Mehr brandheiße Inhalte
zur Gruppe
Dirtytalk & Kopfkino
447 Mitglieder
zum Thema
Urlaub mit Sven37
Diese Geschichte wird fortgesetzt. Wem sie gefällt, sollte die…
Das Thema ist für dich interessant? Jetzt JOYclub entdecken

Höllenhund

Höllenhund
Borg war einer jener eher seltenen Menschen, die nicht nur geistige Höchstleistungen vollbringen können, sondern sich auch um ihren Körper kümmern. Ständig lag in ihm die Abenteuerlust im Widerstreit mit seiner Leidenschaft, in fremde Datenbanken einzubrechen. In seinen ersten Berufsjahren beim Bundesnachrichtendienst gewann noch sein Genius als Informatiker, aber er war sich da schon im Klaren darüber, dass das kein Dauerzustand sein und es ihm irgendwann nicht mehr reichen würde, nur auf virtuelle Gegner am Computer zu ballern. Er wusste, dass er für Höheres bestimmt war.

Er hatte auch einen Vornamen, und wollte man sich Borg zum Feind machen, benutzte man ihn. Weil sein Vater ihn dem gegeben hatte und Borg um nichts in der Welt an diesen Mann erinnert werden wollte. Montags bis freitags hatte der immer mitten in der Nacht aufstehen müssen, um im Hafen in Hamburg bei Blohm & Voss zu schuften. Jeden Samstagabend hatte er seine Frau bestiegen oder seinen Jungen durchgeprügelt - je nachdem, ob der Hamburger Sportverein gewonnen oder verloren hatte. Wenn er mies drauf war und das war ziemlich häufig gewesen, hatte er es auch umgekehrt gemacht. Sonntags war er dann in die Kirche gegangen und hatte Gott um Vergebung für seine Samstagssünden angebettelt. Borg ging nie in die Kirche und er stand nie früh auf.

Im Alter von elf Jahren brach er das erste Mal in ein fremdes Computersystem ein; mit sechzehn machte er seinen ersten Dan in Karate und mit einundzwanzig schloss er sein Informatikstudium, dessen Kosten freundlicherweise vom deutschen Bundesnachrichtendienst übernommen worden waren, mit summa cum laude ab.

Er nutzte seine Zeit beim Bundesnachrichtendienst, um Kontakte zu knüpfen, Wissen anzuhäufen und sich über die Daten gewisser ‚freiberuflicher‘ Mitarbeiter auf dem Laufenden zu halten. Als er Ende der Neunziger eine simple Rechercheanfrage auf den Tisch bekam, erinnerte ihn das an etwas und er ließ sich die Akten der Oldenburgmorde bringen, die er selbst vor ein paar Jahren aus Schwerin abgeholt hatte.

Johanna hatte weder Papiere noch irgendetwas anderes bei sich gehabt, mit dem man sie hätte identifizieren können und so war der Fall nie wirklich aufgeklärt worden. Ohnehin hatte kein hohes Interesse daran bestanden. Ein ehemaliger ranghoher Stasimitarbeiter war das Opfer gewesen und es gab nicht nur beim BND genug Kräfte, die befürchteten, dass schmutzige Geheimdienstwäsche aus der Vergangenheit in der Öffentlichkeit gewaschen werden könnte. So wurde Christian Oldenburg zwar als Mörder gesucht, aber niemand hatte schlaflose Nächte wegen ihm und er blieb verschwunden.

Es waren die Umstände, unter denen die beiden Morde geschehen waren, die Borg keine Ruhe ließen und es waren seine Computer, die ihm eine Liste mit ähnlichen Fällen ausspuckten.

Der Erste war der von Nathan Gold, einem Bigboss der weltweiten Titan-Union und einer der ganz Superreichen. Er war in einem Berliner Luxushotel gestorben. Er hatte knapp fünfundsiebzig Kilogramm gewogen und war siebzig Jahre alt gewesen, trotzdem hatte er mit bloßen Händen die Einrichtung seiner Hotelsuite zerlegt und seine beiden Leibwächter gleich mit. Seine Autopsie hatte Herzversagen ergeben. Sechs Monate später hatte es in London Jefferson May erwischt, ein hohes Tier bei British Petroleum und stinkreich; uralte Familie mit einem so langen Stammbaum, dass nicht einmal eine englische Dogge genug Urin hatte, um ihn anzupissen. Der Sohn flippte aus heiterem Himmel in einem Nobelrestaurant aus, brach seinem Alten das Genick und zerlegte die halbe Einrichtung, bevor auch sein Herz schlappmachte. Neun ähnliche Fälle waren aktenkundig, immer traf es die Reichsten der Reichen, immer spektakulär und blutig, immer durch Menschen, denen sie vertrauten.

Borg ließ das durch seine Computer laufen, simulierte Tathergänge, Motive, wer davon profitierte, ob es noch ähnliche Fälle gab und würde fündig, als er die Suchkriterien auf Umkreissuche reduzierte. Er ließ Statistiken erstellen, Normalverteilungen analysieren, Mediane berechnen und stieß tatsächlich auf etwas – es gab noch eine weitere Serie. Die Opfer hatten einfach aufgehört, zu atmen; im Bett; unter der Dusche; im Umkleideraum eines Sportklubs, an den verschiedensten Orten, die nur eines gemeinsam hatten – sie waren allein gewesen und nie hatte es irgendwelche Spuren gegeben, die auf eine Fremdeinwirkung schließen ließen. Dreien der Opfer konnte Borg die Zugehörigkeit zu privaten Sicherheitsunternehmen nachweisen, zwei waren freiberufliche Attentäter, die anderen vier ganz normale Angestellte. Alle Todesfälle waren spätestens drei Wochen nach denen eingetreten, bei denen die Opfer durch Tobsuchtsanfälle gestorben waren und vier von ihnen in der gleichen Stadt.

Bei allen Todesfällen in diesen Jahren waren nur standardmäßige Ermittlungen vorgenommen worden und niemand war auf die Idee gekommen, sie miteinander zu verbinden, weil es niemals Spuren an den Tatorten gegeben hatte. Sie waren nicht einmal als solche angesehen worden. Für Borg war klar, dass hier jemand den perfekten Mord möglich gemacht hatte und er wusste, dass das Leben ihm einen Chip für ein ganz großes Spiel in die Hand gedrückt hatte. Aber er wusste auch, dass er dafür den Spieltisch wechseln musste.

Er rief Maurice Vallon an, einen Analytiker einer nie genannt wollenden Behörde, mit dem er schon mehrmals gut zusammengearbeitet hatte. Vierundzwanzig Stunden später saß er gemeinsam mit Vallon in Brüssel einem ausgetrockneten, spindeldürren Sechziger mit stechendem Blick und einer gekrümmten Raubvogelnase gegenüber.

„Milch und Zucker?“, fragte der statt einer Begrüßung hemdsärmelig und schob Borg eigenhändig eine Tasse Kaffee vor die Nase.

„Nur Zucker. Vier Stück bitte“, erwiderte Borg und bekam eine Dose mit Würfelzucker vor die Nase gesetzt, zusammen mit einem: „Viel Spaß beim Zählen. Ich bin General Duchamp und ich kann Gerede nicht ausstehen. Ihren Bericht bitte!“

Borg warf Vallon einen kurzen Blick zu. Der nickte und Borg erzählte kurz und knapp, was er herausgefunden hatte. Mit ungerührtem Gesicht hörte Duchamp zu, nahm ab und an einen Schluck von seinem Espresso und Borg bekam mehr und mehr das Gefühl, dass er eine Tür einrannte, die schon längst offen war.
Als Borg geendet hatte, fragte Duchamp Vallon: „Was sagen Sie?“

Der kleine Franzose nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und strich über seinen gepflegten Kinnbart. „Ich denke ja. Ich habe ein paar Mal mit ihm zusammengearbeitet und es gab keine Probleme. Von meiner Seite keine Einwände.“

Der General faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch. „Die Amerikaner machen es sich einfach, Borg. Sie entwickeln unbemannte Flugzeuge, von denen aus sie jedes beliebige Ziel aus der Luft bekämpfen können. Ein Druck auf ein kleines Knöpfchen am Joystick, und von ein paar aktuellen Terroristen und ihrer Brut, zukünftigen potentiellen Bombenlegern, bleibt nur noch Rauch. Ganze Dörfer kann man so von der Landkarte verschwinden lassen. Sehr effektiv. Gefällt mir. Leider ist diese Vorgehensweise hier nicht sonderlich populär, aber wir arbeiten daran, das zu ändern. Verstehen Sie, warum wir das tun müssen?“

„Ja.“ Borg hatte nicht die geringste Ahnung, worauf der General hinauswollte.

Der schnaubte: „Nein, haben Sie nicht. Das war Ihre erste und einzige Lüge. Eine Zweite wird es nicht geben. Haben Sie das verstanden?“

„Ja.“

Duchamp zog die Brauen hoch. „Das kam mir zu schnell. Aber ich behalte sie im Auge, Borg. Wir sind der Schutzschild für ein Europa, das noch nicht einmal weiß, dass es einen braucht und deshalb kann es nicht sein, dass irgendwer irgendwo Leute tötet, die man gewöhnlich nicht umbringen kann und wir nichts davon wissen. Wir haben kein Problem damit, wenn irgendwo in Europa eine Bombe hochgeht oder eine Waffe eingesetzt wird. Nicht einmal dann, wenn es irgendwelche Kameltreiber sind und es mitten auf dem Place Pigalle passiert, weil es gut ist für unser Geschäft. Es bedeutet neue Kameras und mehr Geld für die Überwachung, also mehr Sicherheit. Wir haben aber ein Problem damit, wenn wir es erst hinterher aus der Zeitung erfahren und nicht erklären können, warum wieder einer der reichsten Leute einen Tobsuchtsanfall bekommen und sich ins Jenseits verabschiedet hat. Der Schutzschild hat ein Loch und wir werden es stopfen. Aber nicht ...“, er hob einen knorpeligen, dicken Zeigefinger, „... in dem wir wie die Wilden losstürzen und die Welt in Panik versetzen. Sie werden unter Vallon arbeiten und nichts anderes tun als bisher – analysieren und Daten sammeln. Alles andere ist eine Sache für die Profis. Ist das klar, Ragnar Borg?“

Er fixierte Borgs Gesicht mit seinem Blick, den Zeigefinger noch immer drohend erhoben. Borg schaffte es, zu nicken, auch wenn es ihm schwerfiel und Duchamp bellte: „Dann raus!“

Draußen sagte Vallon: „Die nächsten zwei Tage wirst du mit Einweisungen in die Abläufe und Sicherheitsprozeduren beschäftigt sein, danach stelle ich dich dem Team vor und du bekommst deine Aufgaben. Ich muss mal auf die Toilette, kommst du mit?“ Er zwinkerte und Borg folgte ihm.

Vallon kontrollierte jede Box, dann sagte er: „Der einzige Raum ohne Überwachung. Also pass auf, mein Lieber: Duchamp ist noch ein alter, verschrobener Dinosaurier von der Fremdenlegion, da hat er sich seine Sporen verdient und für ihn zählt immer das kleinere Übel. Es ist ihm zehnmal lieber, dass alle halbe Jahr ein paar Leute über die Klinge springen, als ein weltweiter Run auf so eine gefährliche Waffe. Ich arbeite im Geheimen seit einem halben Jahr daran und sage dir das, was er dir durch die Blume gesagt hat, weil er es offiziell nicht darf: Lass die Finger davon. Du bist nur hier, damit du mit deinem Wissen keinen Blödsinn anstellst. Ich will nicht, dass du Wenger kennenlernen musst. Das ist ein freundschaftlicher Rat. Du kannst hier gutes Geld verdienen. Belass es dabei.“

Borg wusch sich ausdauernd die Hände, trocknete sie sich in Ruhe ab, dann fragte er: „Wenger?“

Vallon schmunzelte: „Eine Naturgewalt. Du wirst es wissen, wenn sie dich überrollt.“

wird fortgesetzt ...
****en Frau
18.186 Beiträge
Zitat von *******jan:
Er hatte auch einen Vornamen, und wollte man sich Borg zum Feind machen, benutzte man ihn. Weil sein Vater ihn dem gegeben hatte und Borg um nichts in der Welt an diesen Mann erinnert werden wollte. Montags bis freitags hatte der immer mitten in der Nacht aufstehen müssen, um im Hafen in Hamburg bei Blohm & Voss zu schuften. Jeden Samstagabend hatte er seine Frau bestiegen oder seinen Jungen durchgeprügelt - je nachdem, ob der Hamburger Sportverein gewonnen oder verloren hatte. Wenn er mies drauf war und das war ziemlich häufig gewesen, hatte er es auch umgekehrt gemacht. Sonntags war er dann in die Kirche gegangen und hatte Gott um Vergebung für seine Samstagssünden angebettelt. Borg ging nie in die Kirche und er stand nie früh auf.

Im Alter von elf Jahren brach er

Ich musste es zweimal lesen, um zu verstehen, welches "er" Borg und welches sein Vater ist.
Vielleicht magst du das noch ein wenig verbessern.
****en Frau
18.186 Beiträge
Zitat von *******jan:
Er rief Maurice Vallon an, einen Analytiker einer nie genannt wollenden Behörde, mit dem er schon mehrmals gut zusammengearbeitet hatte.

Einer nie genannt werden wollenden Behörde?
Du machst mich glücklich, und das ist nicht ironisch gemeint. Ich sehe nicht alles, kann nicht alles und ich liebe Wanderer, die des Weges kommen und einen unverstellten Blick haben.

Danke Dir sehr. Mehr davon ...

*herz* Rainer
****en Frau
18.186 Beiträge
*herz* zurück!

Ich kenne das. Tausend mal den Text gelesen und doch Fehler übersehen.
Gern geschehen.

Im übrigen warte ich nun gespannt auf die Fortsetzung.
Ich vermute, dass die mit dem Atmen Aufhörenden eine Biowaffe in sich trugen, die den "Virus" auf die Ausrastenden übertrugen. Leider mit der erwähnten Nebenwirkung, ein paar Wochen später sein Leben im wahrsten Sinne des Wortes auszuhauchen.

Schöne Idee.
Gute Idee von Dir. Aber in der heutigen Zeit eine Geschichte über eine Biowaffe schreiben? Nein. Geht anders. Gibt historische Vorbilder. William Burke...
Höllenhund Fortsetzung
Man gab Borg ein halbes Jahr für die Einarbeitung und in dieser Zeit machte er offiziell nichts anderes, als das, was Duchamp und Vallon ihm auftrugen. Doch er beobachtete beide genau und wusste, dass auch sie es taten. Er machte seine Arbeit, trainierte weiter Karate und ließ sich an Waffen ausbilden. Vallon hatte zwar die Brauen hochgezogen, als er davon erfuhr, doch das war Borg egal gewesen.

Schon bald merkte er, dass er den Leuten in seinem Team und auch Vallon mit seinen Fähigkeiten voraus war und als seine Probezeit um war, begann er an seinem Projekt weiter zu arbeiten. Sein Arbeitsplatz war ein Hochsicherheitsrechenzentrum mehr als fünfzig Meter unterhalb der Straßen der belgischen Landeshauptstadt, von dem er vorher nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte. Er arbeitete am liebsten nachts und allein, wenn ihm niemand auf die Finger schaute; schaltete dann alle Lichter aus, saß im Dämmerlicht der Monitore und ließ seinen Gedanken und Programmen freien Lauf. Die besten und leistungsfähigsten Computer standen ihm zur Verfügung, schnelle Breitband-Netzwerkverbindungen rund um die Welt und Zugriff auf jeden elektronischen Datensatz. Ganz gleich, ob bei einer Regierungsbehörde, bei einer Bank oder in einem Krankenhaus - waren Daten irgendwo in der Welt gespeichert, konnte er sich Zugriff darauf verschaffen, vorausgesetzt, er brach die Verschlüsselung.
Vallon kontrollierte ihn nicht mehr so deutlich wie im letzten halben Jahr, offiziell gar nicht mehr, aber Borg hatte seine eigenen Routinen entwickelt und die sagten ihm, dass jemand in unregelmäßigen Abständen seine Arbeit in den Datennetzen nachverfolgte und er war sich sicher, dass das nur Vallon sein konnte. Deshalb kam Borg nicht wirklich weiter und es brauchte einen Zufall, ihm freie Hand zu verschaffen. Dieser Zufall war ein simpler Wartungsfehler eines Flugzeugmechanikers. Die Gulfstream, mit der Duchamp und Vallon zu einem Treffen mit Leuten von der CIA fliegen wollten, fing unmittelbar nach dem Abheben Feuer, stürzte ab und niemand überlebte. Sowohl Gladio als auch Borg bekamen einen neuen Chef und beide wussten nichts von dem, was Borg antrieb und Duchamp totgeschwiegen hatte.

Borg nutzte seine neuen Freiheiten, um herauszufinden, ob Vallon oder Duchamp etwas hinterlassen hatten, was ihn weiterbrachte, doch so sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht weiter. Immer, wenn er glaubte, eine Spur gefunden zu haben, erwies sie sich als Sackgasse. Er fand nicht den kleinsten Beweis dafür, dass Vallon an etwas anderem gearbeitet hatte, als auf seiner offiziellen Auftragsliste stand.

Es war ein Mittwoch, an dem sich alles änderte. An diesem Tag in der Woche trainierte Borg für gewöhnlich. Er war zu spät dran, um noch den ganzen Sparringskampf von Mike Trellson, einem ehemaligen Schwergewichtsweltmeister im Freefight, zu sehen.
Als Borg in die Halle kam, sah er gerade noch, wie Trellson zu Boden ging und wie lange es dauerte, bis der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf die Füße kämpfte. Der breitschultrige Mann mit den silbergrauen Haaren, der ihm das angetan hatte, drückte für ihn die Seile auseinander und half ihm nach unten. Dann verließ er ebenfalls den Ring, doch statt duschen zu gehen, blieb er und beobachtete wie einige andere das nachfolgende Training von Borg und dessen Gegner. Erst, als der Gong zur letzten Runde ertönte, verschwand er.

Wie nach jedem Training ging Borg noch in das kleine Bistro gegenüber der Trainingshalle. Es war gut besucht und er musste sich einen Moment gedulden, bis er einen Platz fand. Er hätte auch am Tresen sitzen können, doch dann hätte er den Gastraum im Rücken gehabt - eher wäre er gestorben. Er bestellte Kaffe, eine große Salamipizza und einen Fruchtsaft. Der Kaffee kam zuerst, mit einem verschmitzten Lächeln stellte das Mädchen das Gedeck vor ihn hin und sie war es wert, dass er zurücklächelte. Mit einem Hüftschwung, für den sie noch nicht alt genug war, ließ sie ihr kariertes Röckchen um ein Paar herrlich lange Beine schwingen, und ging davon. Er zog das Gedeck näher zu sich heran, dann wurde er steif. Auf der Untertasse lagen vier Stück Würfelzucker.

Ein Schatten fiel auf die Tischplatte. „Ragnar Borg, der Mann, der seinen Vornamen nicht leiden kann. Computergenie, herausragender Analytiker und Planer. Dritter Dan, nicht zu unterschätzen, wenns ans Prügeln geht.“

Es war der Mann, der Trellson besiegt hatte und obwohl er leise sprach, dröhnte seine Stimme.

Borg erwiderte: „Warum machen Sie nicht gleich einen Aushang über dem Toilettenbecken?“

„Im Becken, Borg, im Becken. Dass man direkt darauf pissen kann. Da kommt dann auch noch drauf: Offiziell Interpol; tatsächlich Gladio, nicht existierender Geheimdienst der EU. Wir sollten bei Gelegenheit mal ein Sparring machen.“

Borg wickelte das Besteck aus der Serviette. „Wer sagt das?“

„Hab ich meine Vorstellung vergessen?“

„Ich denke nicht.“

Ein Muskel zuckte im Gesicht seines Gegenübers. „Nennen Sie mich Ahab.“

„Sie lesen zu viel amerikanische Schundromane. Es heißt: ‚Nennen Sie mich Ismael‘ und ich bin nicht Ihr Moby Dick.“

„Natürlich nicht. Sie suchen ihn.“

Sehr bedächtig legte Borg das Messer neben den Teller. „Meine Freundin wird nicht begeistert sein, dass Sie auf ihrem Platz sitzen.“

Der Mann, der Ahab genannt werden wollte, öffnete den Reißverschluss seiner Jacke. „Netter Versuch, aber so leicht werden Sie mich nicht los. Sie haben keine. Sollten Sie aber. Sich mehr um die Liebe kümmern. Alles machen Menschen deswegen oder weil sie fehlt. Sie lieben oder hassen und nichts dazwischen. Sogar Mörder lieben. Öfter hassen sie allerdings. Meistens sich selbst. Was davon treibt Sie an, Borg?“

„Und Sie?“

Ahab zuckte die Schultern. „Einsichten. Nach einem kleinen Spaziergang. So ungefähr sechstausend Meilen zu Fuß. Nachts; keine Verkehrsmittel; Menschen meiden; Wäsche und Essen stehlen; rohes Fleisch essen und frieren, wenn beides nicht möglich war. Quer durch Europa, Asien bis Tunis. War der Rat eines alten Freundes der Familie, bevor ich ihn umbrachte. Ich hätte Talent, meinte er, bräuchte nur eine Luftveränderung. War ein langer Weg, viel Zeit zum Nachdenken. ‚Reisen bildet‘ bekommt da eine ganz neue Bedeutung.“

„Das ist keine Antwort.“

„Ganz sicher. Sie verstehen sie nur noch nicht.“

Das Mädchen brachte die Pizza und Borg lehnte sich zurück. Er hatte nicht die Absicht, zu essen, so lange Ahab ihm auf den Teller starren konnte. Scheinbar entspannt saß der da, ein breitschultriger Felsen in der Brandung der sich im Bistro Drängenden und erzählte von einem Mord, als wäre es nicht sein Letzter gewesen. Der straffen Gesichtshaut nach wirkte er auf Borg nicht älter als vierzig, aber sein kurzgeschnittenes Haare schimmerte im Licht der hereinfallenden Nachmittagssonne metallisch silbern wie das eines alten Mannes.
Borg legte sein Mobiltelefon auf den Tisch und entsperrte es. „Ich will in Ruhe meine Pizza essen.“

Betont deutlich legte er seine Hand neben das Gerät. Noch ein Tastendruck, und in spätestens zehn Minuten wäre das Noteinsatzteam da und hier die Hölle los.

In den sanften braunen Augen Ahabs irrlichterten Funken. „Zucken Sie auch nur mit dem kleinen Finger, werden Menschen sterben. Sie werden nie einem Gefährlicheren als mir begegnen.“

Es war die Vernunft, die Borg das Telefon zur Seite schieben ließ. Es waren zu viele Menschen im Bistro und dass, was Borg in den Augen Ahabs sah, machte ihn vorsichtig.
Ahab nickte. „Besser so.“

Er beugte sich vor. Leise genug, dass niemand außer Borg es hören konnte, sagte er: „Lesen Sie mal Freud, Dalberg-Acton und Marx. Die haben mehr über das vergessen, was Menschen antreibt, als Ihre Rechenknechte je wissen werden. Damit programmieren Sie die, dann kriegen Sie auch die richtigen Antworten. Müssen sie nur noch verstehen wollen. Also - außergewöhnlicher Ehrgeiz, gnadenlose Rücksichtslosigkeit, unbändige Machtgier und ein Newcomer ohne Stammbaum - das ist Ihr Mann. Oder auch Frau. In der Championsleague der Bösen ist es egal, ob man Eierstöcke oder einen Schwanz hat. Da zählt nur ein kaltes Herz, ein möglichst menschenfreundliches Lächeln und die Fähigkeit zur frechsten Lüge. Und bevor sie ihre Datenfelder umgraben, sollten Sie genau darüber nachdenken, dass er nicht der Einzige sein könnte. Darüber, dass jeder mit genügend Geld und Macht das in die Hände bekommen will, wonach Sie suchen.“

Borg lehnte sich zurück. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen. Wenn Sie so viel über mich wissen, dann sollten Sie auch wissen, dass ich Daten analysiere, nichts weiter. Ich bekomme Aufträge.“

Ahab kniff die Augen halb zusammen. „Und der Mond ist aus grünem Käse. Augen auf im Straßenverkehr, Borg, sonst werden Sie mal ganz schnell überfahren, kein Vertun. Warum hat jeder Computerchip ab Werk drei Betriebssysteme, von denen nur eins offiziell existiert? Warum können Sie auf alle Datenbanken der Welt ohne Probleme zugreifen? Woher stammen die netten Progrämmchen, die Ihnen das ermöglichen? Vor allem aber - warum gibt es sie überhaupt? Wer hat so viel Macht, so etwas durchzusetzen, weltweit? Ein paar hundert Familien regieren die Welt, reich, mächtig, alle anderen sind nur Figuren in ihrer Buddelkiste. Vietnam, Afghanistan, Irak; die kleine Völkerwanderung Richtung Europa, die gerade in Planung ist - hey, Hauptsache, ihr habt Spaß und egal, wie viel Millionen dabei draufgehen, die wachsen sowieso nach wie Unkraut. Nur sie selbst sind tabu; tun sich nichts, die Geldsäcke, außer sich gegenseitig ihre Sandburgen kaputtzumachen. Nur wenn einer aus der Reihe tanzt, gibt es Kloppe. Ist ein elitärer Club und die Plätze auf der VIP-Tribüne sind längst vergeben. Nur hat einer das nicht kapiert; will aus der Buddelkiste raus; pfeift auf ihr Geld, Leibwächter, Armeen, Regierungen; plättet sie, einen nach dem anderen, scheißt sie so richtig vor den Koffer, um auf die VIP-Tribüne zu kommen. Macht fast Spaß, ihm dabei zuzusehen. Was ich tue, damit er nicht zu gierig wird. Machen Sie sich gefälligst Gedanken darüber, wie Ihr weiteres Leben aussieht, wenn Sie einmal von Ihrem Lieblingsabsinth zu viel trinken und dann die Klappe nicht halten können. Sie würden es nicht einmal merken, wie Sie sterben. Sie würden einfach nur aufhören, zu atmen. Also lassen Sie die Finger davon!“

Ruhig fragte Borg: „War das eine Drohung?“

Wenger stand auf. Er tat es, ohne sich mit den Händen am Tisch abzustützen, einfach so, aus den Oberschenkeln, ohne die Tischplatte zu berühren und es sah vollkommen natürlich aus. Er musste ein unglaubliche Muskulatur besitzen. „Hallo, Erde an das Gehirn von Borg: Ist da jemand zu Hause? Das ist kein Videospiel, Borg, auch wenn es sich für Sie Computerfreak so anfühlt. Das ist das Leben und das geht da unten in der Buddelkiste so!“

Blitzschnell griff er nach dem Pizzamesser neben dem Teller, ließ er es zweimal auf der Handfläche um die Achse wirbeln, dann schleuderte er es. Es gab einen krachenden Schlag, alle im Bistro ruckten den Kopf, und Ahab schlängelte sich durch die Menschenmenge hindurch wie Wasser durch die Felsen in einem Bachlauf. Niemand schien ihn zu beachten, weil alle zur Toilettentür sahen. Sie war ungefähr sieben Meter von Borg entfernt, am Ende eines schmalen und schummerigen Ganges. Auf Augenhöhe war ein handtellergroßes, stilisiertes Männeken Pis aus weißer Pappe aufgeklebt. Das Pizzamesser steckte genau in seinem Kopf.


Am nächsten Morgen warteten zwei Männer der inneren Sicherheit am Eingang auf ihn und begleiteten ihn zu Martin Bozen, dem neuen Chef von Gladio. Im Vorzimmer nahmen sie Borg sein Handy ab, prüften ihn mit einem Detektor, dann sagte der Kleinere der beiden: „Gehen Sie rein. Wir warten hier.“

Mit vor dem Körper gefalteten Händen erwartete Bozen Borg hinter einem bis auf ein Telefon und eine braune Akte leeren Schreibtisch, der aus nichts weiter als einer Glasplatte und vier Stahlrohrbeinen bestand. An der kahlen Wand hing ein Bild der englischen Queen und in der Ecke die Fahne der Europäischen Union. Jeder Schmuck und jedes bisschen Persönlichkeit waren aus dem ehemaligen Zimmer Duchamps verschwunden.

Bozen trug einen perfekt sitzenden, dunklen Dreiteiler mit kaum sichtbaren Nadelstreifen. Alles an ihm war schlank, der sehnige Körper, die Hände, die Nase und auch die Lippen waren nichts weiter als ein dünner Strich. Minutenlang musterte er Borg, ohne ihm einen Platz anzubieten, dann sagte er mit näselnder Stimme: „Erzählen sie mir von William Burke.“

„Ich kenne keinen William Burke, Sir.“

Bozen zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wie? Einer meiner Top-Analysten, der in seiner Freizeit ungeklärte Morde analysiert, Nahkampf trainiert und sich an allen möglichen Waffen ausbilden lässt, weil er unbedingt in den Außendienst will? Der insgeheim, hinter dem Rücken seiner verblichenen Vorgesetzten sämtliche Datenbanken nach etwas durchsucht, was mit einer bestimmten Art von ungeklärten Todesfällen reicher Leute zu tun hat, dass es sogar bei der NSA auffällt? Und dann wissen Sie nichts über William Burke? Ja, was wollen Sie dann hier?“

Borg kniff die Lippen zusammen. Er hatte den Namen noch nie gehört.

„Antworten Sie!“, schnarrte Bozen und Borg erwiderte: „Klären Sie mich bitte auf, Sir.“

Bozen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich dulde hier keine Fachidioten. Die Welt ist komplex und wenn sie unter mir Karriere machen wollen, bilden Sie sich gefälligst weiter. William Burke war ein Serienmörder in Edinburgh Anfang des 19. Jahrhunderts, der seinen Opfern Augen, Mund und Nase zu hielt, während er rittlings auf ihrem Brustkorb saß. Der Tod trat durch Asphyxie ein und für jeden Gerichtsmediziner sah es aus, als hätten die Opfer einfach nur aufgehört, zu atmen. Burke war ein Mann von großer Kraft und Geschicklichkeit und ich muss mich fragen, warum Sie es nicht für notwendig erachten, mich umgehend darüber zu informieren, wenn Sie zweihundert Jahre später einem solchen Mann gegenübersitzen. Sie besitzen sogar noch die Kaltschnäuzigkeit, sich eine neue Pizza zu bestellen, nachdem er gegangen ist!“

„Sie lassen mich überwachen? Warum?“

„Weil ich ein gebildeter Mann bin. Weil ich Zusammenhänge sehe, wo Sie nur Bytes sehen. Genau deshalb sitze ich auf diesem Stuhl hier, wohingegen Sie stehen und sich auch nicht setzen werden, bis ich es sage und das ist jetzt!“

Mit eckigen Bewegungen griff Borg nach der Lehne eines der beiden Stühle vor Bozens Schreibtisch und setzte sich.
Bozen legte eine Hand mit manikürten Nägeln auf den Aktenordner vor sich. „Vor allem muss ich mich das fragen bei Berücksichtigung dessen, was in dieser Akte aus Duchamps Safe steht, die nur aus handgeschriebenen Einträgen und drei Fotos besteht. Sie erzählt eine Geschichte und wenn sie mir die korrekten Schlussfolgerungen daraus nennen, vernichte ich sie vor Ihren Augen. Wenn nicht, wandern Sie für lange Zeit ins Gefängnis, weil man annehmen muss, dass Sie Duchamp und Vallon nicht nur gedeckt haben, sondern aktiver Mittäter waren und deren Werk fortsetzen. Sagen Sie kein Wort!“

Bozen hob die Hand. „Ich rede, und Sie hören zu. Neunzehnhunderteinundachtzig springt ein Mann im Hafen von Tunis in der Nacht von einem Frachter der DDR ins Meer und schwimmt an Land. Dreizehn Jahre später besitzt er die französische Staatsbürgerschaft, nennt sich Arjen Wenger und ist Capitan in einer Einheit der Fremdenlegion, die zu dem Verband gehört, die ein gewisser Oberst Duchamp befehligt. Bei einer Feier in einer Kaschemme in Tunis kommt es zu einer Prügelei, bei der elf Elitesoldaten der Fremdenlegion von einem einzigen Mann jämmerlich verdroschen werden. Man fasst ihn kurze Zeit darauf und stellt ihn vor die Wahl, Fremdenlegion oder Straflager. Er entscheidet sich für Ersteres und pulverisiert unter dem Namen Svensson in den folgenden zwei Jahren jeden Ausbildungsbestwert. Wenger holt ihn zu sich in seine Einheit und kurz darauf passieren zwei Dinge fast gleichzeitig: Duchamp wird zum General befördert, zusammen mit seinem Kommunikationsoffizier Maurice Vallon hierher versetzt und Wenger und seine Einheit kehren von einem Einsatz nicht mehr zurück. Doch drei Jahre später taucht ein Captain Arjen Wenger gesund und munter aus der Versenkung wieder auf und Duchamp persönlich stellt ihm eine Clearance Q aus, eine Generalzutrittsberechtigung, die nicht nur für Gladio gilt, sondern für so ziemlich jeden Hochsicherheitsbereich der westlichen Welt und niemand bekommt mit, dass dieser Mann nicht Wenger ist, sondern Svensson. Hier sind Fotos aus Wengers und Wengers Disziplinarakten und hier ist das Foto von der Qlearance Q.“

Mit spitzen Fingern klappte Bozen die Akte auf und schob Borg drei Fotos über den Tisch. Auf dem Letzten blickte er Ahab ins Gesicht. Hätte Borg nicht schon geahnt, was er sehen würde, hätte er aufgestöhnt.
Bozen fuhr fort: „In dieser Akte stehen neun Namen. Es sind die Namen von neun Toten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Burking gestorben sind. Ich möchte gern glauben, dass Duchamp sie erst nach ihrem Tod hineingeschrieben hat, aber der Glaube hat mich nicht auf diesen Stuhl gebracht, sondern der Unglaube. Schon allein deshalb, weil in den letzten Jahren rund zwanzig weitere Attentate begangen worden sind, die nur jemand ausführen konnte, der sowohl über explizites Insiderwissen als auch außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt. Die Amerikaner nennen ihn den ‚Salamander‘, weil er immer da auftaucht, wo es so heiß ist, dass sich niemand anders da hin trauen würde. Mitten im Gebiet des Islamischen Staates, in hochbewachten Burgen von afrikanischen Warlords und in Drogenanbaugebieten Asiens und Afghanistans. Man sagt ihm sogar nach, letztes Jahr einen Forschungskomplex in der Antarktis gesprengt zu haben. Sie haben diesem Mann gegenübergesessen, als wären Sie alte Freunde. Ich bin jetzt Ihr Gericht und der Ankläger, vielleicht aber auch ihr Verteidiger. Das kommt darauf an, was sie mir zu sagen haben. Die Fotos bitte.“

Borg schob die Bilder wieder zu Bozen hinüber und überlegte genau, was er sagen konnte. Die Drohung nahm er nicht sonderlich ernst. Viel interessanter war für ihn, das Bozen von sich statt von dem Geheimdienst gesprochen hatte, dem er vorstand und darauf baute Borg seine Strategie auf.
Er sagte: „Wenger hat mit Insiderwissen geprahlt, schien alles über Duchamp und Vallon und unsere Interna zu wissen. Für mich sah es danach aus, dass er mich als Informanten gewinnen wollte. Vielleicht ...“ Er machte eine genau berechnete Pause, Bozens Augenbrauen gingen in die Höhe und Borg fuhr fort: „Vielleicht will er sich sein Netzwerk trotz des Todes von Duchamp erhalten. Solche Leute leben von ihren Beziehungen; davon, dass sie genau wissen, wann was passiert und davon, dass sie Aufträge bekommen und jemand sie bezahlt. Solche Leute könne nicht einfach aufhören, sie wissen gar nicht, was ein normales Leben ist. Wir könnten natürlich versuchen, ihn auszuschalten, Sir, aber ich halte das nicht für die beste Option.“

„An was denken Sie?“ Aus Bozens Gesicht konnte Borg nichts ablesen und so wusste er nicht, ob der es ihm durchgehen ließ, dass er auf die Mordserie nicht einging. Er riskierte es. „Mit Wenger hat sich Duchamp offenbar seinen eigenen Höllenhund geschaffen, eine Faust, die überall da zuschlägt, wo offizielle Einsätze nie genehmigt worden wären. Wir wissen nicht, was er gegen ihn in der Hand hatte, aber wir wissen, dass Wenger etwas will. Wenn wir so tun, als würden wir es ihm geben, können wir ihn vielleicht lange genug für einen Zugriff hinhalten.“

Bozen überlegte. „Sie gehen also davon aus, dass er Sie noch einmal kontaktieren wird und sie gehen gleichfalls davon aus, dass Sie dieses Treffen lange genug überleben, dass Sie die Kavallerie alarmieren können. Bei dem Mann? Ist das nur Selbstüberschätzung oder schon Größenwahn?“
Bozen griff nach der Akte und ließ sie wieder im Panzerschrank verschwinden. Ohne Kommentar oder Entschuldigung. Dann sagte er: „Ich habe mir Ihre Ausbildungsergebnisse angesehen. Sie haben zwar keine Erfahrung im Außendienst, aber Sie scheinen ein Naturtalent zu sein. Es wird Tag und Nacht ein Einsatzkommando auf ihr Signal warten. Sie gehen keinen Schritt mehr, ohne dass wir ihn kennen und ohne Waffe. Sie wird mit dem stärksten Betäubungsmittel bestückt, das wir haben. Ich muss nicht betonen, dass Sie gegenüber jedermann außer mir Stillschweigen zu wahren haben, denke ich. Auch nicht gegenüber dem Spezialeinsatzkommando. Für die lasse ich einen internationalen Haftbefehl ausstellen, ohne Foto, aber mit Personenbeschreibung. Ich will den Druck auf Wenger ein wenig erhöhen.“

„Sir.“ Borg stand auf. Er nahm an, dass damit die Besprechung beendet war und wollte gehen, doch Bozen hatte noch eine Nachbemerkung. „Ich mache immer einen Schritt nach dem anderen. So werden Sie auch ab sofort arbeiten. Fassen Sie Wenger und dann unterhalten wir uns über neun ungeklärte Morde und ein Telefongespräch zwischen Ihnen und Vallon, dass offenbar der Grund Ihres Hierseins ist. Sie können gehen.“
„Ja, Sir.“ Borg achtete darauf, dass seine Miene nichts anderes ausdrückte als Freude darüber, endlich in den Außendienst zu können. Doch er hatte begriffen, dass er Bozen keine Sekunde unterschätzen durfte.

Wieder stellte Borg alle Aktivitäten neben seiner offiziellen Arbeit ein. Er wollte nicht riskieren, dass sein neuer Chef Grund bekam, an ihm zu zweifeln. Borg erhöhte seine Trainingsintensität, besuchte drei bis vier Mal in der Woche die Trainingshalle, nahm an Schießübungen teil und fühlte sich vollkommen ausgelaugt, wenn er irgendwann nach Hause kam. Doch Wenger ließ sich nicht blicken und Borg gab langsam die Hoffnung auf. Bozen bestand auf den festgelegten Sicherheitsmaßnahmen und so gab Borg ein viertel Jahr lang den Lockvogel, bis Wenger sich wieder blicken ließ.

Es war wieder ein Mittwoch nach dem Training und schon vom Eingang aus sah er Wenger am gleichen Tisch sitzen, an dem er ihm vor vier Wochen begegnet war. Allerdings hatte Wenger sich diesmal auf Borgs Platz gesetzt, so dass er die Wand im Rücken und den Gastraum im Blick hatte. Borg überlegte einen Moment, ob er jetzt bereits das Team alarmieren sollte, doch er sah, dass Wenger ihn im Blick hatte und ließ es. Wenger sagte kein Wort, nicht einmal ein „Guten Tag“ kam ihm über die Lippen. Sein Blick ruhte kurz auf Borg, als der sich setzte, dann schweifte er durch den Gastraum und zum Fenster. Die Bedienung kam, Borg bestellte nur einen Kaffee und Wenger sagte noch immer keinen Ton. Aber jetzt hielt er seine Augen starr auf Borgs Gesicht gerichtet und eine Frage stand in ihnen. Borg hatte auch eine und er stellte sie: „Wer sind Sie?“

„Ein hochfunktionaler Soziopath. Originalton Duchamp. Aber das werden Sie wissen, wenn ihnen Bozen meine Akte vorgelesen hat.“

Borg schnappte nach Luft und etwas wie ein Grinsen huschte über Wengers Gesicht, so schnell, dass Borg es kaum mitbekam. „Sie hatten nicht genug Daten, um mich zu finden, aber genug, um zu glauben, dass der mir die Information geliefert hat, an was sie gerade arbeiten. Ihr nächster logischer Schritt konnte nur gewesen sein, in ihren Netzen nach mir zu suchen, falls Sie nicht lieber ein paar Milliarden Bilder durchsuchen wollten. Was Ihnen auch nichts genutzt hätte, wenn ich eine Gesichtsoperation hätte machen lassen. Sie wirkten nicht überrascht, mich hier zu sehen, also hat Bozen die Akte gefunden und Sie eingeweiht. Sie sind logisch und effektiv, genau wie Bozen. Damit berechenbar, wenn auch auf hohem Niveau. Vermutlich sind Sie sogar verwanzt, weil Bozen oder Sie neugierig auf ein paar Antworten sind. Kann ich verstehen, auch wenn ich bezweifle, dass Sie sie verstehen werden. Sie haben ja nicht einmal meine Letzten verstanden. Jetzt fangen Sie hier bitte vor lauter Enttäuschung keine Schießerei an. Das bedeutet ‚hochfunktional‘. Den Soziopath erleben Sie, wenn sie auch heute Abend meine Antworten nicht verstehen.“

Der Kaffee kam, aber diesmal lag nur ein Stück Zucker auf dem Rand der Untertasse. Wengers Augen waren ständig in Bewegung und scannten das Bistro und die Straße davor.

Er fragte: „Was wissen Sie?“

Borg beschloss, ihm ein paar Brotkrümel hinzuwerfen. „Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen darf. Wenn ich es tue, dann, weil ich Ihre Antworten schon richtig verstanden habe. Die Opfer haben professionelle Leibwächter ausgeschaltet, mit roher Körperkraft; sogar Genickbrüche waren dabei. Das ist für einen normalen Menschen so gut wie unmöglich, dazu ist die Halsmuskulatur viel zu stark. Entsprechendes Training und das Überraschungsmoment gehören dazu und nichts davon haben sie besessen. Dann sind ihre Gefäße geplatzt, Blut rinnt aus ihren Augen und sie zertrümmern in einem Tobsuchtsanfall mit bloßen Händen alles, was sie erreichen können, bevor ihr Herz aufgibt, und verrecken dann wie tollwütige Hunde. Es ist eine fürchterliche Waffe und sie hinterlässt keine Spuren im Körper.“

Wenger schüttelte den Kopf. „Keine Waffe. Ein Medikament für die Menschen des nächsten Jahrtausends. Beschleunigte Signalverarbeitungsgeschwindigkeit; Selbstheilungsfähigkeit; signifikant erhöhte Kraft/Ausdauer und Zugriff auf jeden Sinneseindruck, den sie jemals im Leben aufgenommen haben. Sie konnten sich an den exakten Geschmack ihrer Muttermilch erinnern; an jeden, dem sie einmal begegnet sind; jedes Wort, das sie gehört oder gesprochen haben; jedes Bild, das sie gesehen haben. Zwei Stunden waren sie Götter mit einem Befehlsempfänger im Ohr, bis die Neuronen in ihren Gehirnen aus allen Rohren gefeuert haben und alle Hormondrüsen gleichzeitig ihren Inhalt in die Blutbahn geschüttet haben. Alles, was sie je in ihrem Leben gefühlt haben, ist in diesem einen Moment auf einmal über sie hereingebrochen wie eine Dreißigmeterwelle über einen Surfer. Kein menschliches Gehirn hält das aus und sollte es doch mal passieren, wäre er danach ein gefühlloses Monster.“

Wenger sah aus dem Fenster. Die weiße Narbe an seinem Mundwinkel bewegte sich wie eine winzige Schlange und gab seinem Gesichtsausdruck etwas Bitteres. „So hat mir das Vallon erklärt. Er war besser als Sie. Er und Duchamp wussten, warum sie alles unter Verschluss hielten.“

Vallon war nicht besser gewesen, das wusste Borg genau. Er packte diese Informationen zu den schon vorhandenen Puzzlesteinen in seinem Kopf.

Wenger sah Borg wieder an. „Das heißt, Sie tappen noch im Dunkeln? Belassen Sie es dabei.“

„Selbst wenn nicht, würde ich es kaum Ihnen sagen. Alle Opfer waren stinkreich, große Tiere und Ihr Dalberg-Acton sagt zu solchen Leuten: ‚great men are almost always bad men‘. Es gibt Tausende, denen sie auf die Füße getreten sind und Hunderte, die auch die Möglichkeiten für den technischen Background haben, wie Labors und Wissenschaftler. Regierungen; Geheimdienste; große Konzerne; reiche Weltverbesserer – jeder kommt dafür infrage.“

„Nein, die Politiker und Geheimdienste sind nur Erfüllungsgehilfen und Befehlsempfänger.“

„Hatte eines Ihrer Opfer noch Zeit, Ihnen Unterricht in Politologie zu geben?“

„Über Nacht erwachsen geworden, hm?“

„Früher werden müssen, als Sie ahnen. Deswegen kann ich mir auch vorstellen, was passieren würde, wenn man das Zeug in einem Fußballstadion freisetzt. Ich werde herausfinden, wer es entwickelt hat und wer es einsetzt. Das ist alles nur eine Frage der Zeit.“

„Ihr neuer Chef wird Ihnen einen Orden umhängen und Sie lieben wie einen Sohn. Vielleicht gibt er Ihnen auch einen dicken Schmatz. Wenn sein dicker Zinken im Gesicht dabei nicht im Wege ist. Sie sind ein hochintelligenter Dummkopf. Wie so viele Genies, die einen Raketenantrieb mit Papier und Bleistift konstruieren können, aber nicht wissen, dass zwischen Austria und Australia ein paar zehntausend Kilometer liegen. Ist ja auch Wurst, wo das Ding einschlägt, Hauptsache, es knallt ordentlich. Denken Sie, Borg. Denken Sie nach. Welchem Menschen können Sie eine Waffe in die Hand geben, die spurenlos tötet und nicht zu ihm zurückverfolgt werden kann? Ohne dass er der Versuchung erliegt, sie selbst zu benutzen?“

Mit wenigen Sätzen hatte Wenger das skizziert, was Borg antrieb. Aber Wenger hatte nicht auf Borg gezielt und deswegen schoss er schnell eine Salve ab, damit der das nicht weiter verfolgte: „Wir reden hier nicht über Philosophie, sondern Mord, ziemlich perversen und möglichen Massenmord. Sollte ich herausfinden, dass Sie etwas damit zu tun haben, ist es aus für Sie mit Philosophieren.“

Wenger reckte sich, ließ seine Gelenke knacken und seine sanften Augen glitzerten, als wären sie aus braunem Eis. „Ich freu mich drauf, Borg. Irgendwie habe ich mich in den letzten Jahren unter euch angeblichen Profis gefühlt wie Rambo unter Steinzeitmenschen, wobei ‚gefühlt‘ nicht ganz zutreffend ist. Sie könnten eine Abwechslung werden. Aber nehmen Sie den Mund nicht zu voll. Wie wäre es mit einem Gang in die Trainingshalle nebenan? Ich schüttel Sie ein bisschen durch. Würde mich interessieren, ob Ihr Karate auch etwas gegen brutale Gewalt taugt.“

War das die Gelegenheit? Borg kalkulierte blitzschnell im Kopf: Das Team würde zwölf bis fünfzehn Minuten brauchen, er und Wenger fünf bis zur Halle, zehn bis fünfzehn zum Umziehen und wer weiß, vielleicht ergab sich für ihn zwischendurch auch die Möglichkeit für einen Schuss. Wenn nicht, musste er nur ein paar Minuten im Ring durchstehen. Er hatte zwar noch immer Trellsons schmerzverzerrtes Gesicht vor Augen, aber Borg war sich sicher, dass er das irgendwie überstehen würde. Er durfte nur nicht zu schnell zustimmen, sonst könnte Wenger vielleicht noch misstrauisch werden.

„Es ist nach zehn“, sagte er. „Die Halle ist zu.“

Wenger lachte laut. „Sie werden doch nicht vor einem simplen Türschloss kapitulieren?“

„Ich habe meine Sachen nicht dabei.“

„Sie haben Angst.“

Das hatte Borg, aber nicht genug. Er stand auf. „Sie werden es bereuen“, und es war der erste ehrliche Satz, den er heute Abend sagte.

Wenger erhob sich. „Tja, das weiß man immer erst hinterher. Nach Ihnen, ich behalte Sie lieber im Auge. Man weiß ja nie.“

Borg ging voraus, suchte sich eine Gästetraube, drängelte sich hindurch und drückte dabei verstohlen zweimal auf das Glas seiner Armbanduhr.

wird fortgesetzt ...
Höllenhund Fortsetzung
Die Trainingshalle befand sich im Erdgeschoss eines roten vierstöckigen Backsteingebäudes aus den Anfangszeiten des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Büroräume darüber waren fast alle leer bis auf eine Import/Exportfirma, die den gesamten vierten Stock belegt hatte. Borg ließ sich Zeit, er wusste, dass jede Sekunde für ihn zählte. Wenger machte es sich einfach mit dem Schloss in der altersschwachen Tür – er drückte einmal kräftig mit der Schulter und sie sprang auf.

Borg schätzte ihn auf gut einhundert Kilogramm, er selbst wog zwanzig Kilogramm weniger und das bedeutete, dass er sich auf keinen Fall einen Volltreffer einfangen durfte. Aber er wusste, dass er schnell und zäh wie eine Katze war und ging davon aus, dass er Wenger lange genug beschäftigen konnte, bis das Team eintraf, ohne sich in allzu großer Gefahr zu befinden.

Der Boxring in der Mitte der fensterlosen Halle nahm den meisten Platz ein. Ein paar Sandsäcke und Boxbirnen hingen noch von der Decke, in einer Ecke war eine Tatami, auf der Borg mit seinem Sensei trainierte und gegenüber dem Eingang war die Tür, die zu den Funktionsräumen führte – Duschen und Umkleideräume und über allem lag ein penetranter Schweißgeruch. Die Halle machte nicht viel her, doch denen, die hierherkamen, war das egal. Hier wurde nicht nach Regeln trainiert, gab es keine Ringärzte und Masseure. Wer hier trainierte, wollte auf der Straße überleben und floss hier einmal Blut, machte man kein großes Gewese darum. Man wischte es selbst weg und gut war es.

Wenger hatte nicht das komplette Hallenlicht eingeschaltet, sondern nur die vier Lampen, die genau den Boxring ausleuchteten und Borg war es nur recht. Er lockerte mit ein paar Kopfbewegungen seine Nacken- und Schultermuskeln, hielt Wenger die Seile auseinander, aber der sagte wieder nur: „Nach Ihnen“.

Borg zuckte die Schultern, stieg durch die Seile, Wenger folgte ihm und blieb dicht hinter ihm.

„Ziehen Sie ruhig Ihre Jacke aus“, brummte er. „Nicht, dass Sie noch einen Unfall haben mit dem Ding, das da drin steckt.“

Borg wusste, wann er verloren hatte. Er ließ die Jacke von den Schultern gleiten, warf sie über die Ringseile ins Dunkel, öffnete mit ruhigen Bewegungen das Achselholster und legte es zusammen mit der Glock-48 in der Ringecke ab.

„Na?“, brummte Wenger und Borg schob mit dem Fuß die Waffe nach draußen. Es schepperte kurz, als sie aus einem Meter Höhe vom Ringboden auf die Dielen fiel.

„Und Sie?“, fragte er.

Wenger knurrte: „Fangen Sie an, dann werden Sie wissen, dass ich keinen Schießprügel brauche.“

Er zog nicht einmal seine alte Lederjacke aus. Sie würde seine Bewegungsfreiheit einschränken, ihn langsamer machen, aber das schien ihn nicht zu stören. Sie waren nicht zum Training hier, trugen keine Handschuhe und in einem solchen Kampf entschied der erste wirkliche Treffer. Wenn Wenger sich selbst langsamer machen wollte, wäre Borg der Letzte gewesen, der es ihm gesagt hätte.

Wenger hatte sich in der Mitte des Rings postiert, machte keine Bewegung zu viel, beobachtete Borg und reagierte nur. Der umkreiste Wenger, fintierte ein paar Tritte gegen die Knie und Schläge auf den Körper, Wenger wich aus oder blockte – nichts weiter als Aufwärmung, Schwächen und Reaktion testen. Er war schnell und gab sich keine Blöße, doch Borg hatte auch noch nicht ernst gemacht und mit voller Geschwindigkeit gekämpft.

Er täuschte einen Seitwärtstritt gegen Wengers rechtes Knie an, der wich aus, doch Borg wandelte den Beinschwung in eine volle Körperdrehung, vollendete sie und hätte Wenger erwischt, wenn der sich nicht im letzten Augenblick weggedreht hätte. Borg hatte ihn genau beobachtet dabei und es sich gemerkt. Wenger schlug ein paar halbherzige Geraden, Borg hatte keine Mühe, ihnen auszuweichen, zumal Beinarbeit nicht Wengers Ding zu sein schienen und dann geschahen drei Dinge fast gleichzeitig: An der Grenze von Licht und Dunkelheit hinter dem Ring und Wenger sah Borg eine undeutliche Bewegung; seine Uhr am Handgelenk vibrierte und Wenger knurrte: „Hören Sie endlich auf, zu spielen!“

Borg wusste, dass sein Team jetzt in Position war und griff an. Wieder täuschte er den Tritt gegen Wengers Knie an, wieder wich der aus, wieder drehte Borg sich um seine Achse und riss das Bein hoch. Diesmal trat er mit voller Wucht zu. Wie er erwartet hatte, hatte Wenger sich wieder gedreht und Borgs Tritt erwischte ihn diesmal genau am vorausberechneten Punkt voll an der Schulter.

Es hätte Wenger umreißen müssen, achtzig Kilogramm Körpergewicht, jede Menge Trainingserfahrung und die Geschwindigkeit der Rotationsbeschleunigung steckten hinter dem Aufprall von Borgs Fußsohle auf Wengers Schlüsselbein. Doch der grunzte nur und Borg hatte das Gefühl, als hätte er gegen eine Betonmauer getreten; Schmerz raste sein Bein empor, er taumelte zurück, hatte für einen Sekundenbruchteil keinen festen Stand und es war der Moment, in dem Wenger ihm seine Faust in den Solarplexus rammte.
Würgend ging Borg zu Boden, Sterne kreisten vor seinen Augen und er dachte an ein Pferd, das ihn gerade getreten hatte. Etwas wurde ihm in die Hand gedrückt und Wenger sagte: „Gut festhalten und nicht bewegen. Schall- und Bewegungszünder!“

Jemand brüllte: „Keine Bewegung!“, und erst jetzt sah Borg wieder einigermaßen klar. Er lag am Boden, hielt einen Metallzylinder in der Hand, Wenger stand mit einer Hand in der Tasche seiner Lederjacke neben ihm und wurde von vier Seiten angeleuchtet – das Team hatte ihn umstellt.

Borg wollte sich aufrappeln, da viel ihm ein, was Wenger gesagt hatte. Der grinste auf ihn herab. „CZ-31. So eingestellt, dass sie beim Knall eines Schusses detoniert oder sollten Sie Ihrem Fluchtreflex nachgeben.“

Borg blickte auf seine rechte Hand. Sie hielt einen schwarzen Metallzylinder. „Sie ...“ Er stöhnte vor Wut. „Es wird Sie auch zerreißen!“

„Kein Problem. Ich bin schon längst tot.“ Blanker Wahnsinn irrlichterte plötzlich in Wengers Augen.

„Heben Sie die Hände über Ihren Kopf!“, brüllte jemand aus dem Dunkel.

„Nicht schießen!“, schrie Borg. „Ich habe eine Granate mit Schall- und Bewegungszünder!“

„Und jetzt: Licht aus!“ Wenger lachte irre, im Flur ertönte ein leiser Knall, es wurde finster und nur noch die auf Wenger gerichteten Leuchtkegel der Lampen des Einsatzkommandos waren da.

Er ließ sich über die Seile fallen, Borg hörte den Aufprall, ein Schuss dröhnte durch die Halle, in Borg krampfte sich alles zusammen, dann wusste er, dass Wenger ihn verarscht hatte. Die Granate war nicht detoniert.

„Feuer einstellen!“, brüllte der Einsatzleiter. „Wir treffen uns gegenseitig. Wir sind genug, um so mit ihm fertig zu werden. Ausgänge sichern, Dreierteams durchkämmen die Halle! Kein Schusswaffeneinsatz.“

Von irgendwo klang ein Lachen durch die Halle. Borg reckte den Kopf, aber von seiner Position konnte er nicht sehen, was in der Halle geschah und sich zu bewegen, wagte er nicht. Wenger war irre, das war jetzt klar für Borg und auch wenn der den Schallzünder nicht aktiviert hatte, konnte sein kaputtes Gehirn es immer noch als Spaß ansehen, wenn es Borg zerriss, weil der daraus geschlussfolgert hatte, dass auch der Bewegungszünder nicht aktiviert worden war.

Er raste vor Wut, aber sein Selbsterhaltungstrieb verbot ihm jede Bewegung. Er konnte nichts weiter tun, als dem Aufblitzen der Lichtkegel folgen und auf die Geräusche in der Halle hören und es gab genug davon, Stöhnen war darunter, Schreie, das Geräusch brechender Knochen, dumpfe Schläge, irgendwo fiel etwas um, dann wieder doch ein Schuss und schließlich wurde es still. Totenstill. Dann waren Schritte da, langsame, schwere Schritte. Sie kamen näher und alles in Borg krampfte sich zusammen.

Zwei Hände fassten nach dem obersten Ringseil, dann flog Wenger darüber hinweg und der Ringboden vibrierte, als er neben Borg landete. Eine Weile betrachtete er den liegenden Borg, dann hockte er sich neben ihn und sagte: „Willkommen im Leben, Ragnar Borg. Keine langen Reden mehr. Ich weiß, wen Sie suchen und ich schütze ihn. Wenn er einmal im Jahr ein oder zwei Geldsäcke umbringen lässt, ist mir das egal. Ich erinnere ihn nur ab und zu daran, dass ich ihn im Auge habe, damit er nicht gierig wird. Wird er es doch einmal, mache ich ihm das Licht aus. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihnen das Gleiche geschieht, lassen Sie die Finger davon. Eine Entdeckung kann nicht rückgängig gemacht werden, der Korken geht nicht mehr in die Flasche. Sie hätten mir helfen können, das wäre eine echte Aufgabe für Sie gewesen, kein Vertun. Aber Sie wollten ja nicht. Schade eigentlich.“

Er richtete sich auf, griff nach den Ringseilen, um zu gehen und das Einzige, was Borg herausbrachte, war: „Die Granate ...“

„Wie?“ Wenger hielt inne, dann lachte er. „Ach ja. Hätte ich doch glatt vergessen. Gibt nur eine Art, herauszufinden, ob sie scharf ist. Viel Glück dabei.“

Diesmal zwängte er sich durch die Ringseile. Borg hörte seine schweren Schritte verklingen und kurz darauf wurde eine Tür zugeschlagen.
*******ub74 Mann
134 Beiträge
@*******jan :

Ich bin höchsterfreut, "Dich" weiterlesen zu dürfen - wieder sehr gelungen, finde ich! *g*
Mir macht es wirklich Spaß, diese ganze Geschichte zu verfolgen - und natürlich bin ich sehr gespannt auf mehr! *top*
Fortsetzung
Zehn Jahre später, Naher Osten, am Berg Cudi Dagi

„Ich mag Geheimdienstleute nicht.“

Wäre Captain Jean Thatcher ein Mann gewesen, wäre es Testosteron gewesen, dass ihre Stimme so rau machte. So war es nur Wut.

Trotzdem erwiderte Borg nichts, auch wenn sie ihm galt. Er hatte eben dem Aufklärungsstab der sechzehnten britischen Air Assault Brigade das mitgeteilt, was er für notwendig hielt. Auf die meisten Fragen des Stabschefs hatte er keine Antwort geben können, auf manche keine geben wollen und so war es eine eher einseitige Angelegenheit gewesen. Thatcher hatte sich Borg nur mit Name und Dienstgrad vorgestellt, ihre Einheit hatte sie nicht genannt und auch der Stabschef, immerhin ein Oberst, hatte es nicht für notwendig gehalten. Borg war sich sicher, dass sie zum britischen Special Air Service, oder kurz ‚SAS‘, gehörte. Eine Spezialeinheit, die oft genug mit mangelnden Aufklärungs- und Geheimdienstinformationen losgeschickt wurde. Dass ihre Einsätze trotzdem nur selten in einem Fiasko endeten, lag daran, dass sie so überragend gut war.

„Von dem, was sie wissen, erzählen sie immer nur die Hälfte und von dem, was sie wollen, gar nichts. Haben sie auch nur die geringste Ahnung, wie viel meiner Jungs wegen eurer Scheiße schon ins Gras gebissen haben? Ich sag Ihnen, was hier wirklich läuft!“

Sie machte eine weit ausholende Armbewegung. „Das hier, dieser Scheiß Nahe Osten hat schon zu allen Zeiten eine Anziehungskraft auf Räuberbanden aus aller Herren Länder gehabt. Dass in Rakka ist nichts weiter als die Fortsetzung dieser Scheißtradition, auch wenn er sich Islamischer Staat schimpft. Auch wenn er sich Gesetze gibt, eine Regierung einrichtet, Steuern einzieht und sogar einen eigenen Geheimdienst hat. Aber trotzdem ist er nichts weiter als eine verdammte Bande von Räubern, Mördern, Vergewaltigern und Sklavenhändlern und das im Namen eines Gottes, der ihnen befohlen haben soll, alle die zu killen, die nicht an ihn glauben. Sagt vielleicht nicht viel über den Gott, aber ne Menge über die, die in seinem Namen denken, ungestraft morden zu dürfen und noch mehr über die, die gerne den Mantel ‚Glaubensfreiheit‘ darüber gebreitet hätten. Ich meine die bei uns. Da sitzen nämlich die echten Arschlöcher. Die kennen den Tod nur aus der Zeitung und deswegen stört die auch nicht, dass sich irgendwelche weiteren Arschlöcher, die sich bei uns in ihrem Recht auf Mord und Vergewaltigung eingeschränkt fühlen, hier ein neues Betätigungsfeld finden und wenn wir dem Spuk jetzt hier ein Ende bereiten, rennen sie schnell wieder nach Hause und ich darf sie da nicht mal umbringen, weil die armen Traumatisierten ja nur auf einem Selbstfindungstrip gewesen sind, der ein bisschen schief gegangen ist. Scheiße!“

Sie hatte sich in Rage geredet. Dabei hatte sie am Anfang auf Borg eher einen ruhigen Eindruck gemacht. Sie war um die vierzig, drahtig, nicht besonders groß und trug ihre brünetten Haare so kurz, dass eine Glatze nur Millimeter entfernt war und war einer von den Menschen, für die ein Blick schon fast verschwendet schien. Doch Borg hatte sich die Zeit für einen zweiten Blick genommen, ihr ernsthaft in die tiefliegenden dunklen Augen geschaut. Etwas lauerte in dem Netz von Krähenfüßen rund um ihre Augenwinkel, dass ihm Angst hätte machen können, hätte er solche Augen nicht schon einmal gesehen – bei Wenger. Nicht, dass Captain Jean Thatcher die Augen eines Killers gehabt hätte, aber sie strahlte etwas aus, dass nur Menschen an sich haben, die mit dem Tod auf du und du stehen und ihm dabei stets einen Schritt voraus sind.

Mit einem Zeigefinger, hart wie eine Stahlklinge, tippte sie Borg auf die Brust. „In nur wenigen Jahren sammeln die hier ein Milliardenvermögen an. Aus Raub, Plünderung, Erdölverkauf, Sklavenhandel? Bullshit! Ich wette, der größte Teil davon stammt von den Konten selbstverständlich nicht genannt werden wollender Spender aus unserer ach so zivilisierten Welt. Und warum? Weil sie sich von dieser verfickten Mörderbande hier eine Destabilisierung dieser Region erhofften, damit sie selbst danach dann leichtes Spiel beim Ausplündern und Neuaufteilen haben.“

„Tun Sie nicht so, als sei das neu für Sie. Kommen Sie zum Punkt.“

„Ich komme, Borg. Ich komme und zwar nachher zu Ihnen ins Zelt. Dann will ich das wissen, was Sie eben nicht gesagt haben. Warum die Sechzehnte das Chemiewerk nicht einfach mit einem Luftschlag plattmacht. Warum meine Männer beim Freikämpfen der Fabrik ihren Arsch riskieren müssen, damit Ihr Team hineinkann. Wir haben fünf Protonenkompressionssprengsätze hier, die wir genauer einsetzen können, als jeder verdammte Chirurg sein Skalpell und von der ganzen Scheiße bleibt nur noch graue Asche. Warum sagen Sie, wir dürfen das nicht, Borg?!“

Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder und ballte sie erneut. „Wegen irgend so einer Geheimdienstscheiße! Ihrer Geheimdienstscheiße und dafür werden meine Männer draufgehen!“

Sie spuckte ihm vor die Füße, dann ließ sie ihn stehen. Da, wo sie ihre Kampfstiefel aufsetzte, stiebte der Wüstensand hoch und irgendwie erinnerte ihre Wut Borg an Bozen in Brüssel vor gut zehn Jahren.

Das Grinsen und die nicht sonderlich netten Kommentare des Waffentechnikers, der ihm die perfekt nachgemachte Attrappe der CZ-31 – wie sich hinterher herausstellte - aus seiner verkrampften Hand genommen hatte, hatte Borg nicht angehoben. Er sorgte nur dafür, dass dem Mann drei Wochen später beim Test einer durch einen Mikrochip gesteuerten Blendgranate selbige um die Ohren flog. Auch bei der Standpauke, die Bozen ihm und den neun Männern des Einsatzteams hielt, verzog Borg keine Miene. Wenger hatte die Männer nur kampfunfähig gemacht, auch wenn Borg sich nicht vorstellen konnte, wie er das angestellt hatte, immerhin waren es Profis gewesen, die so einen Einsatz nicht zum ersten Mal gemacht hatten und Bozens Wutausbruch klang nicht danach, als rechnete er ihnen ihr Überleben als Verdienst an.

Dass ihn Bozen jedoch nach dem Fiasko in der Sporthalle in des Wortes bester Bedeutung ‚in die Wüste‘ schickte, verzieh Borg ihm nicht. Außeneinsätze waren zwar das gewesen, was er gewollt hatte, jedoch nicht als Analyst und Planer in den umkämpften Krisengebieten des Nahen Ostens und Nordafrikas.

Zusammen mit reichlich heißem Wüstensand schluckte er die Kränkung herunter. Sie hielt ihn nicht davon ab, weiter nach der Herkunft des Perverdrins zu suchen. Sechs weitere Perverdrinmorde hatte es gegeben, die in das Schema passten, ebenso jeweils kurz darauf weitere Opfer, die einfach aufgehört hatten, zu atmen und Borg war sich sicher, dass Wenger immer noch seiner Lieblingsbeschäftigung nachging. Der war tatsächlich wie ein Geist, denn in den ganzen zehn Jahren war er nie gefasst, ja nicht einmal eine Spur von ihm gefunden worden und dass er noch aktiv war, wusste Borg nur deshalb, weil ab und zu ein paar Leute unverhofft aufhörten, zu atmen.

Seine Computer hatten eine Liste ausgespuckt, die elf Namen von Männern und Frauen enthielt, die innerhalb der letzten zwanzig Jahre einen wahrhaft kometenhaften Aufstieg in die Liga der Reichen hingelegt hatten und die am meisten von den Perverdrinmorden und der damit verbundenen weltweiten Machtverschiebung profitierten. Auf Platz eins stand für Borg Cillary Hinton, eine amerikanische Multimilliardärin mit besten Geheimdienstbeziehungen, von der man munkelte, dass sie nicht einmal davor zurückschreckte, afrikanische Warlords und Terroristen im Nahen Osten mit Giftgas zu beliefern. Auf Platz zwei folgte Ruud Ängström, doch über den bekam nicht einmal Borg viel mehr heraus, als in der Zeitung stand: Dass der über ein weltumspannendes Netz von miteinander verzweigten Firmen verfügte und dass, wenn in einem halben Jahr ein neuer Präsident der Weltbank gewählt wurde, Ängström einer von den Kandidaten war, die weit oben auf dem Wahlzettel standen.

Doch eines hatte Borg doch herausgefunden: Dass es von der Firma, die in Rakka, direkt unter den Augen der Herren des Islamischen Staates, eine chemische Fabrik errichten ließ, eine Verbindung in Ängströms Firmengeflecht gab. Dann waren vor ein paar Monaten seltsame Gerüchte über Gottesurteile aufgetaucht – die Bewohner ganzer Dörfer sollten sich gegenseitig umgebracht haben, nur weil Imane des IS es ihnen befohlen hatten und nie hatte es Zeugen gegeben.

Borg forderte von Bozen ein Team an, bekam es und ein paar Wochen später hatten sie Gewissheit: Der Islamische Staat setzte Perverdrin ein. Es war der Moment, in dem Borg seine Träume begrub, weil er wusste, dass das zu groß für ihn war.

Vier Wochen später fand er sich am Cudi Dagi nahe der türkisch-syrischen Grenze im Camp von Einheiten der sechzehnten Air Assault Brigade wieder und im ganzen Camp wussten nur Brigadegeneral Rifflestone und Borg, dass ihr Auftrag weder lautete, Rakka einzunehmen noch den Islamischen Staat zu vernichten. Er lautete: Perverdrin sicherstellen, um jeden Preis.

Borg war vor seinem Zelt angekommen. Es lag am Rand des Camps, mit der Rückseite an einem Felsen, die Zelte seines Teams waren nicht weit entfernt. Er schlug den Eingang hoch, damit die kühle Nachtluft die stickige Hitze aus dem Zelt vertreiben konnte, dann ging er hinein.

Er schaltete die kleine Lampe über seinem Kartentisch an und hinter ihm räusperte jemand. Borg war sich sicher, dass es nicht Thatcher sein konnte, deren Schritte hätte er gehört. Er drehte sich um. Auf seinem Bett lag jemand, das Licht reichte nicht bis zum Kopfende, und er drehte die Lampe.

Wenger sagte: „Hallo Borg. Wir sollten mal wieder ein Sparring machen.“

wird fortgesetzt ...
Borg erzählt
In einem sandfarbenen Djellaba mit Kapuze lag er auf meinem Feldbett. Mein erster Reflex war, zu schreien. Ich öffnete schon den Mund, dann schloss ich ihn wieder, tonlos. Er lag auf dem Rücken, hatte den linken Arm zwar scheinbar entspannt hinter den Kopf gelegt, aber seine Rechte spielte mit einem Kampfmesser und ich erinnerte mich noch zu gut an den unglaublichen Wurf im Bistro zehn Jahre zuvor.

„Ja, keine gute Idee. Aber versuchen können sie es ja immerhin ...“ Seine Stimme klang fast schläfrig, doch seine Augen waren zu Schlitzen verengt und die Zeichen von Konzentration in seinem Gesicht unübersehbar.

Ich knurrte: „Ich hätte einen Herzschlag kriegen können.“

„Sie haben keins.“

„Nicht mehr, wenn es um Sie geht. Was wollen Sie?“

„Ihnen das Leben retten.“

„Wie vor zehn Jahren?“

„Das war doch nur Spaß.“ Er lachte leise, dann brach er abrupt ab. „Aber das hier ist keiner mehr. Ich vermute, dass Sie es auf die Düngemittelfabrik abgesehen haben. Gute Idee, aber nur mit ein paar Tomahawks von See aus. Jeder, der ihr am Boden auch nur nahe kommt, wird sterben. Ziemlich hässlich übrigens.“

Ich lehnte mich an den Tisch hinter mir und drehte mich unauffällig - wie ich dachte – so, dass Wenger meine rechte Hüfte vom Bett aus nicht mehr sehen konnte. Millimeter für Millimeter näherte ich sie der Pistole an meiner Hüfte.
Wenger hob das Messer. „Machen Sie ruhig. Vielleicht können Sie noch feuern, aber dann ist mein Messer schon in der Luft.“

Ich kreuzte die Arme vor der Brust. Ich hatte noch einiges vor im Leben.

„Dachte ich mir.“ Er entspannte sich.

Draußen näherten sich schnelle, kurze Schritte, dann baute sich Thatcher im Zelteingang auf. „Ich will jetzt ein paar Antworten, Borg!“, sagte sie.

„Wird er Ihnen nicht geben“, erwiderte Wenger vom Bett aus.

Sie machte einen Schritt ins Zelt und sah um die Ecke. „Sie sind?“

„Das Neueste auf dem Gebiet der optischen Täuschung. Ich bin gar nicht hier.“ Er erhob sich in seiner typischen Art: ohne jede ruckartige Bewegung, trotzdem unglaublich schnell und voller Kraft.

Sie maß ihn mit Blicken. „Ich habe schon hungrige Großkatzen gesehen, die plumper aufgestanden sind.“

„Gibt hier nur Salamander. Einen, um genau zu sein. Wussten Sie, dass auf einer der vier Bergspitzen hier Noah mit seiner Arche gelandet sein soll? Er hatte alle an Bord, die würdig waren, Gottes Strafe zu überleben. Damals war es nur eine Sintflut. Was Sie entfesseln, wenn Sie versuchen, Borg in die Fabrik zu bringen, wird schlimmer.“

Ihre Blicke wanderten von Wenger zu mir und wieder zurück. „Geht es ein bisschen exakter?“, fragte sie und meine Gedanken rasten. Aber selbst mit Thatcher an meiner Seite rechnete ich mir keine Chancen aus. Wenger würde sie einfach nur plattwalzen.

„Was wollen Sie wirklich?“, schnauzte ich schließlich und er erwiderte: „Zur Abwechslung mal ein paar Leben retten. Ihre. Captain ...“ Er nickte Thatcher zu, steckte das Kampfmesser ein und ging.

Auf ihrer Stirn stand eine steile Falte des Nachdenkens, die mir nicht gefiel und schnell machte ich eine wegwerfende Handbewegung. „Ein böser Geist aus der Vergangenheit. Nehmen Sie ihn nicht ernst. Was wollten Sie von mir, Captain?“

Sie drehte den Kopf wieder zum Ausgang, doch Wenger war schon längst verschwunden. Nicht einmal seine Schritte waren noch zu hören. Als sie sich wieder zu mir umdrehte, hielt sie eine Browning Hi-Power in der Hand und sie war auf meinen Bauch gerichtet.

Kalt sagte sie: „Glauben Sie wirklich, ich hätte noch nie vom Salamander gehört? Sie haben verdammt viel zu erzählen. Tun Sie es besser gleich, bevor ich Ihnen ein Loch in den Bauch schieße.“

„Fragen Sie Bozen. So lange er Ihnen keine Freigabe gibt, erfahren Sie von mir kein Wort.“ Ich war mir sicher, dass sie nicht schießen würde.

„Oh doch.“ Sie machte zwei schnelle Schritte nach vorn und stieß mir den Lauf der Waffe in den Bauch. „Neun Millimeter, Borg. Durch das Loch in ihrem Bauch kann ich meine Hand stecken und Ihre Gedärme rausreißen. Sie haben sich mit einem gesuchten Mörder und Attentäter unterhalten, als wäre es Ihr bester Kumpel, statt Alarm auszulösen. Wenn ich Sie jetzt erschieße, wird mir Bozen wahrscheinlich eine Medaille umhängen.“

Ich pflanzte meinen Hintern auf den Kartentisch und lächelte. „Sind Sie sicher? Ich meine, so sicher, dass sie dafür zwanzig Jahre Gefängnis oder ein Loch im Wüstensand hier riskieren würden?“

Das Netz aus Fältchen um ihre Augenwinkel zog sich zusammen, so angestrengt dachte sie nach, aber der Druck der Waffe auf meinem Bauch ließ keine Sekunde nach. Dann sagte sie, und aus ihrer Stimme klang blanke Verblüffung: „Er ist Ihr Pitbull? Der, den Sie die Drecksarbeit machen lassen ...“

Draußen wurde es laut, Leuten rannten hin und her, Kommandos wurden gebrüllt, dann steckte Roland Winter, ein Mann aus meinem Team, den Kopf ins Zelt und rief: „Das Waffenlager ist überfallen worden!“

Er schaute verblüfft auf die Waffe in Thatchers Hand, dann machte er, dass er wegkam.

Sie steckte sie wieder in ihr Holster. „Wir reden noch, Borg“, sagte sie, schon im Gehen. „Wenn Sie etwas damit zu tun haben, hänge ich Sie noch hier im Lager auf.“

Dazu kam sie jedoch vorerst nicht. Jemand hatte mitten im Camp der SAS lautlos die vier Wachen kampfunfähig gemacht, einen Protonenkompressionssprengsatz gestohlen und war unerkannt verschwunden. Das ganze Lager war auf den Beinen, doch die sofort von Thatcher organisierte Jagd brachte keinen Erfolg. Das Camp lag gut versteckt zwischen den Felsen am Fuß des Cudi Dagi und wer es von da einmal bis in die Klüfte des Berges geschafft hatte, war unauffindbar.

Zwölf Stunden später detonierte der Sprengsatz in Rakka und von der Düngemittelfabrik und denen, die zu dem Zeitpunkt darin gearbeitet hatten, blieb nichts weiter als feiner, grauer Staub. Thatcher ließ es sich nicht nehmen, mich persönlich in Handschellen bei Bozen in Brüssel abzuliefern. Der führte ein langes Gespräch unter vier Augen mit ihr und sperrte mich danach ein. Jeden Tag durfte ich sechzehn Stunden an meinem alten Arbeitsplatz im Rechenzentrum arbeiten unter Aufsicht von zwei Bodyguards, die mich keine Sekunde aus den Augen ließen. Er gab mir sechs Monate, um herauszufinden, was in Rakka produziert worden war und wer derjenige war, der dahinter stand. Was danach geschehen würde, sagte er nicht, aber ich konnte es mir in etwa denken.

*

Zehn Jahre sind in der Informatik eine Welt, jedes Jahr verdoppelt sich der Wissensstand und ich hatte während meiner Zeit im Nahen Osten mich nur rudimentär auf dem Laufenden gehalten. In den ersten zwei Monate brachte ich mich wieder auf den aktuellen Stand und schon da begann sich für mich ein Plan abzuzeichnen, der mir sowohl Bozen als auch Wenger vom Hals schaffen sollte. Dazu musste ich allerdings zwei Dinge herausfinden: Wer mit Hilfe des Perverdrins mordete und wer Wenger wirklich war, denn für mich war klar, dass es zwischen beiden eine Beziehung geben musste.

Es war schließlich ein Foto, dass mich auf die Spur brachte. Für jedes wahrscheinliche Opfer eines Anschlags mit Perverdrin wühlte ich die Datenbanken durch, bis ich ihre Lebensläufe besser kannte als sie selbst und bei der Akte von Bernard Müller wurde ich schließlich fündig. Sie war digitalisiert worden und erzählte für jemanden wie mich eine faszinierende Geschichte über Geheimdienstarbeit aus der Steinzeit. Akribisch hatte er alles notiert, was er über die Leute, die er geführt hatte, gewusst hatte; ihre Schwächen; ihre Stärken und manipulative Ansätze. Es war fast wie ein Lehrbuch für mich und mitten darin fand ich ein Foto. Es war neunzehnhundertneunundsechzig in einem Garten in Schwerin aufgenommen worden und zeigte zwei lachende Männer und ein Kind auf dem Schoß eines der beiden. Das Kind war Christian Oldenburg, der Mann neben ihm sein Vater Sven und der Mann, auf dessen Schoß Christian saß, hieß Werner Bredenbach. Bei diesem Namen klingelte etwas in meinem Kopf. Ich erinnerte mich, dass Bozen ihn genannt hatte, als er über Wengers Akte gesprochen hatte und siehe da – ich hatte einen Volltreffer gelandet.

Der Rest war, nachdem ich einmal den Einstieg gefunden hatte, dann fast nur noch Fleißarbeit. Ich holte einfach meine zehn Jahre alte Namensliste hervor, ließ mit meinen neuen Erkenntnissen die Computer arbeiten, bis die Prozessoren glühten und fand zwei weitere Bausteine. Ein Tag vor dem Doppelmord in Schwerin war Ruud Ängström mit einem Privatjet in Hamburg gelandet und am Abend des Mordes wieder abgeflogen, zusammen mit zwei weiteren Passagieren, Ryland Mikkelsen und Olaf Wielander. Von Hamburg bis Schwerin war es mit dem Auto nicht einmal eine Stune ...

Das ganze Bild entrollte sich vor mir und ich war fast schon enttäuscht, wie einfach doch alles zusammenhing. Vor allem aber, dass Wenger mir das eigentlich alles erzählt hatte, ich hätte nur besser zuhören sollen.

Die Vermutung lag nahe, dass alles mit der Frau begonnen hatte, die in Schwerin gestorben war. Offenbar hatte sie zu viel über Ängström gewusst, er war ihretwegen nach Schwerin gekommen, hatte Christian Oldenburg unter Perverdrin gesetzt und ihm einen Mordauftrag erteilt. Oldenburg hatte aber entgegen aller Erfahrung das Zeug überlebt, Müller war dazu gekommen und ihn hatte Oldenburg auch noch umgebracht, aber nicht, bevor er von ihm erfahren hatte, wie er verschwinden konnte. Müller hatte einen Mann – eben jenen Werner Bredenbach, einen alten Freund der Familie Oldenburg – in der Fremdenlegion platziert, Oldenburg war zu ihm geflohen, irgendwann hatte er ihn ersetzt, vielleicht sogar umgebracht, eine Gesichtsoperation machen lassen und hatte sich dann zusammen mit Vallon und Duchamp darum gekümmert, dass Ängström, wie Wenger gesagt hatte, nicht gierig wurde. Offenbar war Ängström es aber doch geworden, denn sonst wäre Wenger/Oldenburg nicht in Rakka aufgetaucht und hätte dessen Fabrik zerstört.

Fünf Monate brauchte ich, um das herauszufinden und einen, um mir einen Plan zurechtzulegen. Ich hatte es satt, dass Bozen mich herumschubste, wie es ihm gefiel, Wenger wie ein Schatten an mir klebte, weil er offenbar bei Gladio immer noch einen Informanten hatte und Ängström glaubte, sich mit seinen Milliarden alles erlauben zu können. Wenn ich sie alle drei aufeinanderhetzen konnte, war ich sie auf einen Schlag los.

Soweit die Theorie und in der waren für mich weder Ängström noch Bozen das Problem. Der Dritte war der wirkliche Gegner, denn diesmal wusste ich, mit wem ich mich anlegte: Einem Monster, das unter Menschen nichts mehr zu suchen hatte und das seit zwanzig Jahren hätte tot sein müssen.

Es war Zeit für ein Gespräch mit Bozen. Manchmal muss man dem natürlichen Gang der Dinge etwas nachhelfen.

wird fortgesetzt ...
Anmelden und mitreden
Du willst mitdiskutieren?
Werde kostenlos Mitglied, um mit anderen über heiße Themen zu diskutieren oder deine eigene Frage zu stellen.