Mehr brandheiße Inhalte
zur Gruppe
Dirtytalk & Kopfkino
444 Mitglieder
zum Thema
Betrugsversuch17
PROLOG „Chef – ich brauche Dich bitte mal im Laden – da will jemand…
zum Thema
Eine unheimlich geile Begegnung13
Das Café Es war schon Nachmittag, als ich in das Café am Marktplatz…
Das Thema ist für dich interessant? Jetzt JOYclub entdecken

Stasi

Stasi
Exakt eine Stunde später, auf die Minute genau, klopfte Winfried an die Tür von Oberstleutnant Witwer. Sie war nur angelehnt und auf das „Kommen Sie ruhig rein“, drückte er sie auf. Ein Mann in einem hellen Hemd saß an Witwers Schreibtisch und las ein Dokument. Vor ihm stand eine Tasse, die Untertasse daneben, eine zweite Tasse auf dem Platz gegenüber und in der Mitte des Tisches eine Thermoskanne. Ein graues Sakko hing halb heruntergerutscht von der Stuhllehne hinter ihm. Witwer hätte wahrscheinlich einen Wutanfall bekommen, hätte er das gesehen.

Winfried trat ein, lehnte die Tür nur so an, wie er sie vorgefunden hatte und sagte: „Guten Tag.“

„Ich bin gleich für Sie da, Genosse Gneidsen“, erwiderte der Mann und wies ohne den kahlen Kopf von seinen Papieren zu heben, mit der linken Hand auf den Platz am Tisch ihm gegenüber. „Machen Sie ruhig die Tür richtig zu und gießen Sie sich eine Tasse Kaffee ein. Ich bin Bernard Müller.“

Er schien Worte zu mögen, sprach leise, nicht allzu schnell, sehr deutlich und verschluckte keine Endungen. Ein Mann, der Wert darauf legte, dass man ihn verstand.

Winfried goss sich Kaffee ein, lauschte dem leisen Gluckern in diesem Raum, in dem heute Morgen noch die verbalen Fetzen geflogen waren und dachte: Wenn Witwer hereinkommt, wird sich das mit der Stille sehr schnell erledigt haben. Unwillkürlich drehte er den Kopf in Richtung Tür.

„Er wird nicht kommen. Sie müssen mit mir vorliebnehmen.“

Der Mann schob die Papiere, in denen er bis eben gelesen hatte, zu Winfried herüber.
„Christian Oldenburg. Er wird ab morgen Ihr Patient sein. Faszinierende Lektüre. Wenn man vergessen kann, dass es um einen Menschen geht. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen. Aber vorher sollte ich wohl noch etwas erklären.“

Mir zu sagen, was er macht, wäre eine gute Idee, dachte Winfried. Oder mir einfach nur die Hand geben. Die Leute tun so etwas, es schafft Vertrauen, zwischenmenschliche Wärme und manchmal mehr, als es ein freundliches Gesicht wie seines konnte, auch wenn ihm das Lächeln durchaus stand. Es wirkte nur ein kleines bischen ... professionell? Oder war es ein „ich weiß etwas, was du nicht weißt?“

Doch er wollte nicht päpstlicher sein als der Papst – er wusste, dass er hätte jetzt auch dem Steinbeißer Witwer gegenübersitzen können. Nein, bei dem hätte er gestanden ...

„Wie geht es Ihrer Familie?“ Unschuldig schaute Müller ihn aus stahlgrauen Augen an.

„Gut, denke ich. Meine Eltern würden es mir kaum sagen, wenn es Ihnen schlecht ginge.“

Freundlich wippte Müller mit dem Kopf auf und nieder. „Natürlich. So sind sie, die Eltern. Kümmern sich immer um ihre Kinder. Ich dachte übrigens eher an ihre entferntere Verwandtschaft.“

„Ich habe keine.“

„Von der sie wissen ... wollen“, sagte er sehr ruhig.

Manchmal dauerte es ein wenig, bis bei Winfried der Groschen fiel. Diesmal begriff er mit Lichtgeschwindigkeit, dass Müller von dem verleugneten Cousin in Westberlin wusste und auch, dass damit seine Karriere wahrscheinlich erledigt war.

Müller kniff sein linkes Auge ein wenig zusammen und es sah aus, als zielte er über einen Gewehrlauf. „Ja, Sie denken richtig. Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will.“

Winfried verzog das Gesicht und Müller lachte kurz auf. „Bitte entschuldigen Sie, im Gegensatz zu Ihnen habe ich nie studiert. Mein ‚Faust‘ ist ein bisschen eingerostet.“

„Scheint mir eher ein generelles Verständnisproblem für Goethe zu sein. Mephisto wollte das Böse und hat doch Gutes bewirkt. Sie ...“ Winfried presste den Mund zusammen.

„... wollen Gutes und sind böse. In Ihren und den Augen der meisten Menschen in unserem Staat. Dann ist das eben so. Mich interessiert nicht, mit welchen Tricks Sie sich Ihr Studium erschlichen haben. Mich interessiert nur, dass Sie wissen, wo Sie stehen, und das tun Sie jetzt.“

Er nickte dazu und es animierte zum Mitmachen. Darum tat er es wahrscheinlich auch. Leute wie er hatten eine Ausbildung in so etwas, eine, die nicht Bestandteil einer Psychologievorlesung für Normalsterbliche war. Eine Kostprobe davon bekam Winfried gerade und so nickte er auch. Zwei freundliche Männer, die sich zunickten – einer davon ein emporgekommener Bauerntrampel, der den Knüppel der Macht in der Hand hatte und deshalb sagen konnte: Friss Vogel, oder stirb.

Was er dann auch tat, wenn auch ein bisschen freundlicher: „Seien Sie bitte so nett, und werfen Sie einen Blick in die Akte Ihres Patienten. Leider kann ich sie Ihnen nicht überlassen und was Sie darin lesen, werden Sie für sich behalten müssen. Sie werden es gleich verstehen.“

Es dauerte etwas, bis Winfried sich in dem Aktenordner zurechtfand. Es war keine Patientenakte, eher ein unvollständiger Lebenslauf, handschriftliche Einträge wechselten sich ab mit maschinengeschriebenen Blättern und nicht von Christian Oldenburg geschrieben, sondern von anderen über ihn.

Müller goss sich Kaffee ein, stand zwischendurch auf und ging im Raum hin und her, aber ließ Winfried keine Sekunde aus den Augen.

Mit jedem Wort, das Winfried las, fühlte er sich tiefer in einen Sumpf hineingezogen, von dem er niemals geglaubt hätte, dass er in seinem Land existierte und er verstand nicht, warum Müller ihm Einblick in diesen Aktenordner gewährte. Mit dem Wissen konnte Winfried sich in keine dunkle Straße mehr wagen und das wurde ihm klar, Seite, für Seite, die er umblätterte. Schließlich legte er die Papiere so vorsichtig auf den Tisch, als seien sie Nitroglycerin. Nur weil er sie gelesen hatte, fühlte er sich genau so schuldig wie diejenigen, die sie angelegt hatten und wenn das die Absicht der Leute hinter Müller gewesen war, hatte er den Plan übererfüllt.

Müller nahm wieder Platz. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, stieß die Fingerkuppen von linker und rechter Hand gegeneinander und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Mitgefühl. Wenn er es nur vorspielte, so war er ein Genie darin.

„So wie Sie jetzt habe ich auch gefühlt, als ich diese Akte das erste Mal in die Finger bekam“, begann er. „Wie sein Vater hatte auch der Junge unglaubliche Talente und es wurde geradezu fahrlässig damit umgegangen und ich kann wirklich verstehen, was Sie jetzt denken. Der Kalte Krieg ist vorbei und mit solchen Methoden muss Schluss sein. Genau deswegen bin ich hier. Denn es geht noch weiter und an der Stelle kommen Sie ins Spiel.“

Er ballte seine Hände zu Fäusten und legte sie vor sich auf den Tisch. „Vor zwei Wochen soll ein Trupp Kampfschwimmer eine vermeintliche Fliegerbombe vor Warnemünde untersuchen. Drei Männer, die drei Jahre lang durch eine härtere Ausbildung gegangen sind, als sie die Navy Seals haben, gehen ins Wasser. Erfahrene Männer und doch taucht nur einer wieder auf – Oldenburg. Blutend aus 23 Messerstichen, schafft es noch bis ins Boot und bricht zusammen. Die anderen beiden findet man viel später, beide sind durch genau einen Stich getötet worden, beim einen ins Herz und beim anderen in die Leber. Oldenburg schweigt und außer ein paar unidentifizierbaren Metallteilen wird am Grund der Ostsee nichts gefunden. Niemand weiß, was da unten geschehen ist. Offiziell. Inoffiziell ...“

Seine Knöchel waren rot angelaufen, so fest hatte er sie zusammengepresst und er lockerte seinen Griff auch nicht, als er weitersprach. „1944 startete ein Bomber mit einer besonderen Waffe an Bord. Er sollte Peenemünde auslöschen, um der V-Waffenproduktion Hitlers ein Ende zu bereiten. Noch während er in der Luft war, kam es in dem Labor, in dem sie entwickelt worden war, zu einem Unfall. Dort und im größten Teil der angrenzenden Kleinstadt brachten sich die Bewohner gegenseitig um – mit allem, was sie gerade in die Hände bekamen. Die Regierung kriegte es mit der Angst zu tun, beseitigte alle Spuren, es war Krieg, da fiel es nicht besonders auf. Die Forschung wurde eingestellt und alle Unterlagen vernichtet nebst den Forschern, die bis dahin überlebt hatten. Tatsächlich weiß bis heute niemand, was sie damals entwickelt haben. Geblieben ist nur ein Name: X-44. Dachten wir. Bis vor zwei Wochen. Denn der Bomber – wurde nicht vor Peenemünde abgeschossen, sondern vor Warnemünde. Das Flugzeug wurde geborgen, die Waffe aber trotz intensivster Suche nie und irgendwann geriet das Ganze in Vergessenheit.“

Er schwieg einen Moment, schloss die Augen, dann riss er sie wieder auf und stieß hervor: „Ich muss wissen, was da unten geschehen ist!“

Es gab einige Psychologen hier im Lazarett, mit Doktortiteln und mit Erfahrung, doch nicht sie saßen hier, sondern Winfried und er wusste jetzt, warum. Keiner von ihnen hätte sich das bis zu Ende angehört. Ohnehin war er mit diesem Wissen erledigt. Natürlich, ihm stand jetzt wahrscheinlich eine Tür zu einer großartigen Karriere im Staatsapparat offen – genau das, was er nicht gewollt hatte.

Er stand auf. „Ich bin weder Folterknecht noch Verhörspezialist. Fischen Sie sie aus Ihrer eigenen Jauchegrube. Das Gespräch ist beendet.“

Müller sprang auf, stützte die Hände auf den Tisch und fixiert Winfried mit zu einem Spalt zusammengekniffenen Augen. „Sie junger, arroganter Schnösel! Sie sollen ihn nicht ausquetschen. Sie sollen ihm das Leben retten! Das Labor, in dem diese fürchterliche Waffe hergestellt worden ist, lag in der Sowjetunion! Man hat dort eine Massenvernichtungswaffe hergestellt und wenn das herauskommt, in der jetzigen Weltsituation ... das wird man niemals zulassen. Mann wird ihn umbringen, wenn er redet! Und das sollen Sie ihm in den Schädel hämmern.“

„Und wenn er den Mund hält, ist er ein zweifacher Mörder! Warum sagen Sie es ihm nicht selbst?“ Auch Winfried beugte sich über den Tisch.

„Weil ich es nicht darf!“, brüllte Müller und beide starrten sich an wie zwei Stiere vor dem Aufeinanderprallen der Schädelplatten.

Nach ein paar Sekunden fuhr er sich mit der Hand über die Augen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Entschuldigung. Ich habe mich wohl gehen lassen. Es ist aber tatsächlich so – er darf nicht einmal wissen, dass es mich gibt, die Gründe dafür will ich Ihnen nicht sagen, ich habe Sie schon viel zu tief hineingezogen und das tut mir leid für Sie. Wie dem auch sei – verbringen Sie so viel Zeit mit ihm wie möglich. Er muss es begreifen. Achten Sie auch auf das Personal, ob da neue Leute dabei sind. Ich hole nachher seinen Vater aus Berlin ab. Gerade zu ihm darf er nicht reden, das würde in einer Katastrophe enden. Gott sei Dank wird er erst morgen früh aufwachen, hat man mir versichert und bis dahin ist sein Vater wieder weg. Dann müssen Sie bei Ihrem Patienten sein und mit ihm reden. Sein Vater und ich werden eine Lösung finden für ihn, damit er wieder ein normales Leben führen kann, aber wir brauchen Zeit dafür und genau die sollen Sie uns verschaffen. Tatsächlich bin ich wahrscheinlich der Einzige, der ihn da heraus holen kann, ohne das man ihm das, was da unten geschehen ist, als Mord anhängt.“

Der Gefühlsausbruch Müllers ließ Winfried kalt. Doch an der Logik in seinen Worten konnte er nicht so ohne Weiteres vorbei. Andererseits war es eben genau das - laute, warme Luft, und sein Diplom wäre keinen Pfifferling wert gewesen, wenn er nicht wenigstens das verstanden hätte. Einiges sprach für Müller, aber eines in jedem Fall gegen ihn.

„Dazu hätten Sie mir die Akte nicht zu lesen geben müssen“, sagte Winfried. Hingesetzt hatte er sich nicht wieder.

Müller nickte wieder er. Es schien seine liebste Beschäftigung zu sein. „Natürlich nicht. In einem System wie dem unseren macht die Seite den Unterschied aus, auf die man sich stellt. Ich habe Ihnen einen Einblick gegeben. Sie haben studiert und mir damit eine Menge voraus, auch wenn es Ihnen Flausen in den Kopf gesetzt hat. Aber wenn Vater Staat das Geld für Sie nicht umsonst ausgegeben hat, wissen Sie, das Gut und Böse nur eine Frage des Standpunktes sind. Oder anders gesagt, es sind keine Kategorien zur Bewertung der objektiven Realität. Denn in der ist nur eines real und das mit absoluter Sicherheit: Täter und Opfer. Das gilt für jeden Staat der Welt, jenseits und diesseits des Atlantiks, für jedes System und es wird immer so sein. Entscheiden Sie, wer davon Sie sein wollen.“
Ist das ein Ausschnitt aus einem längeren Werk?
Ja, ein Roman, an dem ich mit großen Unterbrechungen seit - hm- 7 Jahren hier arbeite. Gefühlte einhundert Mal umgeschrieben. Die erste Komplettversion ist hier irgendwo versickert. Bloß nicht ansehen. Ab und an poste ich noch Versatzstücke, weil ich sie immer wieder umschreibe. Manchmal kommt auch eine Szene heraus, die neu ist oder die ich für wirklich wichtig halte. Dann schmeiße ich sie hier rein und quäle Euch mit Version 13.99899 eines längst bekannten Kapitels. Danke für Eure Langmut. Ich muss wirklich wohl erst in Rente gehen und Ruhe haben, bevor ich ihn fertigschreiben kann *lach*
Starke Bilder, intensive Sprache und der Plot macht Lust auf mehr... tja.
2020_08_28: ich war shoppen. ; )
********elle Frau
3.308 Beiträge
Ich denke, es wird gut recherchiert sein. Umso spannender ist es für mich, die Null Ahnung davon hat, was zu DDR-Zeiten im Osten los war.

Aber selbst wenn das alles nur Fiktion ist, hat es mich mitgerissen. Vermutlich bin ich nicht die einzige, die unbedingt wissen will, was Oldenburg und seinem Vater alles widerfahren ist und, vor allem, wie es weitergeht.

Vielleicht sollte ich doch mal auf die Suche nach der Ursprungsversion gehen... ; )
Ich will Euch nicht vollschmeissen. Den aktuellen Stand findest du immer hier:

https://www.joyclub.de/profile/homepage/2300647-285700.oxymoron_thriller.html
2020_08_28: ich war shoppen. ; )
********elle Frau
3.308 Beiträge
Danke schön! Das werde ich mir auf jeden Fall angucken.
Der Lada rumpelte über ein Schlagloch, dem Müller nicht schnell genug hatte ausweichen können. Auf dem Beifahrersitz verzog Sven Oldenburg das Gesicht und es ließ ihn aussehen wie einen Beamten, der gerade seine Kündigung las. So wirkte er immer auf den ersten Blick, mit seiner schicken, grauen Anzughose, dazu passendem Hemd mit Binder, dem Brillengestell aus Draht und den peinlich genau auf links gescheitelten Haarüberbleibseln auf seinem großen Kopf. Nur die abgetragene braune Lederjacke um seine breiten Schultern passte nicht dazu.

„Die Straßen werden immer schlimmer“, sagte er.

„Wohl war“, erwiderte Müller und: „Sie sind müde.“

Es waren die ersten Worte, die beide außer einem „Guten Tag“, als Sven in den Wagen gestiegen war, wechselten. Er hatte alles stehen- und liegen lassen in Oslo und seine Tarnung aufs Spiel gesetzt, nur um so schnell wie möglich zurück nach Berlin zu kommen und damit die Geheimdienstarbeit vieler Monate, wenn nicht sogar von Jahren aufs Spiel gesetzt. Hakonsens Geophysiker hatte einen „Unfall“ gehabt, damit war Sven der einzige kurzfristig noch zur Verfügung stehende Wissenschaftler, der für die norwegische Antarktisexpedition in Frage kam und genau so hatten sie es geplant. Müller war mit keinem Wort darauf eingegangen, als er ihn abgeholt hatte, aber es stand wie dicke Luft zwischen ihnen. Sven lehnte den Kopf gegen den Holm neben der Seitentür und schloss die Augen.

Müller warf ihm einen kurzen Blick zu und sagte: „Wir können nichts tun. Die Ärzte sind sich nicht mal sicher, was es ist. Sie kriegen ihn nicht aus dem Koma heraus.“

Die Augen immer noch geschlossen, zog Sven die Brauen hoch und Müller sprach weiter: „Evans-Syndrom, lautet ihre vorläufige Diagnose, hervorgerufen durch außergewöhnliche Stressbelastung bei Dunkelheit und unter Wasser. Wenigstens ist er aber stabil, sein Zustand verschlechtert sich nur minimal, weil alle Körperfunktionen heruntergefahren sind. Sein Immunsystem ist zusammengebrochen, zerstört statt Krankheitserregern jetzt die eigenen roten Blutplättchen. Wenn sie den Prozess nicht aufhalten können, kommt als nächstes Organversagen, weil das Blut nicht mehr genug Sauerstoff transportieren kann und er erstickt. Alle möglichen Tests haben sie durchgeführt, aber in seinem Körper ist nichts, was dafür verantwortlich gemacht werden kann. Er ist eigentlich noch immer kerngesund.“

Sven reagierte immer noch nicht und nach einer Weile setzte Müller hinzu: „Zum Teufel, es hätte jeden treffen können, Ihr Sohn hat einfach nur Pech gehabt. Vielleicht sollten die ihr Ausbildungsprogramm in Kühlungsborn mal überdenken. Das habe ich schon weitergegeben.“

„Pech gehabt ...“ Sven schlug die Augen auf und sah aus dem Seitenfenster. „Wie genau ...“ Er räusperte sich. „Wie genau ist es passiert?“

Müller blickte konzentriert nach vorne, obwohl die Autobahn so gut wie leer war. „Simulierter Kampfeinsatz, wie er schon viele hinter sich gebracht hat. Sie sollten eine Bombenattrappe finden und aufklären, das Sicherstellungsteam war die ganze Zeit direkt über ihnen. Dann wurde das Wetter ziemlich schlecht und irgendwann kam er wieder hoch. Alleine ...“

Sie waren von der Autobahn abgefahren. Links und rechts huschten jetzt Bäume vorbei, dann kamen ein paar Häuser. Schulkinder standen an einer Haltestelle und warteten darauf, dass der Bus sie von der Schule nach Hause fuhr. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und roten Schleifen daran winkte, vielleicht aus Langeweile, vielleicht auch, weil sie einfach nur freundlich sein wollte und weil sie noch nichts von der Welt der Großen wusste.

Erwachsene mussten den Dingern immer irgendwelche Schilder umhängen, damit sie sie in Gedankenkisten einsortieren konnten, dachte Sven. Selbst dann, wenn sie nichts darüber wussten. Hauptsache, man fand eine passende Schublade. Die, in die Christian passte, hieß „Evans-Syndrom“ und alle waren zufrieden.

Wieder fuhren sie durch ein Dorf, das Ortsausgangsschild flog vorbei und er sagte: „Sie müssen ihn da herausholen.“

Die Antwort kam sofort. So, als hätte Müller sie parat gehabt. „Da sind die besten Ärzte für ihn.“

Sven seine auch: „Oder die dicksten Mauern? Türen mit Schlössern, Fenster mit Gittern?“

„Ich wollte Sie nicht verletzen – aber - ja auch. Keiner weiß, was da unten geschehen ist und es gab zwei Tote.“

Sie fuhren durch ein Waldstück und Müller reduzierte die Geschwindigkeit. „Es tut mir leid, Genosse Oldenburg. Aber Sie müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Es gibt keine Heilung für Ihren Sohn. Er hat nur noch Tage oder Monate zu leben. Ich verspreche Ihnen, dass er die beste Pflege bekommen wird, bis zur letzten Sekunde. Es wird keine Verhöre geben und niemand wird ihn belästigen. Ich schwöre es.“

Ein Waldweg kam in Sicht. Müller steuerte den Wagen hinein, stellte den Motor ab und öffnete seine Tür. „Lassen Sie uns ein Stück gehen.“

„Sagen Sie, was Sie sagen müssen und dann fahren Sie mich zu meinem Sohn.“

„Oder?“

„Ich schmeiße Sie aus ihrem Auto.“

Müller warf Sven einen scharfen Blick zu. „Sie würden das wirklich tun, oder?“

Er bekam keine Antwort. Achselzuckend startete er den Motor und fuhr los.

Sven lehnte sich wieder zurück und umkrampfte das braune Paket auf seinem Schoß. Es war Otto Nordenskjölds „Antarctic - zwei Jahre in Schnee und Eis am Südpol.“ Das Buch war Christian damals auf den Fuß gefallen, als er mit vier Jahren in einem Wutanfall gegen das Bücherregal seiner Großmutter getreten hatte. Sechs Monate lang hatte er es kaum aus der Hand gegeben und sich mit ihm selbst das Lesen beigebracht. Danach hatte er es nicht mehr gebraucht – er hatte es im Kopf gehabt, Seite für Seite, Wort für Wort.

„Sie müssen morgen für wieder los.“ Mitleid klang aus der Stimme von Müller. „Wenn Sie nicht morgen, allerspätestens übermorgen in Oslo sind, war alles umsonst. Christian würde das nicht wollen. Tun Sie es für Ihren Sohn. Wir tun wirklich alles, was menschenmöglich ist für ihn. “

Sven schloss wieder die Augen.
Es war nicht Gefühlskälte, die Sven in der Tür stehenbleiben ließ, sondern seine Ausbildung. Er wusste, dass Christian nicht davonlaufen konnte, dass er es vielleicht nie mehr können würde und in den zwei oder drei Sekunden, die Sven brauchte, um die Situation einzuschätzen, würde sich nichts an dessen Zustand ändern.

Das Krankenzimmer hatte die tiefgründige Persönlichkeit einer Backsteinmauer, wenn man von den Gittern vor dem kleinen Fenster absah. Wie jedes Krankenzimmer, das auf sich hielt, stank es nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, kaltem Kantinenessen und Urin. In das zerkratzte Waschbecken aus emailliertem Stahlblech tropfte Wasser aus der undichten Armatur; der weiß gestrichene Stahlblechschrank daneben sah aus, als hätte er in einem anderen Leben als Soldatenspind gedient und die Sprelakartoberfläche des Nachtschranks neben dem Stahlrohrbett war so leergefegt wie das Südfrüchteregal im Konsum zu Weihnachten. Keine Vase mit einem Blumenstrauß zur Erinnerung an die Liebste und keine Pralinenschachtel von Angehörigen verdeckte die gelben Altersflecken darauf. Daneben stand auf einem Bord ein graues Telefon, darunter war ein Stuhl, auf dem weder Sachen lagen, noch Schuhe standen; ja, nicht einmal Krücken waren zu sehen. Christian hatte noch nie aus eigener Kraft das Bett verlassen und niemand schien zu erwarten, dass er es in nächster Zeit tun würde.

Er war der einzige Patient im Zimmer und für viel mehr als für ein Bett und je einen Stuhl links und rechts am Kopfende wäre auch nicht Platz gewesen. Er hatte ein klar gezeichnetes, kantiges Gesicht mit einem fast brutal quadratischen Kinn, kräftiger Nase und einer Stirn, die fast so hoch wirkte, wie sie breit war. Seine Haare waren militärisch kurzgeschnitten und obwohl er erst dreiundzwanzig Jahre alt war, waren sie grau. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig, aber sehr langsam. Selbst im Schlaf sah er noch nach Kampf aus, nach Trotz und danach, dass er es mit allem aufnehmen würde, was das Leben ihm entgegenwarf. Nicht einmal die totenblass über den spitz hervorstechenden Wangenknochen spannende Gesichtshaut nahm ihm diese Ausstrahlung und auch nicht die frische Narbe auf seiner linken Wange, die sich gleich einer weiß-roten Schlange in Richtung Mundwinkel wand.

Dann war da noch eine schlanke Frau in einem offenen weißen Kittel auf einem Stuhl neben Christian sitzend, die schmalen Hände über einem blauen Hefter in ihrem Schoss gefaltet. Sie hatte lange rote Haare, im Nacken von einer Spange gehalten und grüne Augen, in denen Sven nichts als kühle Professionalität las.

„Ich bin sein Vater“, sagte er.

„Joanna“, erwiderte sie und nickte ihm zu, als hätten sie sich erst gestern gesehen oder als würde er hier täglich ein und ausgehen.

Es war ihm nur recht. Er wollte mit niemandem reden außer mit Christian. Minutenlang stand er neben dessen Bett, dann legte er das Buch auf den Nachtschrank, zog sich den Stuhl an die Bettkante und setzte sich darauf. All das tat er ohne jedes Geräusch, so still, wie er auch sonst agierte. Vielleicht sogar noch lautloser, er dachte nicht darüber nach, jedes Geräusch schien ihm wie eine Explosion in diesem stillen Zimmer.

Nach einer Weile nahm er die Hand seines Sohnes, ignorierte die Wärme, die ihm ins Gesicht schoß. Etwas wie Interesse glomm in Joannas Augen auf, Sven zuckte die Schultern und sagte: „Er hat sich nie anfassen lassen. Wie ein Wahnsinniger hat er dann um sich geschlagen. Er hat viel um sich geschlagen. Wenn er nicht gerade gelesen hat. Würde mich nicht wundern, wenn er die ganze Stadtbibliothek im Kopf hätte. Aber er hat nie darüber gesprochen.“

Er legte Christians Hand wieder auf den Rand des Bettes zurück. Sie zuckte, als hätte sie ein eigenes Leben, dann lag sie still.

„Hatte immer Flausen im Kopf, der Junge. Zu viel gelesen, irgendwo zwischen Wunsch und Wirklichkeit gelebt; zwischen Schule, Prügeleien und seinen Büchern ... ich war immer außen vor ... jetzt bin ich hier und er ist weg .... manchmal, da blitzte etwas auf, da war er ... voraus, ganz weit ... und dann haben sie ihn zu den Kampfschwimmern geholt ...

Er zuckte die Schultern. „Es macht keinen Unterschied mehr.“ Dann verfiel er wieder in Schweigen.
Joanna stand auf, tauschte den Beutel am Ständer des Tropfes aus, setzte sich wieder hin und schlug die Beine übereinander.

Sven fuhr sich über die Augen. Seine Müdigkeit kam durch und er suchte sich eine aufrechtere Position.

„Errrzählen Sie ihm etwas“ sagte Joanna.

„Wozu? Er hört mich nicht.“

„Wissen Sie das oderrr glauben Sie das?“

„Ich ...“ Er sprach nicht weiter. Das Klappern von Geschirr und von Türen, die auf- und wieder zugeschlagen wurden, hallte dumpf durch die geschlossene Tür. Dann wurde es wieder ruhig. Sven fragte: „Was wissen Sie von ihm?“

Joanna wechselte die Position ihrer Beine. „Was wissen Sie von ihm?“

Es war das erste Mal, dass Sven sie ernsthaft ansah, doch in ihrem Gesicht las er nichts weiter als ruhige Professionalität. Vielleicht sind Ärzte so, dachte er. Oder müssen so sein, damit das, womit sie täglich umgehen, ihnen nicht unter die Haut geht. Ich weiß eigentlich gar nichts von ihm, außer dem, wovon er träumt. War zu viel unterwegs. Aber ist das nicht genug, die Träume der Kinder zu kennen?

Er räusperte sich. „Er hat immer alles gemixt, das, was er gelesen hat in Büchern und was in der Zeitung stand. Unterschiede zwischen Märchen, Science Fiction und wissenschaftlichen Abhandlungen oder Dokumentationen existierten für ihn gar nicht. Er hat alles in seinen Kopf gestopft und dann kamen Geschichten heraus, mit denen er jedem auf den Nerv gegangen ist und von denen keiner wusste, wahrscheinlich nicht mal er selbst, was davon erfunden und was real war. Vor zwei Jahren habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Wir saßen neben dem Eingang zur Kaserne im Besucherraum - weiter durfte ich nicht - und er hatte nichts Besseres zu tun, als mir seine neueste Idee zu erzählen ... So ein Idiot.“

Der Raum hatte erbärmlich nach Zigarettenrauch gestunken, doch sie hatten nirgendwo anders hinkönnen. Sven war froh gewesen, überhaupt eine Besuchserlaubnis bekommen zu haben. Nicht einmal guten Tag hatte Christian gewünscht, war einfach in seinem typischen Gang hereingekommen, der aussah, als ginge er über die schwankenden Planken eines alten Segelschiffs, hatte sich seinem Vater gegenüber auf einen Stuhl fallen lassen und gefragt: „Hast Du sie mitgebracht?“

Sven schob eine Fotokopie der Karte des Piri Reis über den Tisch „Danke der Nachfrage. Es geht mir gut. Und Dir?“

Minutenlang studierte Christian die Karte. Sven hätte ihn am liebsten geschüttelt und ihn angeschrien: „Ich bin hier!“, aber dann wäre Christian aufgestanden und gegangen. Diesen Teil ihrer Unterhaltung hatten sie durch. Es war an Christians sechzehntem Geburtstag gewesen, der Tag , an dem er erfahren hatte, dass sein Vater ein Spion des Ministeriums für Staatssicherheit war.
„Topkapi. Der Palast des Sultans in Istanbul. Da liegt sie unter Glas. Panzerglas, vermute ich.“ Christian legte seine Füße auf den Tisch, natürlich nicht auf die Karte, kippte seinen Stuhl an, kreuzte die Arme vor der Brust und Sven stöhnte lautlos. Er ahnte, dass die ganze Besuchszeit, die man ihnen ließ, nur für eine neue verrückte Idee seines Sohnes draufgehen würde.

„1513 gezeichnet von Piri Reis, einem osmanischen General und Seefahrer“, Als stünde da sein Text, sah Christian zur wasserfleckigen Decke. „Zeigt die Küste der Antarktis, wie sie fünftausendfünfhundert Jahre früher ausgesehen hat. Da war ihr Rand noch grün und wurde erst viel später unter kilometerhohem Eis begraben. Die Karte weist eine sphärische Verzerrung auf, die in etwa der eines Fotos entspricht, das aus mehreren einhundert Kilometern Höhe aufgenommen worden ist. Die NASA hat neunzehnhundertsechzig bestätigt, dass die Karte nicht nur echt, sondern sogar erstaunlich genau ist.

Wissensbasis: Die Antarktis wurde erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt. Piri Reis hätte also sechstausend Jahre alt sein müssen, um ihre Küstenlinie ohne Eis gesehen haben und sie zeichnen zu können. Er wurde aber um 1470 geboren und 1554 in Kairo geköpft. Das ist bewiesen, das sind die Fakten und sie sind unwidersprochen. Niemand auf der Erde hätte 1513 diese Karte zeichnen können, die eine Antarktis zeigt, wie sie ein paar tausend Jahre früher ausgesehen hat. Zum Teufel, 1513 wusste niemend, dass die Antarktis überhaupt existiert, auch nicht Piri Reis. Deshalb liegt die Karte im Topkapi unter Glas. Weil sie ein Wunder ist. Manche meinen, es sei ein Zufallstreffer und andere glauben, Außerirdische hätten die Erde besucht und von ihnen hätte er das Wissen gehabt. Das ist Schwachsinn, die Erklärung ist viel einfacher.“

Sven brummte: „Und du kennst sie.“

Christian senkte seinen Blick von der Decke. „Was? Ach so, ja, natürlich. Sie ist einfach und vor allem logisch. Hochkulturen wie die Mayas, die Phönizier oder die sagenhaften Atlantiden sind in der Geschichte verschwunden, und zwar spurlos. Nicht ausgerottet, nicht dahingesiecht oder langsam ausgestorben. Nein, verschwunden, von einem Tag auf den anderen. Wären sie das nicht, hätten sie sich in dem gleichen Tempo wie der Rest der Menschheit weiterentwickelt, wären sie uns heute himmelhoch überlegen. Immerhin hatten sie ein paar tausend Jahre mehr Zeit. Das ist für uns die Zeit vom Eisenschwert bis zur Atombombe. Zur Zeit von Piri Reis wären sie etwa da gewesen, wo wir so um das Jahr 2500 sein werden. Wenn es uns dann noch gibt. Ein Volk von Millionen Menschen kann sich jedoch nicht so einfach in Luft auflösen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, es sei denn, es hätte es mit Absicht getan. Selbstvernichtung zum Beispiel, warum auch immer. Vielleicht war ihnen das Meer zu blau und die Sonne zu warm oder so. Doch selbst Kernwaffen hinterlassen nachweisbare Spuren und solche sind nie gefunden worden. Also sind sie nicht untergegangen und ‚verschwunden‘ trifft es dementsprechend auf den Punkt.“

Er richtete seinen Blick wieder auf die Decke. „Von zwei Orten auf der Erde wissen wir weniger als von der Mondoberfläche - der Tiefsee und der Antarktis. Seit vierzig Jahren vermutet man, dass riesige Hohlräume unter der Antarktis existieren. Ein norwegischer Professor, Johannes Hakonsen, hat Ende der Siebziger eine Theorie veröffentlicht, nach der ausgerechnet der höchste Berg da, der Mount Kirkpatrick, über so einem Hohlraum liegen soll. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber auf alle Fälle gibt es nach den neuesten Forschungsergebnissen unter der russischen Antarktisstation ‚Wostok‘ einen riesigen See, mehr als eintausend Kilometer lang und fast neunhundert Meter tief. Man kommt nicht heran, weil er mehr als vier Kilometer unter dem ewigen Eis liegt, aber man vermutet Protoleben darin, dass viel älter ist als die Menschheit. Da wäre genug Platz, ein ganzes Volk zu verstecken. Alles, was sie brauchten zum Leben, fänden sie da unten - Bodenschätze und Wasser. Nahrungsmittel und Luft könnten sie sicher synthetisch herstellen, von Licht ganz zu schweigen. Sie hätten 1513 die Technologie haben können, Fotos aus dem All zu machen und danach könnte Piri Reis die Karte gezeichnet haben.“

Sven schüttelte den Kopf. „Was geht nur in Deinem Kopf vor? Selbst wenn Du recht hättest und es nicht nur wieder eine von Deinen verrückten Geschichten wäre – was sollte sie daran hindern, mit uns zusammenzuleben, wenn sie wirklich da unten wären?“

Krachend setzten die beiden vorderen Beine von Christians Stuhl auf dem Boden auf. Er nahm die Beine herunter, beugte sich weit über den Tisch vor, starrte Sven aus nächster Nähe ins Gesicht und Wut troff aus jedem seiner Worte: „Wir. Leute wie Du. Unsere Geschichte. Die Menschheit hat eine in die Gene programmierte Selbstvernichtungsgarantie und wird von ein paar tausend machtgeilen Soziopathen gesteuert, die Leute wie Dich benutzen, damit das auch funktioniert. Aber ...“

„Vergiss Dich nicht!“ Sven hatte sich fest vorgenommen, sich nicht wieder mit Christian zu streiten. Wie immer, hatte es nicht funktioniert. „Du hättest nicht hier her müssen, Du hättest ablehnen können. Aber Du wolltest es, also tu nicht so, als wärst Du etwas Besseres!“

„Wenn du ein Rudel Löwen umbringen willst, musst du wenigstens wissen, wie es kämpft!“ Christian zischte es Sven ins Gesicht und der warf einen erschrockenen Blick zur Tür. Sie war geschlossen und sie waren die Einzigen hier im Besucherraum.

Christian winkte ab und lehnte sich wieder im Stuhl zurück. „Keine Sorge. Niemand erfährt, was Dein Sohn denkt. Ich will ja nicht Deine Karriere gefährden. Was glaubst du denn, was passieren würde, wenn sie kämen, und sagten: ‚Hey, da sind wir und wir haben eine Technologie, die euch weit überlegen ist. Wollt ihr was davon abhaben?‘. So blind kannst nicht mal Du sein. Natürlich würden die Menschen wollen und sie würden es sich mit Panzern und Raketen holen. Die Antarktis würde zum Kriegsgebiet, weil jeder mehr als der andere haben will. Wie von dem Gold der Inkas. Nein, sie werden keinen Mucks von sich geben. Da unten hätten sie sogar eine Chance, unseren nächsten und auch letzten Krieg zu überleben. Aber ich denke, dass sie uns Mörderbande über ihren Köpfen keine Sekunde aus den Augen lassen und uns ständig beobachten. Ja, beobachten werden sie uns, da bin ich mir ganz sicher. Ich würde es tun ...“

„Das Ausbildungsprogramm hier scheint mir verdammt hart zu sein. Oder Du bist auf der Sturmbahn mit dem Kopf gegen die Eskaladierwand geknallt.“ Sven bemühte sich, die Wut nicht aus seiner Stimme klingen zu lassen.

„Was?“ Wieder klang Christian, als sei er in Gedanken ganz wo anders. „Was hat Denken mit meiner Ausbildung hier zu tun? Vor zehn Jahren hat man Rachmantikow auch für verrückt erklärt, als er das oszillierende Universum bewiesen hat. Und doch weiß man heute, dass allein die Erde in elf verschiedenen Ausprägungen existiert. Vielleicht ist eine dabei, auf der es mehr als nur einen Weltkrieg gegeben hat, oder auch eine, auf der die Menschen sich nicht gegenseitig an die Gurgel gehen. Eine, in der Schwerin keine Großstadt wie bei uns, sondern nur ein Provinznest oder ein Dorf ist ...“

Er schwieg einen Moment, als müsste er Kraft schöpfen, dann stand er auf. „Die Zeit ist um. Danke für Deinen Besuch. Vater.“

„Christian ...“

Ohne auf den Ruf seines Vaters zu reagieren, ging mit Christian mit seinen schweren Schritten zu Tür und öffnete sie. Aber, als wäre ihm noch etwas eingefallen, drehte er sich um und plötzlich hatte er ein Grinsen im Gesicht. „Weißt du, wer es wirklich war?“

Sven stöhnte. „Sag jetzt nicht, dass du Deinen Vater eine ganze Stunde lang verarscht hast!“

Auf einmal schien Christian wieder ein Junge zu sein. „Die Atlantiden waren es, die Mondfischer. Sie segeln den Strom der Zeit aufwärts, vom Ende aller Zeiten bis nach vorn zum Big Bang, vom Omega zum Alpha. Sie erinnern sich an die Zukunft und träumen von der Vergangenheit. Bei Piri Reis haben sie mal kurz halt gemacht, haben ihm ein Foto in die zittrige Hand gedrückt und danach hat er dann die Karte gezeichnet.“

„Ich glaube wirklich, Du bist hier nicht ausgelastet.“

Unvermittelt wurde Christian wieder ernst. „Mehr als du Dir vorstellen kannst. Zur Zeit lerne ich gerade, wie man Menschen am effektivsten umbringt.“

Blitzschnell ballte er eine Faust, ließ sie vorzucken und als er sie wieder zurückzog, war ein kindskopfgroßes Loch im Holz der Tür. Fast verächtlich zog er einen Splitter aus der Haut über einem Knöchel, hob einen Zeigefinger an die Nasenspitze, klopfte sich dagegen und murmelte wie im Selbstgespräch: „Meine Nase. Die Mondfischer. Tatsächlich. Und ich wüsste, wo ich sie suchen würde. In der Antarktis ...“
Wieder? Sven wischte sich mit den Zeigefingern die Feuchtigkeit aus den Augen. Mit Gewalt sperrte er seine hochkochenden Emotionen dahin, wo sie seiner Meinung nach hingehörten und dachte nach. Nach dem, was Müller gesagt hatte, lag Christian seit Wochen im Koma. Alle Körperfunktionen sollten auf ein gerade noch das Leben aufrecht erhaltendes Minimum heruntergefahren sein. Dann erwacht Christian aus dem Koma und die diensthabende Ärztin oder Schwester prüft weder die Vitalfunktionen des Patienten noch alarmiert sie die diensthabenden Ärzte und das Personal. Im Gegenteil, sie rückt aus seinem Sichtfeld und benimmt sich, als ginge sie das alles gar nichts an.

Sven wollte Christian nicht wieder aufwecken, aber wenn er je Schärfe in seine Worte gelegt hatte, dann war es jetzt. „Was wird hier gespielt?“

„Wer mit dem Teufel tanzt, muss auch irgendwann die Musik bezahlen.“

„Wie reden Sie über meinen Sohn!?“ Er bekam kaum die Kiefer auseinander, so wütend war er.

„Ich meinte nicht ihn. Ich meinte Sie.“

Joanna stand auf. Nicht abrupt, nicht so, als hätte er sie aufgeschreckt. Eher wirkte ihre ruhige Bewegung wie ein ... Abschluss? Keinen ihre Schritte, mit denen sie um das Bett herumkam, hörte er. Sie bewegte sich noch leiser als er.

Sie hielt ihm einen Zettel hin. „Das ist ein Medikament, das es nur im Westen gibt. Besorgen Sie es ihm.“

Sven warf einen kurzen Blick darauf, dann schüttelte er den Kopf. Ohne, dass er es bemerkt hatte, war sie in genau der Sekunde zur Tür gegangen. „Ich habe keine Kontakte nach drüben.“

„Lügen Sie nicht. Ihr persönlicher Teufel wird morgen früh an Ihre Tür klopfen, weil er sie wieder zum Flughafen bringen will. Lassen Sie es ihn übernehmen, er kann das. Dann wird Ihr Sohn zwar ein paar Jahre auf Krücken gehen müssen, aber er wird leben. Danach ... dann wird sich alles ändern ... für ihn.“

„Können Sie in die Zukunft sehen oder was? Ich will keine Prophezeiung von einem Scharlatan, sondern eine Diagnose. Holen Sie mir gefälligst einen richtigen Arzt, bevor ich es selbst mache. Oder ...“

Sven ballte die Fäuste. Für einen Sekundenbruchteil flog ein Lächeln voller Traurigkeit über ihr Gesicht, zu schnell, als dass es für ihn eine Bedeutung gehabt hätte, dann war sie wieder nichts weiter als kühle Professionalität. „Es ist keine Prophezeiung. Nennen Sie es eine ... Erinnerung.“

Lautlos schloss sie die Tür hinter sich und Sven war mit dem schlafenden Christian allein.
Dann bleibt mir nur noch zu hoffen, dass ich die Bombe klar genug herausgearbeitet habe und sie keine Fehlzündung ist.

Als am nächsten Morgen der Lada vorfuhr, war Sven bereit. Das Gästehaus des Lazaretts hatte nur zwei Etagen und sein Zimmer ging zur Straße hinaus. Dass Müller nicht alleine, sondern mit einem breitschultrigen Begleiter kam, überraschte Sven nicht. Er hatte so etwas erwartet. Bis gegen halb acht hatte er noch bei Christian gesessen, dann war er zur Post gegangen, hatte Kleingeld eingetauscht, sich in eine Telefonkabine gesetzt und so lange telefoniert, bis man sich in der Zentrale der Charité erbarmt und einen Blutspezialisten ans Telefon geholt hatte. Sven hatte ihm den Fall geschildert und – natürlich ohne jedwede Garantie und auf keinen Fall wollte der Herr Doktor beim Namen genannt werden – die Bestätigung bekommen, dass die mysteriöse Joanna recht hatte. Das Medikament, dessen Namen sie Sven auf einen Zettel geschrieben hatte, konnte die Überlebenschancen Christians erheblich verbessern.

Es klopfte an der Tür und es hörte sich nicht nach besonders guter Laune dessen an, der seine Hand gegen das Holz gedroschen hatte. Nun, da sind wir dann schon zwei, dachte Sven, machte den Wasserkocher an, stellte die Tüte mit Kaffeepulver daneben und eine Edelstahlkanne, die er am Morgen noch aus der Kantine mitgenommen hatte. Dann ging er zur Tür, lockerte mit einer schnellen Bewegung seine Schultergelenke und öffnete.

„Sie hätten auch mein Diensttelefon benutzen können, statt Ihr Kleingeld zu verplempern.“ Müller wirkte wie aus dem Ei gepellt – korrekter, dunkler Anzug, Binder in Grau und Erich-Honecker-Hut, allerdings aus grauem Filz und nicht aus Stroh.

Sven öffnete die Tür ganz. „Guten Morgen. Ich wollte Sie nicht so früh aus den Federn holen. Kommen Sie doch herein.“

Müller ging an ihm vorbei, sein Begleiter warf einen prüfenden Blick nach rechts und links über den Flur, dann folgte er. Sven ließ die beiden an sich vorbeigehen, schloss die Tür hinter ihnen und fragte: „Ich mach mir grad einen Kaffee. Möchten Sie auch?“

„Ich bin nicht hier, um Kaffee zu trinken, Genosse Oldenburg. Das ist Ihnen doch klar, oder?“

Müller setzte sich in den Sessel am Fernseher, sein Begleiter blieb neben Sven in einer Stellung stehen, die jeder, der jemals gedient hatte, als perfekte „Rührt-Euch-Stellung“ erkannt hätte – locker in den Gelenken, aber bereit, in jeder Sekunde zu handeln.
„Guten Ausbilder gehabt, hm?“, sagte Sven launig und goss das kochende Wasser in die Thermoskanne, verrührte mit bedächtigen Bewegungen das Kaffeepulver darin, warf Müller aus dem Augenwinkel einen Blick zu und sagte, während er die Kanne zuschraubte: „Natürlich nicht. Wahrscheinlich aber auch nicht, um mir zu erklären, warum mein Sohn ständig unter Schlafmittel gehalten worden ist. Wirklich keinen Kaffee?“

Er hielt die Kanne auf Augenhöhe und Müller fauchte: „Was soll das?“

„Schade“, sagte Sven und ohne jedes Ausholen, einfach so aus dem Handgelenk, hämmerte er Müllers Begleiter die Edelstahlkanne gegen die Schläfe. Wie vom Blitz gefällt und ohne einen Laut sackte der zusammen.

Müller sprang auf. „Sind Sie wahn ...“

„Hinsetzen!“ Sven hob die Kanne über den Kopf. „Oder ich zertrümmere Ihnen den verdammten Schädel!“

Einen winzigen Moment zögerte Müller, Sven schwang den Arm nach hinten und Müller ließ sich in den Sessel zurückfallen.

„Besser ist“, brummte Sven. „Wäre schade um den Hut gewesen.“ Er kniete sich hin, klappte den Unterkiefer des Mannes nach unten und prüfte, dass der frei atmen konnte. Dann drehte er ihn in eine stabile Seitenlage.

„Was machen Sie da?“ Müllers Stimme klang wieder ganz gelassen. Er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle gebracht.

„Dreckige Feldarbeit, will ihn ja nicht umbringen. Kennen Sie nicht. Passiert höchst selten hinter einem Schreibtisch.“ Sven zog dem Bewusstlosen den Gürtel aus der Hose und fesselte sorgfältig dessen Hände. Dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich Müller gegenüber.

„Wir haben nicht so viel Zeit, mein Flieger geht gleich. Ich biete Ihnen einen Handel an.“

„Sie wollen wieder zurück?“ Müller schlug ein Bein über das andere und lehnte sich nach hinten. „Das hatte ich nicht erwartet.“

„Ich hatte auch einiges nicht erwartet. Zum Beispiel das, was Sie mit meinem Sohn gemacht haben. Aber dazu frage ich Sie noch mal in ein paar Jahren, wenn ich zurückkomme. Also machen Sie das, was Sie immer machen und spitzen Sie die Lauscher. Ich bin in einer Position, in der ich zu wichtig für Sie bin, als dass Sie mich riskieren. Im Ängström-Kartell habe ich meine Finger, Johannes Hakonsen hat mich für seine Expedition nominiert und an mir hängt fast Ihr ganzes Netz Nordeuropa. Mischa Wolf würde Ihnen den Kopf abreißen, wenn Sie mich wegen einer persönlichen Rache über die Klinge springen lassen würden. Also Folgendes: Ich mache diesen Job zu Ende. ‚Ende‘ bedeutet, ich komme mit Ergebnissen zurück und Christian lebt, weil Sie alles getan haben, was dafür notwendig ist. Die dämliche Mordanklage wird fallengelassen und er kann studieren. Stirbt er, bin ich raus aus der Nummer. Sie aber nicht, weil ich mir dann Sie vornehme. War das verständlich?“

Müller leckte sich über die Lippen. „Sie wollen nicht wissen, warum ich nur so und nicht anders handeln konnte? Warum die beiden Kampfschwimmer auf Ihren Sohn losgegangen sind?“

„Holen Sie sich Ihre Absolution von Ihrem Beichtvater. Ich will, dass mein Sohn lebt, alles andere interessiert mich nicht und ich will eine Antwort. Jetzt!“

„Werden Sie aber müssen.“

Sven schnaubte. „Ich muss aufs Klo gehen und regelmäßig essen, damit ich Kraft genug habe, Ihnen diese Kanne gegen den Kopf zu knallen.“

Müller stand auf. „Wenn Sie meinen. Dann verpassen Sie aber die Pointe. Kommen Sie, ich fahre Sie. Im Wagen können wir uns weiter unterhalten.“

Sven rührte sich nicht. „Hier und jetzt!“

„Wie Sie wollen. Also das Wichtigste zuerst. Wir denken, dass hier sehr schnell gesellschaftliche Veränderungen greifen werden. Sie planen für mindestens ein Jahr. Wenn es länger dauert, kann es sein, dass die DDR nicht mehr existiert. Die Sowjetunion bricht gerade zusammen und das gesamte sozialistische Lager wird folgen. Wir nicht, wir überleben immer Regierungen und Systeme. Sie wissen, wie weit unser Netz reicht. Wenn Sie also zurückgehen und es gibt uns hier nicht mehr, dann gehen Sie nach Algier und merken Sie sich den Namen Arjen Wenger. Sie werden ihn bei der französischen Fremdenlegion in Nordafrika finden. Das ist Ihr Kontakt für den Notfall. Er wird wissen, wie er mich erreichen kann.“

„So weit plane ich nicht.“

„Aber ich und es gibt zwei Dinge, die Sie noch wissen müssen. Vielleicht eher eine Randnotiz – Ihr zukünftiger Expeditionsleiter Johannes Hakonsen hat sich nach drei Jahren Ehe vor zwei Jahren von seiner Frau scheiden lassen. Sie hat danach ihren Mädchennamen wieder angenommen. Wir haben ein Foto von ihr. Was aber wichtig ist: Ihr Sohn und seine Genossen wurden Opfer einer Substanz, die vor dreiundvierzig Jahren, 1944, in der Sowjetunion eine ganze Kleinstadt ausgelöscht hat und das die sowjetischen Genossen die Wissenschaftler, die sie entwickelt haben, beseitigt haben. Bis auf einen, der zu dem Zeitpunkt hunderte von Kilometern entfernt war. Er bekam Wind von der Säuberung und hat sich rechtzeitig abgesetzt. Auch von ihm haben wir ein Foto."

Müller griff in die Innentasche seines Mantels und Sven hob die Kanne. „Ganz langsam ...“
Die Hand von Müller kam mit einem Foto in Zeitlupe wieder zum Vorschein. „Leider ist die Qualität nicht besonders. Tut mir leid.“

„Sie sprachen von zwei Fotos.“

„Nein. Ich sagte, wir haben von beiden ein Foto. Vielleicht schauen Sie es sich erst einmal an.“

Mit einer seltsamen Mischung aus Erwartung und Boshaftigkeit auf seinem Gesicht hielt er das Foto direkt vor Svens Augen. Es war eine uralte Schwarz-Weiß-Aufnahme mit vergilbten Rändern. Aber das Gesicht der Frau mit den langen, lockigen und dunklen Haaren darauf war noch klar zu erkennen, auch wenn es vor über vierzig Jahren aufgenommen worden war und sie selbst sah auch keinen Tag jünger als vierzig aus.

Sven sog scharf die Luft ein und Müller hatte plötzlich ein kleines, gemeines Lächeln im Gesicht. „Ja, das ist Hakonsens geschiedene Frau, Dr. Joanna Wilsberg. Ich glaube, Sie haben Sie heute Nacht kennengelernt ...“

* ENDE *

------------------
So war das nicht geplant. Ich wollte nur die erste Geschichte hier einstellen. Dann hat jemand geschrien (danke @********elle ): "Mach weiter!" und plötzlich war das da, was ich in den vergangenen Jahren nir zu fassen bekommen habe, egal, wie ich es versucht habe: Svenssons Herkunft, das, was in seiner Jungend geschehen ist, wie alles begann. Wieder einmal einfach so dagewesen ... Wiedeer mal also sorry fürs vollschmeißen, aber sieht tatsächlich so aus, als würden wir diesen Roman zusammen *lach* doch irgendwann nochmal fertig kriegen.
Gute Nacht

PS: Heute bin ich nicht müde wie sonst nach so was. Heute habe ich ein dickes Grinsen im Gesicht ...


----
Anmelden und mitreden
Du willst mitdiskutieren?
Werde kostenlos Mitglied, um mit anderen über heiße Themen zu diskutieren oder deine eigene Frage zu stellen.