Johann Hinrich Buttfaaken (6)
Die Ausstellung war für beide sehr anregend und bewegend. Von George Grosz waren einige neue Werke einer Mappe, die „Ecce Homo“ betitelt war, zu sehen. Ein Großteil der Bilder dieser Mappe beschäftigte sich kritisch mit dem Krieg und dem aktuellen Geschehen in Deutschland. Dies hatte dazu geführt, dass eine ganze Reihe der Bilder kurzerhand von der Staatsmacht vereinnahmt und beschlagnahmt worden war.
Die Lücken in der Ausstellung wurden beibehalten und demonstrierten so anschaulich, wo die Zensur zugeschlagen hatte. Die Bilder wären zu anstößig, zu sehr das öffentliche Empfinden störend. Die verbliebenen, in kräftigen Farben gehaltenen Aquarelle, aber auch die Zeichnungen' spiegelten ein Bild der Gesellschaft wieder, das exakt die Beobachtungen von Max, Millie und Johann wiedergaben. Der Staat mochte dies aber wohl nicht wahrhaben und war entsprechend eingeschritten.
„Es ist mit dieser Demokratie, die wir hier gerade probieren, nicht viel Staat zu machen“, konstatierte Johann, als sie Arm in Arm das Lützow Ufer entlang schlenderten.
„Es gibt in Deutschland keine Streitkultur“, erwiderte Millie, „Ihr lebt schon zu lange als Untertanen autoritärer Herrscher. So etwas zu entwickeln braucht Zeit“.
„Ja, wir neigen zu ‚entweder oder Standpunkten‘ und haben es gerne, wenn andere für uns entscheiden“, gab Johann zu.
„Ich habe da heute Vormittag über einen Prozess in München gelesen, wo der Aufstand vom letzten Jahr verhandelt wird“.
„Dieser Adolf Hitler scheint sich als großer Wortführer einer nationalistischen Bewegung zu entwickeln, wenn der damit durchkommt, dann ist es um unsere Demokratie schlecht bestellt“.
„Das Ganze fand in Bayern statt“, entgegnete Millie, „dieser rückständig Monarchie treue Teil Deutschlands hat doch noch nie die neue Republik wirklich anerkannt. Aber Bayern ist nicht Deutschland und deren Einfluss auf Berlin ist doch sehr begrenzt“. „Ich hoffe, du hast Recht und diese Typen werden rechtzeitig in ihre Schranken verwiesen, bevor sie Unheil anrichten können.“ Sie lehnten sich an ein Geländer und sahen gemeinsam über den Landwehrkanal.
„I am hungry, let’s go for Dinner“, sagte Millie und schmiegte sich enger an Johann.
Nach einem ungenießbaren Abendmahl in einer üblen Kaschemme, wo sie argwöhnisch beäugt wurden, beschlossen sie ihr geplantes Vorhaben direkt in die Tat umzusetzen und der Arbeit wegen weitere Feldstudien anzustellen.
Die Lokalität aus der sie kamen, spottete jeder Beschreibung. Die einfachen Blechbestecke waren mit Ketten an den Tischen montiert, um zu verhindern, dass sie gestohlen wurden. Nach dem Essen kam ein gebeugtes Faktotum, bei dem nicht erkennbar war, ob es sich um Mann oder Frau handelte, zu den Tischen und warf das benutzte Besteck in eine verbeulte Emailleschüssel, die mit einer undefinierbaren Brühe gefüllt war. Sodann trocknete er die Besteckteile mit einem stinkenden Lappen ab und fertig war der Tisch für die nächsten Gäste eingedeckt.
Den Schnaps tranken sie, das Essen ließen sie stehen und machten, dass sie aus dem Lokal wieder heraus kamen. Draußen fielen sie sich laut losprustend in die Arme.
„Na, das war doch ein zauberhafter Auftakt für unseren Zug durch das Berliner Nachtleben“, sagte Johann, sich die Tränen aus den Augen wischend.
Ihre erste Anlaufstelle war eine Tanzdiele in der Budapester Straße.
Der Eingang wurde von einem schwergewichtigen Transvestiten mit Reitgerte bewacht.
Drinnen erwartete sie eine sehr rustikal gehaltene Einrichtung. Einfache Holzbänke säumten die Wände, wenige Tische, eine Kabarettbühne im Hintergrund. Das war es auch schon. Der Raum war aber trotz des noch frühen abends bereits gut gefüllt. Das rein weibliche Orchester spielte internationale Tanzmusik. So richtige Stimmung kam aber noch nicht auf, so dass sie nach einem kurzen Drink beschlossen, weiter zu ziehen.
Sie schlenderten weiter den Ku’damm entlang. Millie schlug vor: “Lass uns einen Blick in `Himmel und Hölle` werfen, das ist ein neuer Revueclub gegenüber der Gedächtniskirche“.
Als sie sich der Bar näherten, ließen schon die gewagten Plakate und die Leuchtschilder kaum einen Zweifel daran, was sie im Inneren erwarten würde.
„25 Akt Bilder aus dem Leben des Marquis de Sade“ versprach das Plakat neben der Eingangstür.
Die Türsteher, gekleidet als Petrus und Satan, öffneten Ihnen die üppigen Schwingtüren.
Nachdem sie ihre Mäntel im Foyer an der Garderobe abgelegt hatten, übernahm es „Petrus“, sie in den Speisesaal zu geleiten. Der Raum war in geheimnisvolles blaues Licht gehüllt und mit allerlei christlichen Devotionalien ausgestattet. Holzengel und Heiligenbilder wohin man auch sah.
Die Kellner, bleich geschminkt und als Engel gekleidet, begrüßten sie mit frommen Segenswünschen und reichten ihnen Schriftrollen, die sich als Speisekarte entpuppten. Auf dem Tisch schwammen Votivkerzen in Schüsseln mit Weihwasser, aus dem Hintergrund war eine Kirchenorgel zu vernehmen, die religiöse Musik spielte.
Sie nahmen Platz und ließen die Atmosphäre auf sich wirken.
Zur Mitte des Raumes hin erstreckte sich eine Bühne über die Länge des Saales. Dahinter war ein weiterer Bereich des Etablissements zu erkennen, von dem ein phosphoreszierend rotes Licht zu ihnen herüber pulsierte. Sie fragten den Kellern, was das sei. Erschrocken bekreuzigte sich dieser und erklärte, dass sich dort die Hölle befände.
„Das muss ich mir ansehen“, sagte Millie, erhob sich und war auch entschwunden, bevor Johann etwas entgegnen konnte. Stattdessen bestellt er zwei Glas Champagner, was den himmlischen Kellner zu frohlockenden Lobpreisungen animierte, während er "ballettös" schwebend davon eilte.
Ein paar Minuten später, der Champagner moussierte bereits feinperlend in den schlanken Föten, kam Millie zum Tisch zurück.
„You won’t believe it, Johann“, rief sie lachend, „die rot gekleideten Teufel, die Du dort drüben siehst, fungieren als Kellner. Sie beschimpfen und verfluchen in einem fort die Gäste. Als Abendessen scheint es nur einen feurig scharfen Eintopf zu geben, der über einem offenen Feuer in einem großen Kessel brodelt.“
„Ich habe, gehört, wie einer der Kellner, dem Gast die höllischen Qualen, die diese Speise bei ihm auslösen wird, in allen Einzelheiten schilderte. Bevor sie mich auch einen Tisch anketten konnten, bin ich schnell wieder entschwunden.“
„Ich….“, weiter kam sie nicht, denn das Orchester setzten zu einem Tusch an. Ein Conférencier betrat die Bühne und hieß das himmliche und höllische Publikum gleichermaßen willkommen.
Er erläuterte die Show des heutigen Abends und sparte nicht mit Superlativen.
Als er geendet hatte, versank die Bühne im Dunkeln. Nur noch das flackende rote Licht der Hölle und das strahlende Blau an den Wänden des Himmels, beleuchtete die Szenerie.
Es folgte eine Stripshow ungewohnter Dimension. Etwa 25 Frauen und Männer entkleideten sich in kunstvoll, in beinahe akrobatischem Tanz.
Gegen Ende fanden sich die nunmehr fast gänzlich nackten Leiber in einer atemberaubenden verschlungenen Formation zusammen.
Die männlichen Darsteller hatten es fertigbebracht, nicht nur mit hocherhobenen Kopf zu posieren sondern auch ihren teilweise mächtigen Luststab aufs reizvollste zu präsentieren.
Ein dunkelhäutiger Hüne trat hervor und verneigte sich mit stolz erhobener Rute vor dem lustvoll tobenden Publikum.
Der Anfang war gemacht, die Stimmung im Saal brodelte. Es folgte Darbietung auf Darbietung, wobei es die Akteure aufs trefflichste verstanden, ihre körperlichen Reize im wahrsten Sinne des Wortes dar zu bieten.
Johann und Millie applaudierten den Fesselungskünstlern, schauderten bei verschiedenen sehr kunstvoll arrangierten Auspeitschungen und gerieten selbst in Ekstase, als sich das Programm, seinem Ende näherte und eine sehr freie Interpretation des heiligen Abendmahls in einer rauschhaften Orgie mit Kreuzigung gipfelte.
Das Publikum des Himmels und der Hölle hatte es schon längst nicht mehr nur einfach auf den Stühlen gehalten. Wo auch immer sich das Auge hin wandte, Menschen an, unter und auf Tischen und Stühlen oder auf dem Teppich, Kleidung in losen Haufen. Über allem schwebte eine einzigartig geile Duftwolke verschiedenster Parfums und Körperflüssigkeiten.
Die beiden ordneten ihre eigene Garderobe und strebten zum Ausgang, sie nahmen ihre Mäntel entgegen und traten in die nebelfeuchte Nacht.
Millie kuschelte sich bei Johann in den Arm und gemeinsam schlenderten sie in Richtung Zoo.
Ihre Silhouette verschwand im trüben Nebel.
Dies war das Letzte, was der Chronist über Johann und Millie zu berichten wusste. Weder im Hotel noch bei ihren Freunden und Bekannten tauchten sie des anderen Tages auf.
Ein weiterer Weltenbrand, ein prüdes Wirtschaftswunder und ein nie gekannter Friede zog ins Land. Die Welt prägte erneut einen immer hedonistischer werdenden Lebensstil.
Und so wird sich dieser Tage der Chronist, von Hamburg aus, aufmachen, auf den Spuren von Johann, Millie, Max, Nola, Anita, Oskar, Harry, Emil und den vielen anderen, die diese Zeit mit geprägt haben, zu wandeln. Vielleicht findet er ja die ein oder andere Spur dieses verhängnisvollen Tanzes auf dem Vulkan.
ENDE
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