Kampfschnitzel
„Wie geil, ich kann es immer noch nicht fassen, dass wir endlich diesen Urlaub zusammen machen. Geil. Geil. Geil!“„Siehst Du, Hans, ich habe dir nicht zu viel versprochen. Cheers!“
Andreas hob sein Bierglas an, sie prosteten sich zu und nahmen einen enormen Schluck aus den gut gefüllten Pilsgläsern. Er wischte sich den Schaum von der Oberlippe und schaute Hans an. Grau war er geworden, sein alter Freund. Viele graue Strähnen zogen sich durch Hans´ Haare, die aber für sein Alter kurz vor der Fünfzig immer noch erstaunlich zahlreich und dicht waren. Andreas lächelte ihm zufrieden zu:
„Hat ja fast zwanzig Jahre gedauert, aber dafür freue ich mich umso mehr, endlich mal mit dir hier zu sein.“
„Du hast nicht zu viel versprochen, Andreas. Es ist ein Traum. Ich war ein gefühltes Jahrhundert nicht mehr so entspannt. Wahnsinn. Schau dir das an…“
Ihre Blicke schweiften nach draußen, durch die große Glasfront der Kneipe, in der sich die Freunde das erste wirklich kalte, frisch gezapfte Bier ihres Urlaubs gönnten. Sie hatten einen kleinen Stehtisch an der Wand ergattert und konnten schräg durch die Fenster sehen. Sie hockten nebeneinander, weil an dem hohen Tisch nur noch die festgeschraubten Sitzbänke an der Wand frei waren. Alle anderen Barhocker waren besetzt und irgendwo im Gastraum verteilt. Links neben ihnen saßen noch mehr Gäste in einer Art Nische, die keinen Ausblick hatten, was diese Gäste aber nicht weiter störte, weil sie tief in aufgeregte Diskussionen in fremden Sprachen verstrickt waren.
Der Blick durch die Fenster war grandios. Ein großer Platz, auf dem es von Menschen wimmelte. Viele junge Menschen, schöne Menschen. Frauen in knappen Kleidern, Jungs auf Motorrollern, Familien mit Kindern, Taxis, Bikes und Busse, die sich hupend den Weg bahnten. Dahinter ein paar pittoreske Häuser, die Hans an die alten Piratenfilme seiner Kindheit erinnerten. Zwischen den Häusern eine breite Straße, die zum Hafen führte und den Blick auf eine Bucht freigaben. Dort versank die Sonne im offenen Meer zwischen zwei Bergen. Hätte jemand ein überdimensionales, kitschiges Poster zwischen die Häuser der Hafenstraße gespannt, es wäre Hans egal. Dies war sein lang ersehnter Urlaub mit seinem besten Freund Andreas. Nicht nur dass: Es war ihm endlich gelungen, diesem verdammten Weihnachten zu entfliehen. Seit Jahren flüchtete Andreas vor diesem durchkommerzialisieren Wahnsinn, während Hans an Familie und Heimat gebunden war. Nach Silvester hörte er sich jedes Jahr neidisch die Erzählungen seines Freundes beim gemeinsamen Kegelabend an, während er nichts zu berichten hatte:
„Weihnachten? Wie immer. Kinder, Oma, Gans und Rasierwasser.“
Doch jetzt waren die Kinder aus dem Haus. Feierten mit Partnern und Freunden. Weihnachten plötzlich alleine mit seiner Frau – diese Vorstellung bereitete Hans Panik. Also fädelte er es irgendwie ein, dass seine Gattin die Idee gut fand, die Feiertage mit ihren alten Freundinnen zu verbringen, welche alle mittlerweile geschieden, in den Wechseljahren oder schon immer Singles waren. Sie nannten es „Projekt Krampfadergeschwader“. Als eigene gute Tat verkaufte er ihr, seinen Freund Andreas in den Urlaub zu begleiten, damit sich dieser ewige Single an Weihnachten nicht zu einsam fühle. So weit weg. In der Fremde. Diese Einsamkeit.
„Nicht umsonst liege ich dir seit Jahren damit in den Ohren, mich endlich mal zu begleiten“, sagte Andreas mit ausgebreiteten Armen, die so viel bedeuteten wie: Hier ist meine Welt!
„Ich bin schon so lange jährlich hier, ich kenne mich aus. Ich kann uns alles besorgen. Partys, Drogen, Frauen – wenn du willst, auch junge Männer – oder irgendwas dazwischen.“
Nein, danke“, erwiderte Hans. „Fürs erste bin ich mit einem guten, klassischen Schnitzel mit Pommes schon voll und ganz zufrieden zu stellen.“
Dabei deutete er an, dass eine Bedienung gerade im Anmarsch war, um ihnen ihr Essen zu bringen. Freundliche Worte und Geld wechselten den Besitzer, fasziniert schaute Hans zu, wie Andreas hier den Alltag managte, als hockten sie gerade im heimatlichen Ruhrpott in einer Eckkneipe.
„Hau rein, Kumpel“, forderte Andreas Hans mit dem erhobenen, frisch aufgefüllten Bierglas auf. „Denk dran, man weiß nie, wann es das letzte Schnitzel ist!“
Hans im Glück. Das Schnitzel löste Gefühle aus, als wäre er ein Sultan im Palast, wo ihm leicht verhüllte Grazien frische Meeresfrüchte und andere erlesen Speisen aus allen Ländern der Welt servieren. Es schmeckte anders als das Schnitzel von Erwins Imbissbude. Die Luft. Die Stimmung. Das Klima. Die Freiheit. Genüsslich schloss Hans die Augen …
… und riss sie erschrocken wieder auf, als mit einem ohrenbetäubenden Knall die Scheiben der kleinen Kneipe barsten.
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Endlich. Jetzt war es so weit. Semir konnte endlich zeigen, was in ihm steckte. Dabei war er auf dem Weg zum Heldentum trotz allem leicht nervös. Das flaue Gefühl in der Magengrube konnte er nicht vollständig ignorieren. Es kamen nur zwei Möglichkeiten in Frage: Entkommen oder sterben. Gefangenschaft ist keine Option. Cem steuerte den unauffälligen Peugeot 207, die schöne Beyza saß ruhig auf dem Beifahrersitz und Semir teilte sich die Rückbank mit Rafat, der früher Ronny hieß. Sie hatten einen Auftrag und sie würden ihn aus Überzeugung und mit Freude erfüllen. Dem Schmutz der kapitalistischen, westlichen Welt, diesem Vegetieren ohne Sinn und Verstand musste etwas entgegen gesetzt werden. Es war an der Zeit, dieses Leben ohne Werte von der heiligen Erde zu spülen. Endlich.
Semir war sich nicht sicher, ob sein Vater stolz auf ihn sein würde. Wenn er ehrlich zu sich war, konnte er das nicht erwarten. Sein Vater war seit Jahrzehnten verblendet von der schillernden Ideologie der Ungläubigen. Er wollte einer von ihnen sein, aber konnte nicht begreifen, dass sie ihn nicht unter ihresgleichen haben wollten.
Es gab Zeiten, da war alles gut. Semir wurde in dieser deutschen Kleinstadt geboren. Sein Vater verdiente gutes Geld mit einer winzigen, aber feinen Dönerbude. Semirs Schwester Ela und sein Bruder Perk sprachen – genauso wie er – perfektes Deutsch. Alle Kinder machten das Abitur. Auch Semir als jüngstes von drei Kindern. In dieser längst vergangenen Zeit strebte Semirs Vater die Verwirklichung seiner Träume an: Ein gehobenes, türkisches Restaurant. Kein Döner 08/15, sondern edle, hochwertige Speisen. Dafür kaufte er ein verlassenes, kleines Restaurant mit wenigen Fremdenzimmern. Er richtete darin verschiedene Räume ein: Shisha-Bar, Party-Lounge und natürlich den stilvoll eingerichteten Restaurant-Bereich. Doch das Konzept ging nicht auf. Die Deutschen wollten keine edlen türkischen Speisen. Sie misstrauten den vielen Cremes und Saucen am Buffet. Türke heißt Döner. Fleisch, Zwiebeln, Salat, Quark, Brot. Mehr nicht. Vielleicht noch Pommes dazu.
Semirs Vater ging Pleite. Die Bank ließ ihn fallen, obwohl er seit seiner Einwanderung nach Deutschland nie Schulden gemacht hatte. Das Finanzamt kannte keine Gnade für verpasste Umsatzsteuerzahlungen. Das brach seinem alten Herrn das finanzielle und seelische Genick. Semir packte dabei die Wut. Er beobachtete seit Jahren, wie sein Vater schuftete, tagein, tagaus. Früh morgens um vier zum Großmarkt, den ganzen Tag grillen und verkaufen, abends Abrechnungen machen. Dabei nie ein schlechtes Wort über die Schweinefresser.
„Wir müssen uns anpassen, Semir“, sagte er, wenn der kleine Semir wütend wurde beim Fensterputzen der Dönerbude, die mal wieder beschmiert war mit Nazisymbolen, oder angespuckt und angekotzt von nächtlichen Horden besoffener Kāfir.
Als sie wegen der finanziellen Nöte in eine kleinere Wohnung ziehen mussten, brannte seine Mutter mit einem Russen durch, der sich in der Krim absetzen wollte. Semirs Vater war ab diesem Moment ein gebrochener Mann. Trotz allem blieb er freundlich zu seinen deutschen Nachbarn. Anpassung? Für Semir war das Maß voll. Er spürte die Ablehnung, die sein Vater nie wahr haben wollte.
„Du kannst tun, was Du willst, Papa. Für die Deutschen bleiben wir immer Kanaken!“
Es war jetzt an der Zeit, zu handeln. Semir hätte studieren können. Aber nach der Pleite seines Vaters musste er nach dem Abitur Geld verdienen. Er jobbte in prekären Verhältnissen, in der Industrie, in Kneipen, im Rotlicht-Viertel. Er war immer noch der Kleine, aber er war kräftig. Die Hänseleien darüber, dass er den gleichen Namen trug wie der zu klein geratene, deutsch-türkische Fernsehpolizist auf RTL, kamen ihm als Türsteher oder Bodyguard zugute. In dieser Zeit lernte er die Leute rund um seine jetzigen Kameraden kennen. Seine deutsche Freundin Silvia hatte ihm nach dem Abitur den Laufpass gegeben, sie ging nach Berlin zum Studieren, er jobbte am Fließband. Die Leute um Cem schenkten ihm eine neue Familie. Nach dem Freitagsgebet hockten sie beisammen und tauschten sich aus. Sie waren sich einig, dass dieses Leben zwischen Coca-Cola und Schweinebraten keine echten Werte zu bieten hatte. Die Ausbeutung und Unterdrückung der islamischen Länder durch kapitalistische Systeme durfte nicht länger hingenommen werden. Der Kampf gegen das System gewann mehr und mehr an Reiz. Junge Krieger wurden wie Helden gefeiert. Seinen Jahresurlaub verbrachte er in Pakistan. Das war Abenteuer, Heldentum, Lebenssinn. Welch ein geiles Gefühl, eine Waffe in der Hand zu halten mit der Aussicht auf Vergeltung. Für all dass, was die Schweinefresser seinem Vater angetan hatten. Für die Demütigungen. Für seine Geschwister, die ihren Lebenssinn im Wertesystem der westlichen Kultur verloren hatten. Für Silvia, die blöde Kuh, die ihn nicht als wahren Mann anerkannt hatte. Für seine Mutter, die jetzt irgendwo im Osten lebte, ohne sich um ihre Kinder zu kümmern.
Semir war sich nicht sicher, ob er die Geschichte mit den 72 Jungfrauen glauben sollte. So genau hatte er den Koran nie gelesen. Aber selbst wenn es eine Lüge war: Würde er bei diesem Auslandseinsatz sterben, wäre sein Vater finanziell gut versorgt. Das hatte ihm die Organisation hoch und heilig versprochen. Ob sein Vater das Geld annehmen würde, wusste er nicht. Der alte Herr war nicht begeistert von seinen Lageraufenthalten und seinen politischen Ansichten. Aber vielleicht wäre er ja doch ein wenig stolz auf seinen Sohn, der den wahren Weg beschritt?
Cem stoppte den Wagen vor der Bar mit den großen Fenstern. Wortlos stiegen alle vier Insassen aus und eröffneten das Feuer ihrer Kalaschnikows auf die Scheiben der Gaststätte. Nie mehr wieder sollte sich hier dieses Gesindel amüsieren und islamischen Boden beschmutzen mit Sex, Alkohol und Schweinefleisch. Allahu akbar!
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Hans sah den Schock in Andreas´ Augen. Er sah den Schrecken in den Augen vieler Gäste der Kneipe. Menschen die zusahen, wie Sitznachbarn in sich zusammen vielen. Einfach nach hinten wegklappten. Männer, die ihre Frauen kurz aufschreien hörten, bevor sie zu Boden vielen. Sie konnten nichts dagegen tun. Splitter flogen durch die Luft, Menschen stürzten und rannten, duckten sich, krochen am Boden entlang. Eine Vase mit einer Rose wurde auf einem Tisch von einer Kugel gesprengt. Fasziniert registrierte Hans dieses kleine Detail in der Fülle des Grauens um ihn herum. In Zeitlupe flog die Blume durch die Luft, der ohrenbetäubende Lärm war für einen Moment ausgesetzt. Die Rose sank nieder auf dem leblosen Körper eines jungen Mädchens. Sie war tot. Ihr Gesicht war so friedlich und so schön – es brach Hans das Herz, obwohl er die Frau nicht kannte.
„Allahu akbar“, hörte Hans jemanden schreien. Wem sollte das gelten? Dem orientalisch aussehenden Gast, der gerade vor ihm in die Knie ging, während ihm eine Kugel das halbe Gesicht wegriss? Welch ein Irrsinn. Hans warf sich zu Boden. Sie hatten einen Platz, der vom Kugelhagel verschont bliebt. Aus seiner niedrigen Position sah er einen jungen Mann mit Maschinengewehr in der Hand, der Lauf seiner Schusswaffe rauchte noch. Der Schütze schaute sich um, hob die Faust voller Stolz, doch in seinen Augen flackerten Unsicherheit und Verwirrung.
„Dummer Junge“, dachte Hans – und in dem Moment packte ihn die schiere Wut. Hans erhob sich. Islamisten! Ganz klar. Bärtig, vermummt, komische Klamotten. Er stand an seinem Tisch. Das Schnitzel dampfte noch heiß in der jetzt eindringenden, frischen Meeresluft. Überall Schreie, Wimmern, Stöhnen. Er nahm den Lappen panierten Schweinefleischs und warf es dem jungen Kämpfer nach, der sich gerade umdrehte, um zum Wagen der vier Attentäter zurück zu spurten. Das Schnitzel traf den Jungen im Genick. Er duckte sich kurz weg und griff sich an den Hals, konnte sich den Vorfall aber nicht erklären, weil das Fleisch bereits zu Boden gefallen war und er sich auf der Flucht befand. Hans schaute ihm nach. Der junge Mann stieg zu den anderen Attentätern ins Fahrzeug und sie verließen mit quietschenden Reifen die Szene.
„Hans? Bist du irre? Wieso wirfst du dein Schnitzel nach diesen Idioten?“
Die Frage von Andreas wecke Hans aus seinen Beobachtungen.
„Keine Ahnung. Ich hab mal was gelesen über Schweineblutkanonen gegen Islamisten, weil die dann nicht mehr ins Paradies kommen, wenn sie nach Schwein riechen…“
Andreas schaute Hans für ein paar Sekunden verdutzt an. Es war jetzt totenstill im Raum. Überhaupt schien die Welt still zu stehen. Dann verbreiterten sich seine Lippen, der Mund öffnet sich, die Augen schlossen sich – Andreas fing an zu lachen. Zuerst leise, dann immer lauter, später hysterisch. Bis die Sanitäter kamen, um ihm eine Beruhigungsmittel zu geben. Hans lauschte indessen den Ereignissen. Ihm war so, als hörte er irgendwo in der Küstenstadt Schüsse. Reifenquitschen. Ein dumpfer Knall…
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So fühlten sich also Helden. Das Adrenalin pulsierte durch Semirs Adern. Den Kick hatte er sich jedoch anders vorgestellt. Früher, als er in der elften Klasse noch mit anderen Jungs auf die Bühne ging, um deutsch-türkischen Hip-Hop zu zelebrieren, hatte er diesen Kick nach den Auftritten erlebt. Ein Höhenflug aus Stolz und Selbstachtung. Aber das hier war irgendwie enttäuschend. Es gab kein Feedback. Dafür waren ihnen erstaunlich schnell die Cops auf den Fersen. Er hörte Beyza schluchzen, Rafat schwieg eisern und Cem fluchte laut vor sich hin. Semir drehte den Kopf nach hinten und sah die Signalleuchten der Polizei.
Rafat flüsterte gepresst: „Die kriegen uns. Hoffentlich war es nicht umsonst. Ich liebe Euch. Die Ungläubigen sollen verrecken…“
Cem steuerte den Wagen rasant durch die engen Gassen, raus aus der Stadt. Wie wild schaukelten sie in dem kleinen Fahrzeug hin und her. Beyza hatte die Kontrolle verloren. Sie lud ihre Waffe mit einem neuen Magazin nach, kurbelte die Seitenscheibe herunter und lehnte sich aus dem Fenster. Sie ballerte ziellos in die Gassen, die Waffe mal zur Seite, mal nach hinten gerichtet, um die Einsatzfahrzeuge abzuschütteln. Cem fing an zu lachen:
„Freunde, 72 Jungfrauen, wir kommen!“
„Blödmann, und ich?“, giftete Beyza zurück.
Rafat schaute zu Semir:
„Stimmt. Hat keiner darüber nachgedacht. Welche Belohnung gibt es eigentlich für weibliche Kämpferinnen?“
„Keine Ahnung, die werden dann halt alle lesbisch, oder so“, zuckte Semir mit den Achseln. Nun lachte alle vier. Sie lachten dem Tod ins Gesicht. Was sollten sie auch sonst tun?
„Ok, nachladen, Leute!“ befahl Rafat und steckte ein neues Magazin in sein Schnellschussgewehr.
Semir tat es ihm gleich und drehte sich um, er wollte durch die Heckscheibe auf ihre Verfolger feuern. In diesem Augenblick wurde er gegen den Beifahrersitz geschleudert, ohne zu wissen, warum. Er spürte kurz, wie ein paar Rippenknochen brachen, bevor die Heckscheibe platzte und das Licht erlosch.
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Ein endlos langer Flur erschloss sich seinem Blick, der noch leicht verschwommen war. Das Ende war nicht absehbar, in weiches, blaues Licht getaucht, verschwand der unendlich lange Gang irgendwo im Nichts der Zentralperspektive. Semir spürte keine Schmerzen. Hatten sie ihn im Krankenhaus mit Drogen vollgepumpt? Er schaute an sich herunter, aber er konnte sich nicht sehen. Es dämmerte ihm langsam, dass er sich auch nicht spüren konnte. Er war nur da. Aber wo?
„Ist hier jemand?“, schrie er ängstlich in den Flur.
„Ja, hier!“
„Klar!“
„Ich bin da …“
„Typisch, ein Neuer!“
„Willkommen im Nichts!“
„hahaha“
Wer redete da? Langsam zeichneten sich Figuren vor Semirs geistigem Auge ab. Der Flur war voller Figuren. Frauen, Männer, Kinder. Durchsichtig waren sie, Irgendwie schemenhaft. Drogen, dachte Semir. Diese Schweine haben mir tatsächlich Drogen gegeben.
„Quatsch, das sind keine Drogen. Schön wär’s. Du bist einfach nur tot.“
„Wer sagt das?“, fragte Semir schreiend in den Raum.
„Egal“, hörte er eine Stimme.
„Ok, sie haben mich erwischt. Und wo sind dann meine 72 Jungfrauen?“
Der Geisterflur mit all seinen Halbwesen brach in schallendes Gelächter aus:
„Er glaubt wirklich daran“
„Warum nicht eine Jungfrau mit 72?“
„Nicht mal 72 Trauben gibt es hier…“
„Was will er mit 72 Jungfrauen? Die können doch nix!“
Semir wurde panisch. Eigentlich müsste ihm jetzt schwindelig werden, so wie es jeder Mensch kennt, der entsetzt feststellt, dass er einen riesigen Fehler gemacht hat. Oder endlich die Lottozahlen gezogen wurden, die man schon seit Jahren spielte und im selben Moment bemerkt, dass der Lottoschein noch in der Hosentasche steckt. Doch es stellte sich kein Schwindel ein. Sich an der Wand festzuhalten, hätte auch keinen Sinn ergeben, denn er konnte seinen Körper immer noch nicht spüren und Semir hatte das Gefühl, durch die Wand durchfallen zu können. Während er noch überlegte, was das alles hier sollte, veränderte sich seine Umgebung binnen weniger Sekunden. Der Raum verkleinerte sich, formte sich zu einer Kugel in der Größe eines Gasballons, der aber nicht aus leichtem Stoff bestand, sonder aus einer Art Wolke. Alles bewegte sich, Muster vermischten sich wie fette Milch in einem Glas heißen Kaffees. In der Mitte des Raums befand sich eine Art Schreibtisch, der ebenso schwammig in blauen und weißen Farbtönen beruhigend vor sich hin waberte. Dahinter saß ein Beamter. Jedenfalls sah der Mann für Semir aus wie ein typischer Sachbearbeiter vom Arbeitsamt.
Semir wurde ungeduldig:
„Aalder, was ist das hier für eine abgefuckte Scheiße? Bin ich im falschen Himmel? Bist du Gott, oder was?“
„Was hast du erwartet? 72 Jungfrauen? Wer daran glaubt, kann auch mit dem Münchner im Himmel Hosianna singen. Außerdem wärst du in dem Zustand nie ins Paradies gekommen. Du stinkst nach Schweinefleisch!“
Semir wollte sich in den Nacken greifen, jetzt wurde ihm klar, was für ein komisches Ding ihn nach der Schießerei im Rücken traf. Aber da war ja nichts mehr. Er fluchte:
„Pis mahluk, hat mich dieses Opfer mit einem Schnitzel beworfen!“
„Tja, unterschätze niemals die Waffen des guten Humors“, lächelte der Beamte feinsinnig vor sich hin,
„doch bevor du hier weiter rumprollst, will ich dir schnell erklären, um was es hier geht, damit die Geschichte ein schnelles Ende nimmt.“
Der Beamte klappte ein riesiges Buch zusammen, in das er die ganze Zeit gekritzelt hatte. Der schwere Buchdeckel gab dabei keinerlei Geräusch von sich. Jetzt schaute er Semir direkt an:
„Dies ist nicht der Himmel. Auch nicht das Paradies. Hier ist die Verwaltungszentrale der Seelensuppe. Egal ob Moslem, Christ, Hindu, Buddhist oder sonst welcher Religion angehörig – wer unzufrieden stirbt, dessen Seele kommt in den Recall. Alle anderen, die zufrieden das Lebenslicht löschen, sind dann einfach weg. Aufgelöst. Man könnte es auch Erlösung nennen. Wie man will. Das macht jede Religion oder Lebensanschauung anders. Nur das versprochene Leben nach dem Tod, so was gibt es nicht. Nur eine Art Seelenwanderung für solche Typen wie dich, die etwas wieder gut zu machen haben.“
„Bei Allah, ich bin doch nicht unzufrieden gestorben. Ich bin ein Held!“
„Ein Held? An Weihnachten, dem Fest des Friedens und der Liebe, unschuldige Menschen töten, nennst du das Heldentum?“
„Der Dschihad ist heilig, alles andere ist Mist!“
Quatsch. Es ist nur eine Anstrengung ohne Sinn. Denke nach: Was hast du gedacht, als du im Auto nach hinten blicktest, der Wagen auf einen parkenden Lastwagen krachte, die Heckscheibe explodierte und sich die Kugel in deinen Kopf bohrte?“
„Allahu akbar!“
Der Beamte lächelte milde:
„Das hast du vielleicht gehört. Gedacht hast du aber nur eines: Mama, Papa, vergebt mir.“
Semir wurde still. Jetzt wäre der Zeitpunkt, um zu weinen. Aber Seelen haben keine Tränen.
„Nun denn …“, fuhr der Beamte fort:
„Du bekommst eine zweite Chance. Aber erst wirst du dich eine Weile in der Seelensuppe aufhalten müssen. Das dient der Läuterung. Sei vorsichtig, was du dort denkst und von dir gibst – es könnten auch einige deiner Opfer unter den schwimmenden Seelen sein."
Der Kugelraum löste sich langsam auf. Semir spürte sich fallen.
„Wenn du soweit bist, wird deine Seele einen neuen Körper bekommen“, hörte er noch die Stimme des Beamten, dann tauchte er wie ein kleiner Regentropfen ein in ein Meer von Traurigkeit.
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„Wäre es zynisch, im Fall des Terroranschlags vor einigen Jahren von einem Glücksfall zu sprechen?“, dachte sich Hans, der ruhig und zufrieden auf der Terrasse seiner Hütte am Meer saß.
Nach dem Aufruhr damals in der Kneipe hatte sich sein Leben komplett verändert. In dem ganzen Chaos traf er auf diese junge Frau, die geschockt und hilflos auf dem Platz vor den zerschossenen Fenstern stand. Ihre Blicke trafen sich und er nahm sie instinktiv in die Arme. Gemeinsam mit Andreas gingen sie zum Krankenhaus der Stadt, um sich auf Anweisung der Polizei sicherheitshalber untersuchen zu lassen. Körperlich ging es ihnen gut. Sie blieben einfach zusammen. Gingen gemeinsamen zu Zeugenaussagen, zur Trauerfeier, checkten zusammen im Hotel aus, in dem sie zufälligerweise beide untergebracht waren.
Sie flogen zusammen zurück nach Deutschland. Hans trennte sich von seiner Frau und lies sich seinen Anteil an Haus und Grundstück auszahlen. Er rief diese junge Frau an. Es war verrückt, er wusste nicht mal ihren Namen, aber sie hatte ihm eine Telefonnummer gegeben. Sie meldete sich mit „Hallo? Simone hier, wer spricht?“
Sie reisten gemeinsam zurück in die Hafenstadt, in der sie sich unter so dramatischen Umständen kennengelernt hatten. In einer Ferienwohnung schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Das erlebte Leid schaffte Leidenschaft. Ein gemeinsames Trauma schweißt zusammen. Gemeinsam fanden sie Heilung und damit die wahre Liebe.
Sie kauften sich eine kleine Hütte am Meer. Für beide ein lange ersehnter Lebenstraum. Fanden Jobs im Tourismus, nicht die große Karriere wie früher in Deutschland, aber von den kleinen Gehältern und von den Ersparnissen konnten sie gut leben. Simone wurde schwanger. Hans machte seinen Frieden damit, nochmals ein „alter Papa“ zu werden und freute sich auf die Geburt seiner Tochter. Taufpate sollte Andreas werden. Der Geburtstermin fiel auf Weihnachten, genau drei Jahre nach der Katastrophe.
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„Es ist so weit!“
Semir stand nach einer gefühlten Ewigkeit wieder vor dem Beamten, der eine Notiz in sein dickes Buch machte und es zufrieden schloss.
„Ich danke euch. Ich werde jedes Leben annehmen, egal welches. Ich werde das Leben ehren und sehe es als meine Aufgabe, Lebensfreude zu spenden.“
Der Beamte freute sich:
„Ich sehe, du hast deine Lektion gelernt. Gehe hin in Frieden. Du wirst den Körper eines neugeborenen Mädchens bekommen. Sie wird Elisa heißen und an Weihnachten in der Stadt geboren, in der Semir starb …“
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Elisa wurde ein glückliches Kind. Sie war beliebt in der ganzen Stadt. Ihr Karma strahlte mehr Freude aus als die aufgehende Sonne über der Hafenstadt. Seltsam war nur ihr Lieblingsessen, welches so gar nicht zu einem so leichten und empathischen Mädchen passte: Schweineschnitzel!
Für diese Geschichte bekam impotentia eine wohlverdiente Feder verliehen!