Heimat - was ist das?
Gestern hat N-TV eine Telefonumfrage gestartet. Sie lautete: „Haben Sie Verständnis für Putins Verhalten?“Das Ergebnis war erstaunlich und sollte sowohl ARD und ZDF als auch allen Politikern eigentlich Stoff zum vorurteilsfreien Nachdenken geben, sofern ihnen diese Fähigkeit - ohne Vorurteile zu denken - nicht gänzlich verloren gegangen ist. Mehr als fünfundachtzig Prozent der Anrufer stimmten mit „Ja“. Ich fand es erstaunlich. Darum habe ich mir die Übertragung der Militärparade im russischen Fernsehen angeschaut und ganz bewusst auf die Gesichter der Menschen geachtet. Ich las andere Emotionen, als ich sie von den Zuschauern ähnlicher Veranstaltungen in westlichen Ländern gewohnt bin. Wäre ich jetzt ARD- oder ZDF-Reporter, hätte ich wahrscheinlich dezent die Frage gestellt, wie viel Geld Putin wohl jedem Einzelnen gezahlt hat oder mit welchen Repressionen er gedroht hat, um einen Ausdruck echter Freude und Begeisterung auf die Gesichter dieser Menschen zu bekommen.
Genau das scheint das Problem der westlichen Welt zu sein - sie verstehen nicht wirklich, was der Mann bewirkt. Ja, ich denke, dass er ein Diktator ist, dass er viele Menschen unterdrückt, dass er unter „Freiheit“ nicht das versteht, was wir darunter verstehen. Sicher ist er auch ein testosterongesteuerter, machthungriger kleiner Mann. Alles das ist sicher richtig. Aber er schafft mehrere Dinge, die man in den westlichen Ländern nicht mehr hinbekommt.
Zum einen sind das Kontinuität und Verlässlichkeit. Er hat sich eine Machtposition geschaffen, in der er sich nicht mehr beugen und faule Kompromisse eingehen muss, um an der von ihm so geliebten Macht zu bleiben. Damit muss er sich auch nicht vor einem Obama auf den Rücken legen, wie es die westeuropäischen Politiker und Politikerinnen tun.
Er „zieht glashart durch“ und hat es geschafft, aus Russland wieder einen globalen Machtfaktor zu machen. Und er gibt den Russen das Gefühl von Stärke und Teil von etwas Besonderem zu sein. Eine Heimat zu haben. Klare Regeln, die nicht alle halbe Jahre geändert werden. Wenn ich ganz ehrlich bin, ist es das, was mich an diesem „Haus Europa“ am meisten stört. Wer bin ich? Ein Deutscher? Ein Europäer? Ein ehemaliger DDR-Bürger? Ein Ossi? Wer ist für mich zuständig? Die Bundesregierung in Berlin? Das Europaparlament in Brüssel oder die amerikanische Regierung in Washington? Jeder funkt jedem dazwischen und nur eines ist gewiss - alle drei und noch unzählige mehr wollen mein Geld. Wo ist also meine politische Heimat? Und wenn wir dabei sind - wo ist meine kulturelle Heimat? Muss ich mir vielleicht irgendwann ein Geschirrtuch umbinden, bevor ich auf die Straße gehe oder besser noch türkisch lernen? Bevor jetzt der große Knüppel ausgepackt wird - nein, ich habe nichts gegen ausländische Mitbürger. Nur - wo ist Deutschland, wo ist meine Heimat? Oder bin ich soweit hinter meiner Zeit zurück, dass ich nicht kapiert habe, dass „Heimat“ vollkommen aus der Mode gekommen ist? Naja, vielleicht brauchen wir ja auch irgendwann kein Herz mehr ...