Widerspruch, Kampfgeist, Ehrgeiz. Es bringt uns dazu, uns anzustrengen, besser als die Konkurrenz zu sein.“
Meine Freundin schaut mich verdutzt an.
„ Aha, dann fördert das Arschloch-Gen also die natürliche Auslese oder wie?“, jetzt bricht sie tatsächlich in ein herzliches Lachen aus. Nur einen Moment, dann fügt sie leise hinzu: „ Und macht uns blöd und uneinsichtig gegenüber denen, die es wirklich gut mit uns meinen.“
„ Stimmt.“, das Gespräch geht nun in eine unschöne Richtung. „ Was sind wir dann, wenn wir auf Typen mit dem Arschloch-Gen stehen?“, fragte ich sie, „ sind wir im Umkehrschluss nun auch Arschlöcher oder nur Tussis mit einem dazu passenden Dämlichkeits-Rezeptor?"
Jetzt bin ich sehr nachdenklich und fühle einen Stich in meinem Herzen. Als Arschloch sehe ich den Mann mit dem aber unzweifelhaft vorhandenen Arschloch-Gen in meinem Herzen wirklich nicht.
Dämlich fühle ich mich auch nicht. Naja, jedenfalls nicht, wenn wir zusammen sind.
Dann fühlt es sich immer richtig und gut an. Meine Freundin sieht es für sich wohl ähnlich.
Vielleicht kann man es mit der Sucht nach Nikotin vergleichen? Da gibt es auch Rezeptoren für im Gehirn oder eben auch nicht. In unserem Fall: Es gibt Frauen, die sind immun gegen diesen Typ Mann, sie lassen sie abblitzen und ersparen sich damit jede Menge Kummer. Bewundernswert! Ich erinnere mich. Es gab einmal eine Zeit in meinem Leben, da war ich es auch und dann - peng! Meine Immunität hat sich davon gestohlen wie ein Dieb in der Nacht. Einfach weg. Wann hat es angefangen, dass ich mich veränderte? Was war der Auslöser? Ist das vielleicht gar nicht genetisch? Freier Wille? Oje, das ist zu philosophisch für eine fast durchgemachte Nacht und erst einen Kaffee! Wie auch immer, jetzt sind wir es nicht mehr - immun. Willkommen in der Realität!
„Natürlich sind wir weder Arschlöcher noch dämlich! Komische Frage! Wir sind liebevolle Frauen mit Gefühl und einem großen Herzen!“, kommt es entrüstet von ihr zurück und wendet sich wieder ihrem Kaffee zu, starrt in die Schwärze des bitteren Getränks als sähe sie darin das Spiegelbild ihres schon wieder gebrochenen Herzens.
Schweigend frühstücken wir weiter, immer mit einem Auge auf unser Handy gerichtet. Uns ist anscheinend nicht zu helfen. Immunitäts-Spender gesucht!