Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 7)
Halli-Galli
Helgas Kneipe war heute brechend voll. Kappenabend. Früher hasste ich solche Faschingsveranstaltungen. Aber früher hasste ich auch das ganz Dorf. Heute liebe ich dieses ständige Gequatsche mit Hinz und Kunz. Morgens beim Bäcker gegrüßt zu werden, beim Metzger einfach zu sagen „Wie immer“, und eine Wirtin zu haben, die mir automatisch das Weizenbier auf die Theke stellt. Das musste ich mir gerade an solchen Abenden immer wieder eingestehen.
Ich trug nur wenig Verkleidung. Es war nicht mein Ding, den Narren zu spielen. Mein bisheriges Leben und die Jugendjahre in anderen Städten waren närrisch genug. Aber um nicht aufzufallen, trug ich eine Zipfelmütze. So ein gelbes Ding, welches aussah, wie die Schlafmütze vom Deutschen Michel. Von meinem Stammplatz an der Theke hatte ich einen wunderbaren Überblick auf das verrückte Treiben.
Hier dauerte es keine zwei Minuten, bis ich in ein Gespräch verwickelt wurde. Abgesehen vom stummen Olli, der auf dem Hocker neben mir schweigend vor seinem Bier hockte und als einziger keine Kopfbedeckung auf seiner Glatze trug. Von ihm erwartete das auch keiner. Er gehörte quasi zum Inventar. Früher in der Großstadt konnte ich stundenlang an einer Theke sitzen, ohne dass sich jemals ein Gespräch entwickelt hätte. Wenn ich nicht gezielt mit Leuten auf die Piste ging, blieb ich meistens alleine. Außer, ich legte es darauf an, die einschlägigen Bars aufzusuchen, wo jeder Trottel irgendein sturzbesoffenes Huhn abschleppen konnte, um es zuhause oder im Hotel liebevoll zu domestizieren. Was morgens meist so peinlich endete, dass ich alles dafür tun musste, meine Legebatterie bald wieder für mich alleine zu haben.
Ein Kerl gesellte sich zu mir, der mit mir zusammen die Grundschule besuchte. Er trug das Kostüm eines Dressurreiters und fuchtelte ständig, mit der Peitsche in der Hand, durch die Luft. Dadurch wirkte er wie der unerfahrene Praktikant einer Domina, und nicht – wie gewollt – wie ein Edler Herr von und zu Hohenirgendwas. Da nütze auch das Imitat eines Porscheschlüssels nichts, das er sich mit einer Kette an den Gürtel gehängt hatte. Ich wusste nicht mal mehr seinen Namen, aber er schien sich noch an vieles aus meiner Vergangenheit zu erinnern:
„Mensch Peter, haste gesehen, die Paula ist wieder im Land.“
„Ja, habe ich letzte Woche hier gesehen, nur kurz - mit ihrem Mann.“
„Aua?“, fragte mein Gegenüber.
„Nee komm, olle Kamellen. Prost!“
So machte man das hier. Wollte man nicht mehr weiterreden - anstoßen. Einfach, aber alkoholtechnisch gefährlich, wenn man viele Probleme hatte, über die man nicht reden wollte.
Paula. Ich hatte drei Tage gebraucht, um nicht mehr stündlich an sie zu denken. Wie hartnäckig sich eine alte Jugendliebe im Herzen einnisten kann.
„Peter, ich glaub Du schwindelst. Ihr wart doch so dicke damals. Du sollst nicht lügen. Du weißt, was passiert, wenn Du lügst. Dann wirft Frau Mahlzahn mit Kreide nach Dir!“
Ich spielte den Erschrockenen, duckte mich weg und wir lachten herzlich darüber. Frau Mahlzahn war die strenge Lehrerin unserer Grundschule. Woher der Name kam, wussten alle, die in unserem Alter an jedem Sonntagmorgen die Augsburger Puppenkiste sehen durften.
„Hier!“ Der falsche Reitlehrer ohne Adelsprädikat reichte mir einen Schnaps:
„Du weißt doch – wenn ich einmal traurig bin, dann trinke ich einen Korn …“
Ich nahm ihm das Glas ab und ergänzte:
„… und wenn ich dann noch traurig bin, dann trink ich noch ein Korn.“
Unsere Gläschen berührten sich mit einem klickenden Geräusch.
„Auf Heinz Erhard, ein weiser Mann!“, sagte er noch, und schon stürzten wir uns das Gesöff in die Kehlen.
Meine Blicke schweiften über die Menge im voll besetzten Gastraum. Die saßen an ihren Tischen, viele standen und tanzten auf den freien Flächen dazwischen. Fasching bei Helga war immer was los. Solche Dorffeste sicherten meiner Lieblingswirtin das Überleben. Olli und ich konnten sie schließlich nicht alleine reich saufen.
Manche Gäste hatten sich wirklich Mühe gemacht mit ihren Kostümen. Das liegt sicher auch daran, dass viele von ihnen im örtlichen Karnevalsverein jedes Jahr sehr engagiert sind. Da waren sexy Hasen, deren wohlgeformten, bestrumpften Beine in plüschigen Kostümen mit Bommelschwänzen endeten. Natürlich auch jede Menge Cowboys und Indianerinnen, die gerade zu einem dieser grauenhaften Stimmungslieder tanzten:
„Komm hol das Lasso raus, wir spielen Cowboy und Indianer …“
An diese Musik werde ich mich nie gewöhnen, trotzdem erwischte ich mich schon mal beim Mitsingen, wenn der Alkoholpegel nur hoch genug war. Bei dem Song wartete ich ständig darauf, dass irgendein Cowboy wirklich mal sein „Lasso“ rausholen würde – aber bisher hatte sich nie einer getraut.
Was für ein Schauspiel. Einfach nur hier sitzen und zusehen. Das sollte mir heute völlig genügen. Gerade tanzte ein goldener Bahlsen-Keks an mir vorbei. Einfach klasse, was sich die Leute einfallen ließen. Das Kostüm war unpraktisch, ich fragte mich, wie er damit zum Pinkeln durch die schmale Toilettentür kommen wollte. Aber immerhin sah er zum Anknabbern aus und würde heute Nacht vielleicht seine Naschkatze finden.
Gerade als die Helene-Fischer-Vorahnungspanik in mir hochkam, startete der DJ diesen Song:
„Atemlos, durch die Nacht …“
Neulich, in Hamburg, sangen den Schlager mittags um Zwölf auch ein paar Leute in einer Pils-Bar auf St. Pauli. Allerdings mit geändertem Text grölend:
„Arbeitslos, durch die Nacht …“
Nun gut, da musste ich halt durch, wenn ich mich auf Dorffesten amüsieren wollte. Ich drehte mich zu Helga um und bestellte noch ein Weizen. Trost am Boden des Glases suchend.
„Und sie tanzen nicht?“, fragte mich eine fremde Stimme von der Seite.
Ich schaute mich um. An meiner Seite stand ein Katzenberger-Imitat mit langen, gewellten und sehr blonden Haaren, die bis zur den schmalen Hüften reichten. Ein wogender, ausladender Busen berührte mit leicht am Arm. Die ganze Figur war verpackt in ein enges, knallrotes Kleid, das bis zum Hals hochgeschlossen war. Die vollen Lippen knallrot geschminkt, lange, sicherlich angeklebte Wimpern betonten ihren Augenaufschlag, mit diesem vielsagenden Blick nach oben, bei leicht schräg gelegtem Kopf. Die breite Nase passte nicht ganz in das schmale Gesicht mit markantem Kinn, die Haut sorgfältig mit Make-up bedeckt. Ihr Geruch war atemberaubend.
„Helene-Fischer-Allergie“. Mehr kam mir in der Schrecksekunde nicht über die Lippen.
„Kann ich verstehen …“, raunte sie mit einer erotisierenden, rauchigen Stimme,
„… man muss ja nicht tanzen, um sich zu amüsieren!“
Sie hielt ihr Sektglas hoch und lächelte: „Sláinte“.
„Cheers“, war das einzige ausländische Pendant zu ‚Prost’, welches mir einfiel.
„Sie sind nicht von hier?“, fragte ich neugierig.
„Neeeeeein, ich komme von einem ganz anderen – Stern!“, hauchte sie in tiefem Bass und stieß mich dabei leicht mit dem Ellbogen an.
„Ich bin Philatelistin und interessiere mich für die Briefmarkensammlungen von so netten Herren wie sie. Aber sollen wir nicht Du sagen?“
Meine Güte, die alte Nummer mit der Briefmarkensammlung. War diese Nummer nicht total out? Aber sie brachte es durchaus charmant rüber.
„Ok, you can say you to me“, witzelte ich verlegen und hob das Glas.
„Richtig“, meinte sie: „Zum Du gehört auch das Bruderschaft trinken, oder?“
Also verhakten wir die Arme miteinander, tranken einen Schluck aus unseren Gläsern und küssten uns, als wäre es das normalste Ereignis auf der Welt. Ihre Zunge wollte dabei sofort mit meiner spielen, seltsam erregt erwiderte ich kurz das Zungenspiel, ließ dann aber schnell wieder davon ab. Paula. Was würde sie jetzt denken, wenn sie hier wäre? Bekloppter Gedanke, sie war verheiratet und der letzte Kuss von Paula war über ein viertel Jahrhundert her.
„Peter“, stellte ich mich vor.
„Samantha“, antwortete sie, „warum so schreckhaft, mein Kleiner?“
„Ich war – abgelenkt.“
„Ok, mein Süßer. Dann lenk Dich mal wieder ein, ich gehe inzwischen mal kurz für kleine Mädchen, nicht weglaufen!“
Sie streichelte mit ihren langen Fingernägeln über meine Wange, ließ die Fingerspitzen weiter über meinen Hals gleiten und graulte mich kurz im Ausschnitt meines offenen, schwarzen Hemds. Dann stand sie auf und ging nach draußen, während der Reitlehrer gerade rein kam.
„Heilige Scheiße, hat die dich gerade angebaggert?“
„Sieht so aus …“, stotterte ich.
„Verdammt, die habe ich vorhin auf der Herrentoilette gesehen. Bei mir hat sie es auch vor zwei Stunden versucht. Oder – er!“
„Helga!“, rief ich lauter, als beabsichtigt: „Zahlen! Sofort!“
• * *
„Wo gehen wir jetzt hin?“, fragte ich den falschen Rittmeister, als wir uns auf der Straße den Joint anzündeten.
Nachdem ich panisch bei Helga gezahlt hatte, riet er mir zu einem Mittel, um runter zu kommen und meinte, er wäre bei mir damit sicher mit dem richtigen Kollegen unterwegs, so wie er mich einschätzte. Er hatte nicht unrecht. Auch wenn ich selbst nicht mehr viel mit Dope zu tun hatte, lehnte ich es selten ab, falls sich mal auf Partys die Gelegenheit bot.
Ich nahm einen tiefen Zug und meinte:
„Ist mir egal, wohin, Hauptsache - schnell hier weg!“
„Wir laufen ein Stück, rufen ein Taxi und lassen uns in die Stadt fahren. Oder?“
„Guter Plan!“, hustete ich. Hoppla, was war das für ein Dope!
„Ist mit fast peinlich, aber wie heißt Du eigentlich?“ fragte ich, wieder zu Luft gekommen.
„Nicht so schlimm, ich habe auch kein gutes Namensgedächtnis. Aber dass Du der Peter bist, wusste ich noch. Ich bin Klaus, Klaus Schmidt. Mit ‚dt’ wie ‚Damentoilette’.“
Sollte der Abend von mir aus mit ein paar besoffenen Hühnern aus der Abschleppbar enden. Oder mit dem Long-Island-Icetea-Absturz. Alles besser als eine Überraschung im Bett mit einem Überraschungsschwanz.
Trotzdem – irgendwie tat mir Samantha leid. Und ich spürte fasst so was wie einen Rest von Neugier.
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