Seelenzeit
Der Tag begann mit sphärischer Musik. Das Klangbild erfaßte die Seelen und trug sie in schwindelnde Höhen der Freude. Musik, Heiterkeit und Liebe im Überfluss, erfüllte die himmlischen Hallen, so das keine von ihnen, sich dem entziehen konnte. Viele von ihnen trugen noch die Kainsmale ihres irdischen Lebens. Ihre fast durchsichtigen Gestalten waren gehüllt in Schattenmäntel, deren Schattierungen von hellem Grau bis Tiefschwarz reichten. So war damit auch für alle deutlich sichtbar, auf welcher Entwicklungsstufe die Seele, das Lebenskarussel verlassen hatte. Sie trugen ihr Karma erkennbar mit sich und wussten, dass sie zur Erde zurückkehren mussten, nach einer vorbestimmten Zeit. Auch heute würden sich wieder einige auf den beschwerlichen Weg begeben müssen, selbst wenn keine von ihnen, diese Gefilde der allumfassenden Liebe verlassen wollte.
Carima war eine von denen, die das lautlose Signal zum Aufbruch bekam. Traurig, aber beherzt, begab sie sich in den Raum des Übergangs und staunte als sie sah, was sich hier offenbarte. Hinter den Eingangsflügeln sah sie als erstes ein Spiegelbild ihrer Seelengestalt. Die hellen, wolkengrauen Schwaden umflossen sie, aber an einigen Stellen schimmerte es schon weiß hindurch. Ein Glücksgefühl ergriff sie, als sie die Bedeutung dessen verinnerlichte. Leichten Herzens schritt sie weiter in die Halle des Schicksals und schaute sich um. Unzählige Bilder von Menschen und deren Geschichten umgaben sie und ihre Aufgabe war es nun, sich auszusuchen, welches ihre werden sollte. Keine leichte Entscheidung, musste sie feststellen, aber irgendwann legte sie sich dann doch fest. Carima versuchte sich alles genau einzuprägen, auch wenn ihr klar war, dass sie nichts von allem hier noch wissen würde, im Moment der Wiedergeburt. Zögerlich begab sie sich zur Regenbogenbrücke, um in ihren neuen Körper und in den Staffellauf des Lebens hineinzurutschen. Eine Seele kann genauso wenig weinen, wie ein Nilkrokodil, aber gedanklich kullerten dicke Tränen, als sie auf der Rutsche durch Zeit und Raum flog. Das letzte, das sie bewusst wahrnahm, war der Regen, der diesen, ihren ersten Erdentag einläutete.
Es war der 26. August des Jahres 1910, als ein kleines Mädchen in Üsküb, dem heutigen Skopje, mit einem Schrei ihr neues Leben begann. Sie wurde auf den Namen Anjezë (Agnes) Gonxha Bojaxhiu getauft ...
@****ris
04/04.17
Die Geschichte steht bereits in der KG aber ich denke vom Thema ist es hier auch passend...
Kurzgeschichten: Geschichtenspiel_Teil_40
Diese Geschichte widme ich einem lieben Freund von Cashala, der viel zu früh aus dem Lebenskarussel aussteigen mußte und liebevoll der Herzflüsterer genannt wurde.