Höllenhund Fortsetzung
Man gab Borg ein halbes Jahr für die Einarbeitung und in dieser Zeit machte er offiziell nichts anderes, als das, was Duchamp und Vallon ihm auftrugen. Doch er beobachtete beide genau und wusste, dass auch sie es taten. Er machte seine Arbeit, trainierte weiter Karate und ließ sich an Waffen ausbilden. Vallon hatte zwar die Brauen hochgezogen, als er davon erfuhr, doch das war Borg egal gewesen.
Schon bald merkte er, dass er den Leuten in seinem Team und auch Vallon mit seinen Fähigkeiten voraus war und als seine Probezeit um war, begann er an seinem Projekt weiter zu arbeiten. Sein Arbeitsplatz war ein Hochsicherheitsrechenzentrum mehr als fünfzig Meter unterhalb der Straßen der belgischen Landeshauptstadt, von dem er vorher nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte. Er arbeitete am liebsten nachts und allein, wenn ihm niemand auf die Finger schaute; schaltete dann alle Lichter aus, saß im Dämmerlicht der Monitore und ließ seinen Gedanken und Programmen freien Lauf. Die besten und leistungsfähigsten Computer standen ihm zur Verfügung, schnelle Breitband-Netzwerkverbindungen rund um die Welt und Zugriff auf jeden elektronischen Datensatz. Ganz gleich, ob bei einer Regierungsbehörde, bei einer Bank oder in einem Krankenhaus - waren Daten irgendwo in der Welt gespeichert, konnte er sich Zugriff darauf verschaffen, vorausgesetzt, er brach die Verschlüsselung.
Vallon kontrollierte ihn nicht mehr so deutlich wie im letzten halben Jahr, offiziell gar nicht mehr, aber Borg hatte seine eigenen Routinen entwickelt und die sagten ihm, dass jemand in unregelmäßigen Abständen seine Arbeit in den Datennetzen nachverfolgte und er war sich sicher, dass das nur Vallon sein konnte. Deshalb kam Borg nicht wirklich weiter und es brauchte einen Zufall, ihm freie Hand zu verschaffen. Dieser Zufall war ein simpler Wartungsfehler eines Flugzeugmechanikers. Die Gulfstream, mit der Duchamp und Vallon zu einem Treffen mit Leuten von der CIA fliegen wollten, fing unmittelbar nach dem Abheben Feuer, stürzte ab und niemand überlebte. Sowohl Gladio als auch Borg bekamen einen neuen Chef und beide wussten nichts von dem, was Borg antrieb und Duchamp totgeschwiegen hatte.
Borg nutzte seine neuen Freiheiten, um herauszufinden, ob Vallon oder Duchamp etwas hinterlassen hatten, was ihn weiterbrachte, doch so sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht weiter. Immer, wenn er glaubte, eine Spur gefunden zu haben, erwies sie sich als Sackgasse. Er fand nicht den kleinsten Beweis dafür, dass Vallon an etwas anderem gearbeitet hatte, als auf seiner offiziellen Auftragsliste stand.
Es war ein Mittwoch, an dem sich alles änderte. An diesem Tag in der Woche trainierte Borg für gewöhnlich. Er war zu spät dran, um noch den ganzen Sparringskampf von Mike Trellson, einem ehemaligen Schwergewichtsweltmeister im Freefight, zu sehen.
Als Borg in die Halle kam, sah er gerade noch, wie Trellson zu Boden ging und wie lange es dauerte, bis der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf die Füße kämpfte. Der breitschultrige Mann mit den silbergrauen Haaren, der ihm das angetan hatte, drückte für ihn die Seile auseinander und half ihm nach unten. Dann verließ er ebenfalls den Ring, doch statt duschen zu gehen, blieb er und beobachtete wie einige andere das nachfolgende Training von Borg und dessen Gegner. Erst, als der Gong zur letzten Runde ertönte, verschwand er.
Wie nach jedem Training ging Borg noch in das kleine Bistro gegenüber der Trainingshalle. Es war gut besucht und er musste sich einen Moment gedulden, bis er einen Platz fand. Er hätte auch am Tresen sitzen können, doch dann hätte er den Gastraum im Rücken gehabt - eher wäre er gestorben. Er bestellte Kaffe, eine große Salamipizza und einen Fruchtsaft. Der Kaffee kam zuerst, mit einem verschmitzten Lächeln stellte das Mädchen das Gedeck vor ihn hin und sie war es wert, dass er zurücklächelte. Mit einem Hüftschwung, für den sie noch nicht alt genug war, ließ sie ihr kariertes Röckchen um ein Paar herrlich lange Beine schwingen, und ging davon. Er zog das Gedeck näher zu sich heran, dann wurde er steif. Auf der Untertasse lagen vier Stück Würfelzucker.
Ein Schatten fiel auf die Tischplatte. „Ragnar Borg, der Mann, der seinen Vornamen nicht leiden kann. Computergenie, herausragender Analytiker und Planer. Dritter Dan, nicht zu unterschätzen, wenns ans Prügeln geht.“
Es war der Mann, der Trellson besiegt hatte und obwohl er leise sprach, dröhnte seine Stimme.
Borg erwiderte: „Warum machen Sie nicht gleich einen Aushang über dem Toilettenbecken?“
„Im Becken, Borg, im Becken. Dass man direkt darauf pissen kann. Da kommt dann auch noch drauf: Offiziell Interpol; tatsächlich Gladio, nicht existierender Geheimdienst der EU. Wir sollten bei Gelegenheit mal ein Sparring machen.“
Borg wickelte das Besteck aus der Serviette. „Wer sagt das?“
„Hab ich meine Vorstellung vergessen?“
„Ich denke nicht.“
Ein Muskel zuckte im Gesicht seines Gegenübers. „Nennen Sie mich Ahab.“
„Sie lesen zu viel amerikanische Schundromane. Es heißt: ‚Nennen Sie mich Ismael‘ und ich bin nicht Ihr Moby Dick.“
„Natürlich nicht. Sie suchen ihn.“
Sehr bedächtig legte Borg das Messer neben den Teller. „Meine Freundin wird nicht begeistert sein, dass Sie auf ihrem Platz sitzen.“
Der Mann, der Ahab genannt werden wollte, öffnete den Reißverschluss seiner Jacke. „Netter Versuch, aber so leicht werden Sie mich nicht los. Sie haben keine. Sollten Sie aber. Sich mehr um die Liebe kümmern. Alles machen Menschen deswegen oder weil sie fehlt. Sie lieben oder hassen und nichts dazwischen. Sogar Mörder lieben. Öfter hassen sie allerdings. Meistens sich selbst. Was davon treibt Sie an, Borg?“
„Und Sie?“
Ahab zuckte die Schultern. „Einsichten. Nach einem kleinen Spaziergang. So ungefähr sechstausend Meilen zu Fuß. Nachts; keine Verkehrsmittel; Menschen meiden; Wäsche und Essen stehlen; rohes Fleisch essen und frieren, wenn beides nicht möglich war. Quer durch Europa, Asien bis Tunis. War der Rat eines alten Freundes der Familie, bevor ich ihn umbrachte. Ich hätte Talent, meinte er, bräuchte nur eine Luftveränderung. War ein langer Weg, viel Zeit zum Nachdenken. ‚Reisen bildet‘ bekommt da eine ganz neue Bedeutung.“
„Das ist keine Antwort.“
„Ganz sicher. Sie verstehen sie nur noch nicht.“
Das Mädchen brachte die Pizza und Borg lehnte sich zurück. Er hatte nicht die Absicht, zu essen, so lange Ahab ihm auf den Teller starren konnte. Scheinbar entspannt saß der da, ein breitschultriger Felsen in der Brandung der sich im Bistro Drängenden und erzählte von einem Mord, als wäre es nicht sein Letzter gewesen. Der straffen Gesichtshaut nach wirkte er auf Borg nicht älter als vierzig, aber sein kurzgeschnittenes Haare schimmerte im Licht der hereinfallenden Nachmittagssonne metallisch silbern wie das eines alten Mannes.
Borg legte sein Mobiltelefon auf den Tisch und entsperrte es. „Ich will in Ruhe meine Pizza essen.“
Betont deutlich legte er seine Hand neben das Gerät. Noch ein Tastendruck, und in spätestens zehn Minuten wäre das Noteinsatzteam da und hier die Hölle los.
In den sanften braunen Augen Ahabs irrlichterten Funken. „Zucken Sie auch nur mit dem kleinen Finger, werden Menschen sterben. Sie werden nie einem Gefährlicheren als mir begegnen.“
Es war die Vernunft, die Borg das Telefon zur Seite schieben ließ. Es waren zu viele Menschen im Bistro und dass, was Borg in den Augen Ahabs sah, machte ihn vorsichtig.
Ahab nickte. „Besser so.“
Er beugte sich vor. Leise genug, dass niemand außer Borg es hören konnte, sagte er: „Lesen Sie mal Freud, Dalberg-Acton und Marx. Die haben mehr über das vergessen, was Menschen antreibt, als Ihre Rechenknechte je wissen werden. Damit programmieren Sie die, dann kriegen Sie auch die richtigen Antworten. Müssen sie nur noch verstehen wollen. Also - außergewöhnlicher Ehrgeiz, gnadenlose Rücksichtslosigkeit, unbändige Machtgier und ein Newcomer ohne Stammbaum - das ist Ihr Mann. Oder auch Frau. In der Championsleague der Bösen ist es egal, ob man Eierstöcke oder einen Schwanz hat. Da zählt nur ein kaltes Herz, ein möglichst menschenfreundliches Lächeln und die Fähigkeit zur frechsten Lüge. Und bevor sie ihre Datenfelder umgraben, sollten Sie genau darüber nachdenken, dass er nicht der Einzige sein könnte. Darüber, dass jeder mit genügend Geld und Macht das in die Hände bekommen will, wonach Sie suchen.“
Borg lehnte sich zurück. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen. Wenn Sie so viel über mich wissen, dann sollten Sie auch wissen, dass ich Daten analysiere, nichts weiter. Ich bekomme Aufträge.“
Ahab kniff die Augen halb zusammen. „Und der Mond ist aus grünem Käse. Augen auf im Straßenverkehr, Borg, sonst werden Sie mal ganz schnell überfahren, kein Vertun. Warum hat jeder Computerchip ab Werk drei Betriebssysteme, von denen nur eins offiziell existiert? Warum können Sie auf alle Datenbanken der Welt ohne Probleme zugreifen? Woher stammen die netten Progrämmchen, die Ihnen das ermöglichen? Vor allem aber - warum gibt es sie überhaupt? Wer hat so viel Macht, so etwas durchzusetzen, weltweit? Ein paar hundert Familien regieren die Welt, reich, mächtig, alle anderen sind nur Figuren in ihrer Buddelkiste. Vietnam, Afghanistan, Irak; die kleine Völkerwanderung Richtung Europa, die gerade in Planung ist - hey, Hauptsache, ihr habt Spaß und egal, wie viel Millionen dabei draufgehen, die wachsen sowieso nach wie Unkraut. Nur sie selbst sind tabu; tun sich nichts, die Geldsäcke, außer sich gegenseitig ihre Sandburgen kaputtzumachen. Nur wenn einer aus der Reihe tanzt, gibt es Kloppe. Ist ein elitärer Club und die Plätze auf der VIP-Tribüne sind längst vergeben. Nur hat einer das nicht kapiert; will aus der Buddelkiste raus; pfeift auf ihr Geld, Leibwächter, Armeen, Regierungen; plättet sie, einen nach dem anderen, scheißt sie so richtig vor den Koffer, um auf die VIP-Tribüne zu kommen. Macht fast Spaß, ihm dabei zuzusehen. Was ich tue, damit er nicht zu gierig wird. Machen Sie sich gefälligst Gedanken darüber, wie Ihr weiteres Leben aussieht, wenn Sie einmal von Ihrem Lieblingsabsinth zu viel trinken und dann die Klappe nicht halten können. Sie würden es nicht einmal merken, wie Sie sterben. Sie würden einfach nur aufhören, zu atmen. Also lassen Sie die Finger davon!“
Ruhig fragte Borg: „War das eine Drohung?“
Wenger stand auf. Er tat es, ohne sich mit den Händen am Tisch abzustützen, einfach so, aus den Oberschenkeln, ohne die Tischplatte zu berühren und es sah vollkommen natürlich aus. Er musste ein unglaubliche Muskulatur besitzen. „Hallo, Erde an das Gehirn von Borg: Ist da jemand zu Hause? Das ist kein Videospiel, Borg, auch wenn es sich für Sie Computerfreak so anfühlt. Das ist das Leben und das geht da unten in der Buddelkiste so!“
Blitzschnell griff er nach dem Pizzamesser neben dem Teller, ließ er es zweimal auf der Handfläche um die Achse wirbeln, dann schleuderte er es. Es gab einen krachenden Schlag, alle im Bistro ruckten den Kopf, und Ahab schlängelte sich durch die Menschenmenge hindurch wie Wasser durch die Felsen in einem Bachlauf. Niemand schien ihn zu beachten, weil alle zur Toilettentür sahen. Sie war ungefähr sieben Meter von Borg entfernt, am Ende eines schmalen und schummerigen Ganges. Auf Augenhöhe war ein handtellergroßes, stilisiertes Männeken Pis aus weißer Pappe aufgeklebt. Das Pizzamesser steckte genau in seinem Kopf.
Am nächsten Morgen warteten zwei Männer der inneren Sicherheit am Eingang auf ihn und begleiteten ihn zu Martin Bozen, dem neuen Chef von Gladio. Im Vorzimmer nahmen sie Borg sein Handy ab, prüften ihn mit einem Detektor, dann sagte der Kleinere der beiden: „Gehen Sie rein. Wir warten hier.“
Mit vor dem Körper gefalteten Händen erwartete Bozen Borg hinter einem bis auf ein Telefon und eine braune Akte leeren Schreibtisch, der aus nichts weiter als einer Glasplatte und vier Stahlrohrbeinen bestand. An der kahlen Wand hing ein Bild der englischen Queen und in der Ecke die Fahne der Europäischen Union. Jeder Schmuck und jedes bisschen Persönlichkeit waren aus dem ehemaligen Zimmer Duchamps verschwunden.
Bozen trug einen perfekt sitzenden, dunklen Dreiteiler mit kaum sichtbaren Nadelstreifen. Alles an ihm war schlank, der sehnige Körper, die Hände, die Nase und auch die Lippen waren nichts weiter als ein dünner Strich. Minutenlang musterte er Borg, ohne ihm einen Platz anzubieten, dann sagte er mit näselnder Stimme: „Erzählen sie mir von William Burke.“
„Ich kenne keinen William Burke, Sir.“
Bozen zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wie? Einer meiner Top-Analysten, der in seiner Freizeit ungeklärte Morde analysiert, Nahkampf trainiert und sich an allen möglichen Waffen ausbilden lässt, weil er unbedingt in den Außendienst will? Der insgeheim, hinter dem Rücken seiner verblichenen Vorgesetzten sämtliche Datenbanken nach etwas durchsucht, was mit einer bestimmten Art von ungeklärten Todesfällen reicher Leute zu tun hat, dass es sogar bei der NSA auffällt? Und dann wissen Sie nichts über William Burke? Ja, was wollen Sie dann hier?“
Borg kniff die Lippen zusammen. Er hatte den Namen noch nie gehört.
„Antworten Sie!“, schnarrte Bozen und Borg erwiderte: „Klären Sie mich bitte auf, Sir.“
Bozen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich dulde hier keine Fachidioten. Die Welt ist komplex und wenn sie unter mir Karriere machen wollen, bilden Sie sich gefälligst weiter. William Burke war ein Serienmörder in Edinburgh Anfang des 19. Jahrhunderts, der seinen Opfern Augen, Mund und Nase zu hielt, während er rittlings auf ihrem Brustkorb saß. Der Tod trat durch Asphyxie ein und für jeden Gerichtsmediziner sah es aus, als hätten die Opfer einfach nur aufgehört, zu atmen. Burke war ein Mann von großer Kraft und Geschicklichkeit und ich muss mich fragen, warum Sie es nicht für notwendig erachten, mich umgehend darüber zu informieren, wenn Sie zweihundert Jahre später einem solchen Mann gegenübersitzen. Sie besitzen sogar noch die Kaltschnäuzigkeit, sich eine neue Pizza zu bestellen, nachdem er gegangen ist!“
„Sie lassen mich überwachen? Warum?“
„Weil ich ein gebildeter Mann bin. Weil ich Zusammenhänge sehe, wo Sie nur Bytes sehen. Genau deshalb sitze ich auf diesem Stuhl hier, wohingegen Sie stehen und sich auch nicht setzen werden, bis ich es sage und das ist jetzt!“
Mit eckigen Bewegungen griff Borg nach der Lehne eines der beiden Stühle vor Bozens Schreibtisch und setzte sich.
Bozen legte eine Hand mit manikürten Nägeln auf den Aktenordner vor sich. „Vor allem muss ich mich das fragen bei Berücksichtigung dessen, was in dieser Akte aus Duchamps Safe steht, die nur aus handgeschriebenen Einträgen und drei Fotos besteht. Sie erzählt eine Geschichte und wenn sie mir die korrekten Schlussfolgerungen daraus nennen, vernichte ich sie vor Ihren Augen. Wenn nicht, wandern Sie für lange Zeit ins Gefängnis, weil man annehmen muss, dass Sie Duchamp und Vallon nicht nur gedeckt haben, sondern aktiver Mittäter waren und deren Werk fortsetzen. Sagen Sie kein Wort!“
Bozen hob die Hand. „Ich rede, und Sie hören zu. Neunzehnhunderteinundachtzig springt ein Mann im Hafen von Tunis in der Nacht von einem Frachter der DDR ins Meer und schwimmt an Land. Dreizehn Jahre später besitzt er die französische Staatsbürgerschaft, nennt sich Arjen Wenger und ist Capitan in einer Einheit der Fremdenlegion, die zu dem Verband gehört, die ein gewisser Oberst Duchamp befehligt. Bei einer Feier in einer Kaschemme in Tunis kommt es zu einer Prügelei, bei der elf Elitesoldaten der Fremdenlegion von einem einzigen Mann jämmerlich verdroschen werden. Man fasst ihn kurze Zeit darauf und stellt ihn vor die Wahl, Fremdenlegion oder Straflager. Er entscheidet sich für Ersteres und pulverisiert unter dem Namen Svensson in den folgenden zwei Jahren jeden Ausbildungsbestwert. Wenger holt ihn zu sich in seine Einheit und kurz darauf passieren zwei Dinge fast gleichzeitig: Duchamp wird zum General befördert, zusammen mit seinem Kommunikationsoffizier Maurice Vallon hierher versetzt und Wenger und seine Einheit kehren von einem Einsatz nicht mehr zurück. Doch drei Jahre später taucht ein Captain Arjen Wenger gesund und munter aus der Versenkung wieder auf und Duchamp persönlich stellt ihm eine Clearance Q aus, eine Generalzutrittsberechtigung, die nicht nur für Gladio gilt, sondern für so ziemlich jeden Hochsicherheitsbereich der westlichen Welt und niemand bekommt mit, dass dieser Mann nicht Wenger ist, sondern Svensson. Hier sind Fotos aus Wengers und Wengers Disziplinarakten und hier ist das Foto von der Qlearance Q.“
Mit spitzen Fingern klappte Bozen die Akte auf und schob Borg drei Fotos über den Tisch. Auf dem Letzten blickte er Ahab ins Gesicht. Hätte Borg nicht schon geahnt, was er sehen würde, hätte er aufgestöhnt.
Bozen fuhr fort: „In dieser Akte stehen neun Namen. Es sind die Namen von neun Toten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Burking gestorben sind. Ich möchte gern glauben, dass Duchamp sie erst nach ihrem Tod hineingeschrieben hat, aber der Glaube hat mich nicht auf diesen Stuhl gebracht, sondern der Unglaube. Schon allein deshalb, weil in den letzten Jahren rund zwanzig weitere Attentate begangen worden sind, die nur jemand ausführen konnte, der sowohl über explizites Insiderwissen als auch außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt. Die Amerikaner nennen ihn den ‚Salamander‘, weil er immer da auftaucht, wo es so heiß ist, dass sich niemand anders da hin trauen würde. Mitten im Gebiet des Islamischen Staates, in hochbewachten Burgen von afrikanischen Warlords und in Drogenanbaugebieten Asiens und Afghanistans. Man sagt ihm sogar nach, letztes Jahr einen Forschungskomplex in der Antarktis gesprengt zu haben. Sie haben diesem Mann gegenübergesessen, als wären Sie alte Freunde. Ich bin jetzt Ihr Gericht und der Ankläger, vielleicht aber auch ihr Verteidiger. Das kommt darauf an, was sie mir zu sagen haben. Die Fotos bitte.“
Borg schob die Bilder wieder zu Bozen hinüber und überlegte genau, was er sagen konnte. Die Drohung nahm er nicht sonderlich ernst. Viel interessanter war für ihn, das Bozen von sich statt von dem Geheimdienst gesprochen hatte, dem er vorstand und darauf baute Borg seine Strategie auf.
Er sagte: „Wenger hat mit Insiderwissen geprahlt, schien alles über Duchamp und Vallon und unsere Interna zu wissen. Für mich sah es danach aus, dass er mich als Informanten gewinnen wollte. Vielleicht ...“ Er machte eine genau berechnete Pause, Bozens Augenbrauen gingen in die Höhe und Borg fuhr fort: „Vielleicht will er sich sein Netzwerk trotz des Todes von Duchamp erhalten. Solche Leute leben von ihren Beziehungen; davon, dass sie genau wissen, wann was passiert und davon, dass sie Aufträge bekommen und jemand sie bezahlt. Solche Leute könne nicht einfach aufhören, sie wissen gar nicht, was ein normales Leben ist. Wir könnten natürlich versuchen, ihn auszuschalten, Sir, aber ich halte das nicht für die beste Option.“
„An was denken Sie?“ Aus Bozens Gesicht konnte Borg nichts ablesen und so wusste er nicht, ob der es ihm durchgehen ließ, dass er auf die Mordserie nicht einging. Er riskierte es. „Mit Wenger hat sich Duchamp offenbar seinen eigenen Höllenhund geschaffen, eine Faust, die überall da zuschlägt, wo offizielle Einsätze nie genehmigt worden wären. Wir wissen nicht, was er gegen ihn in der Hand hatte, aber wir wissen, dass Wenger etwas will. Wenn wir so tun, als würden wir es ihm geben, können wir ihn vielleicht lange genug für einen Zugriff hinhalten.“
Bozen überlegte. „Sie gehen also davon aus, dass er Sie noch einmal kontaktieren wird und sie gehen gleichfalls davon aus, dass Sie dieses Treffen lange genug überleben, dass Sie die Kavallerie alarmieren können. Bei dem Mann? Ist das nur Selbstüberschätzung oder schon Größenwahn?“
Bozen griff nach der Akte und ließ sie wieder im Panzerschrank verschwinden. Ohne Kommentar oder Entschuldigung. Dann sagte er: „Ich habe mir Ihre Ausbildungsergebnisse angesehen. Sie haben zwar keine Erfahrung im Außendienst, aber Sie scheinen ein Naturtalent zu sein. Es wird Tag und Nacht ein Einsatzkommando auf ihr Signal warten. Sie gehen keinen Schritt mehr, ohne dass wir ihn kennen und ohne Waffe. Sie wird mit dem stärksten Betäubungsmittel bestückt, das wir haben. Ich muss nicht betonen, dass Sie gegenüber jedermann außer mir Stillschweigen zu wahren haben, denke ich. Auch nicht gegenüber dem Spezialeinsatzkommando. Für die lasse ich einen internationalen Haftbefehl ausstellen, ohne Foto, aber mit Personenbeschreibung. Ich will den Druck auf Wenger ein wenig erhöhen.“
„Sir.“ Borg stand auf. Er nahm an, dass damit die Besprechung beendet war und wollte gehen, doch Bozen hatte noch eine Nachbemerkung. „Ich mache immer einen Schritt nach dem anderen. So werden Sie auch ab sofort arbeiten. Fassen Sie Wenger und dann unterhalten wir uns über neun ungeklärte Morde und ein Telefongespräch zwischen Ihnen und Vallon, dass offenbar der Grund Ihres Hierseins ist. Sie können gehen.“
„Ja, Sir.“ Borg achtete darauf, dass seine Miene nichts anderes ausdrückte als Freude darüber, endlich in den Außendienst zu können. Doch er hatte begriffen, dass er Bozen keine Sekunde unterschätzen durfte.
Wieder stellte Borg alle Aktivitäten neben seiner offiziellen Arbeit ein. Er wollte nicht riskieren, dass sein neuer Chef Grund bekam, an ihm zu zweifeln. Borg erhöhte seine Trainingsintensität, besuchte drei bis vier Mal in der Woche die Trainingshalle, nahm an Schießübungen teil und fühlte sich vollkommen ausgelaugt, wenn er irgendwann nach Hause kam. Doch Wenger ließ sich nicht blicken und Borg gab langsam die Hoffnung auf. Bozen bestand auf den festgelegten Sicherheitsmaßnahmen und so gab Borg ein viertel Jahr lang den Lockvogel, bis Wenger sich wieder blicken ließ.
Es war wieder ein Mittwoch nach dem Training und schon vom Eingang aus sah er Wenger am gleichen Tisch sitzen, an dem er ihm vor vier Wochen begegnet war. Allerdings hatte Wenger sich diesmal auf Borgs Platz gesetzt, so dass er die Wand im Rücken und den Gastraum im Blick hatte. Borg überlegte einen Moment, ob er jetzt bereits das Team alarmieren sollte, doch er sah, dass Wenger ihn im Blick hatte und ließ es. Wenger sagte kein Wort, nicht einmal ein „Guten Tag“ kam ihm über die Lippen. Sein Blick ruhte kurz auf Borg, als der sich setzte, dann schweifte er durch den Gastraum und zum Fenster. Die Bedienung kam, Borg bestellte nur einen Kaffee und Wenger sagte noch immer keinen Ton. Aber jetzt hielt er seine Augen starr auf Borgs Gesicht gerichtet und eine Frage stand in ihnen. Borg hatte auch eine und er stellte sie: „Wer sind Sie?“
„Ein hochfunktionaler Soziopath. Originalton Duchamp. Aber das werden Sie wissen, wenn ihnen Bozen meine Akte vorgelesen hat.“
Borg schnappte nach Luft und etwas wie ein Grinsen huschte über Wengers Gesicht, so schnell, dass Borg es kaum mitbekam. „Sie hatten nicht genug Daten, um mich zu finden, aber genug, um zu glauben, dass der mir die Information geliefert hat, an was sie gerade arbeiten. Ihr nächster logischer Schritt konnte nur gewesen sein, in ihren Netzen nach mir zu suchen, falls Sie nicht lieber ein paar Milliarden Bilder durchsuchen wollten. Was Ihnen auch nichts genutzt hätte, wenn ich eine Gesichtsoperation hätte machen lassen. Sie wirkten nicht überrascht, mich hier zu sehen, also hat Bozen die Akte gefunden und Sie eingeweiht. Sie sind logisch und effektiv, genau wie Bozen. Damit berechenbar, wenn auch auf hohem Niveau. Vermutlich sind Sie sogar verwanzt, weil Bozen oder Sie neugierig auf ein paar Antworten sind. Kann ich verstehen, auch wenn ich bezweifle, dass Sie sie verstehen werden. Sie haben ja nicht einmal meine Letzten verstanden. Jetzt fangen Sie hier bitte vor lauter Enttäuschung keine Schießerei an. Das bedeutet ‚hochfunktional‘. Den Soziopath erleben Sie, wenn sie auch heute Abend meine Antworten nicht verstehen.“
Der Kaffee kam, aber diesmal lag nur ein Stück Zucker auf dem Rand der Untertasse. Wengers Augen waren ständig in Bewegung und scannten das Bistro und die Straße davor.
Er fragte: „Was wissen Sie?“
Borg beschloss, ihm ein paar Brotkrümel hinzuwerfen. „Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen darf. Wenn ich es tue, dann, weil ich Ihre Antworten schon richtig verstanden habe. Die Opfer haben professionelle Leibwächter ausgeschaltet, mit roher Körperkraft; sogar Genickbrüche waren dabei. Das ist für einen normalen Menschen so gut wie unmöglich, dazu ist die Halsmuskulatur viel zu stark. Entsprechendes Training und das Überraschungsmoment gehören dazu und nichts davon haben sie besessen. Dann sind ihre Gefäße geplatzt, Blut rinnt aus ihren Augen und sie zertrümmern in einem Tobsuchtsanfall mit bloßen Händen alles, was sie erreichen können, bevor ihr Herz aufgibt, und verrecken dann wie tollwütige Hunde. Es ist eine fürchterliche Waffe und sie hinterlässt keine Spuren im Körper.“
Wenger schüttelte den Kopf. „Keine Waffe. Ein Medikament für die Menschen des nächsten Jahrtausends. Beschleunigte Signalverarbeitungsgeschwindigkeit; Selbstheilungsfähigkeit; signifikant erhöhte Kraft/Ausdauer und Zugriff auf jeden Sinneseindruck, den sie jemals im Leben aufgenommen haben. Sie konnten sich an den exakten Geschmack ihrer Muttermilch erinnern; an jeden, dem sie einmal begegnet sind; jedes Wort, das sie gehört oder gesprochen haben; jedes Bild, das sie gesehen haben. Zwei Stunden waren sie Götter mit einem Befehlsempfänger im Ohr, bis die Neuronen in ihren Gehirnen aus allen Rohren gefeuert haben und alle Hormondrüsen gleichzeitig ihren Inhalt in die Blutbahn geschüttet haben. Alles, was sie je in ihrem Leben gefühlt haben, ist in diesem einen Moment auf einmal über sie hereingebrochen wie eine Dreißigmeterwelle über einen Surfer. Kein menschliches Gehirn hält das aus und sollte es doch mal passieren, wäre er danach ein gefühlloses Monster.“
Wenger sah aus dem Fenster. Die weiße Narbe an seinem Mundwinkel bewegte sich wie eine winzige Schlange und gab seinem Gesichtsausdruck etwas Bitteres. „So hat mir das Vallon erklärt. Er war besser als Sie. Er und Duchamp wussten, warum sie alles unter Verschluss hielten.“
Vallon war nicht besser gewesen, das wusste Borg genau. Er packte diese Informationen zu den schon vorhandenen Puzzlesteinen in seinem Kopf.
Wenger sah Borg wieder an. „Das heißt, Sie tappen noch im Dunkeln? Belassen Sie es dabei.“
„Selbst wenn nicht, würde ich es kaum Ihnen sagen. Alle Opfer waren stinkreich, große Tiere und Ihr Dalberg-Acton sagt zu solchen Leuten: ‚great men are almost always bad men‘. Es gibt Tausende, denen sie auf die Füße getreten sind und Hunderte, die auch die Möglichkeiten für den technischen Background haben, wie Labors und Wissenschaftler. Regierungen; Geheimdienste; große Konzerne; reiche Weltverbesserer – jeder kommt dafür infrage.“
„Nein, die Politiker und Geheimdienste sind nur Erfüllungsgehilfen und Befehlsempfänger.“
„Hatte eines Ihrer Opfer noch Zeit, Ihnen Unterricht in Politologie zu geben?“
„Über Nacht erwachsen geworden, hm?“
„Früher werden müssen, als Sie ahnen. Deswegen kann ich mir auch vorstellen, was passieren würde, wenn man das Zeug in einem Fußballstadion freisetzt. Ich werde herausfinden, wer es entwickelt hat und wer es einsetzt. Das ist alles nur eine Frage der Zeit.“
„Ihr neuer Chef wird Ihnen einen Orden umhängen und Sie lieben wie einen Sohn. Vielleicht gibt er Ihnen auch einen dicken Schmatz. Wenn sein dicker Zinken im Gesicht dabei nicht im Wege ist. Sie sind ein hochintelligenter Dummkopf. Wie so viele Genies, die einen Raketenantrieb mit Papier und Bleistift konstruieren können, aber nicht wissen, dass zwischen Austria und Australia ein paar zehntausend Kilometer liegen. Ist ja auch Wurst, wo das Ding einschlägt, Hauptsache, es knallt ordentlich. Denken Sie, Borg. Denken Sie nach. Welchem Menschen können Sie eine Waffe in die Hand geben, die spurenlos tötet und nicht zu ihm zurückverfolgt werden kann? Ohne dass er der Versuchung erliegt, sie selbst zu benutzen?“
Mit wenigen Sätzen hatte Wenger das skizziert, was Borg antrieb. Aber Wenger hatte nicht auf Borg gezielt und deswegen schoss er schnell eine Salve ab, damit der das nicht weiter verfolgte: „Wir reden hier nicht über Philosophie, sondern Mord, ziemlich perversen und möglichen Massenmord. Sollte ich herausfinden, dass Sie etwas damit zu tun haben, ist es aus für Sie mit Philosophieren.“
Wenger reckte sich, ließ seine Gelenke knacken und seine sanften Augen glitzerten, als wären sie aus braunem Eis. „Ich freu mich drauf, Borg. Irgendwie habe ich mich in den letzten Jahren unter euch angeblichen Profis gefühlt wie Rambo unter Steinzeitmenschen, wobei ‚gefühlt‘ nicht ganz zutreffend ist. Sie könnten eine Abwechslung werden. Aber nehmen Sie den Mund nicht zu voll. Wie wäre es mit einem Gang in die Trainingshalle nebenan? Ich schüttel Sie ein bisschen durch. Würde mich interessieren, ob Ihr Karate auch etwas gegen brutale Gewalt taugt.“
War das die Gelegenheit? Borg kalkulierte blitzschnell im Kopf: Das Team würde zwölf bis fünfzehn Minuten brauchen, er und Wenger fünf bis zur Halle, zehn bis fünfzehn zum Umziehen und wer weiß, vielleicht ergab sich für ihn zwischendurch auch die Möglichkeit für einen Schuss. Wenn nicht, musste er nur ein paar Minuten im Ring durchstehen. Er hatte zwar noch immer Trellsons schmerzverzerrtes Gesicht vor Augen, aber Borg war sich sicher, dass er das irgendwie überstehen würde. Er durfte nur nicht zu schnell zustimmen, sonst könnte Wenger vielleicht noch misstrauisch werden.
„Es ist nach zehn“, sagte er. „Die Halle ist zu.“
Wenger lachte laut. „Sie werden doch nicht vor einem simplen Türschloss kapitulieren?“
„Ich habe meine Sachen nicht dabei.“
„Sie haben Angst.“
Das hatte Borg, aber nicht genug. Er stand auf. „Sie werden es bereuen“, und es war der erste ehrliche Satz, den er heute Abend sagte.
Wenger erhob sich. „Tja, das weiß man immer erst hinterher. Nach Ihnen, ich behalte Sie lieber im Auge. Man weiß ja nie.“
Borg ging voraus, suchte sich eine Gästetraube, drängelte sich hindurch und drückte dabei verstohlen zweimal auf das Glas seiner Armbanduhr.
wird fortgesetzt ...