Stasi
Exakt eine Stunde später, auf die Minute genau, klopfte Winfried an die Tür von Oberstleutnant Witwer. Sie war nur angelehnt und auf das „Kommen Sie ruhig rein“, drückte er sie auf. Ein Mann in einem hellen Hemd saß an Witwers Schreibtisch und las ein Dokument. Vor ihm stand eine Tasse, die Untertasse daneben, eine zweite Tasse auf dem Platz gegenüber und in der Mitte des Tisches eine Thermoskanne. Ein graues Sakko hing halb heruntergerutscht von der Stuhllehne hinter ihm. Witwer hätte wahrscheinlich einen Wutanfall bekommen, hätte er das gesehen.Winfried trat ein, lehnte die Tür nur so an, wie er sie vorgefunden hatte und sagte: „Guten Tag.“
„Ich bin gleich für Sie da, Genosse Gneidsen“, erwiderte der Mann und wies ohne den kahlen Kopf von seinen Papieren zu heben, mit der linken Hand auf den Platz am Tisch ihm gegenüber. „Machen Sie ruhig die Tür richtig zu und gießen Sie sich eine Tasse Kaffee ein. Ich bin Bernard Müller.“
Er schien Worte zu mögen, sprach leise, nicht allzu schnell, sehr deutlich und verschluckte keine Endungen. Ein Mann, der Wert darauf legte, dass man ihn verstand.
Winfried goss sich Kaffee ein, lauschte dem leisen Gluckern in diesem Raum, in dem heute Morgen noch die verbalen Fetzen geflogen waren und dachte: Wenn Witwer hereinkommt, wird sich das mit der Stille sehr schnell erledigt haben. Unwillkürlich drehte er den Kopf in Richtung Tür.
„Er wird nicht kommen. Sie müssen mit mir vorliebnehmen.“
Der Mann schob die Papiere, in denen er bis eben gelesen hatte, zu Winfried herüber.
„Christian Oldenburg. Er wird ab morgen Ihr Patient sein. Faszinierende Lektüre. Wenn man vergessen kann, dass es um einen Menschen geht. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen. Aber vorher sollte ich wohl noch etwas erklären.“
Mir zu sagen, was er macht, wäre eine gute Idee, dachte Winfried. Oder mir einfach nur die Hand geben. Die Leute tun so etwas, es schafft Vertrauen, zwischenmenschliche Wärme und manchmal mehr, als es ein freundliches Gesicht wie seines konnte, auch wenn ihm das Lächeln durchaus stand. Es wirkte nur ein kleines bischen ... professionell? Oder war es ein „ich weiß etwas, was du nicht weißt?“
Doch er wollte nicht päpstlicher sein als der Papst – er wusste, dass er hätte jetzt auch dem Steinbeißer Witwer gegenübersitzen können. Nein, bei dem hätte er gestanden ...
„Wie geht es Ihrer Familie?“ Unschuldig schaute Müller ihn aus stahlgrauen Augen an.
„Gut, denke ich. Meine Eltern würden es mir kaum sagen, wenn es Ihnen schlecht ginge.“
Freundlich wippte Müller mit dem Kopf auf und nieder. „Natürlich. So sind sie, die Eltern. Kümmern sich immer um ihre Kinder. Ich dachte übrigens eher an ihre entferntere Verwandtschaft.“
„Ich habe keine.“
„Von der sie wissen ... wollen“, sagte er sehr ruhig.
Manchmal dauerte es ein wenig, bis bei Winfried der Groschen fiel. Diesmal begriff er mit Lichtgeschwindigkeit, dass Müller von dem verleugneten Cousin in Westberlin wusste und auch, dass damit seine Karriere wahrscheinlich erledigt war.
Müller kniff sein linkes Auge ein wenig zusammen und es sah aus, als zielte er über einen Gewehrlauf. „Ja, Sie denken richtig. Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will.“
Winfried verzog das Gesicht und Müller lachte kurz auf. „Bitte entschuldigen Sie, im Gegensatz zu Ihnen habe ich nie studiert. Mein ‚Faust‘ ist ein bisschen eingerostet.“
„Scheint mir eher ein generelles Verständnisproblem für Goethe zu sein. Mephisto wollte das Böse und hat doch Gutes bewirkt. Sie ...“ Winfried presste den Mund zusammen.
„... wollen Gutes und sind böse. In Ihren und den Augen der meisten Menschen in unserem Staat. Dann ist das eben so. Mich interessiert nicht, mit welchen Tricks Sie sich Ihr Studium erschlichen haben. Mich interessiert nur, dass Sie wissen, wo Sie stehen, und das tun Sie jetzt.“
Er nickte dazu und es animierte zum Mitmachen. Darum tat er es wahrscheinlich auch. Leute wie er hatten eine Ausbildung in so etwas, eine, die nicht Bestandteil einer Psychologievorlesung für Normalsterbliche war. Eine Kostprobe davon bekam Winfried gerade und so nickte er auch. Zwei freundliche Männer, die sich zunickten – einer davon ein emporgekommener Bauerntrampel, der den Knüppel der Macht in der Hand hatte und deshalb sagen konnte: Friss Vogel, oder stirb.
Was er dann auch tat, wenn auch ein bisschen freundlicher: „Seien Sie bitte so nett, und werfen Sie einen Blick in die Akte Ihres Patienten. Leider kann ich sie Ihnen nicht überlassen und was Sie darin lesen, werden Sie für sich behalten müssen. Sie werden es gleich verstehen.“
Es dauerte etwas, bis Winfried sich in dem Aktenordner zurechtfand. Es war keine Patientenakte, eher ein unvollständiger Lebenslauf, handschriftliche Einträge wechselten sich ab mit maschinengeschriebenen Blättern und nicht von Christian Oldenburg geschrieben, sondern von anderen über ihn.
Müller goss sich Kaffee ein, stand zwischendurch auf und ging im Raum hin und her, aber ließ Winfried keine Sekunde aus den Augen.
Mit jedem Wort, das Winfried las, fühlte er sich tiefer in einen Sumpf hineingezogen, von dem er niemals geglaubt hätte, dass er in seinem Land existierte und er verstand nicht, warum Müller ihm Einblick in diesen Aktenordner gewährte. Mit dem Wissen konnte Winfried sich in keine dunkle Straße mehr wagen und das wurde ihm klar, Seite, für Seite, die er umblätterte. Schließlich legte er die Papiere so vorsichtig auf den Tisch, als seien sie Nitroglycerin. Nur weil er sie gelesen hatte, fühlte er sich genau so schuldig wie diejenigen, die sie angelegt hatten und wenn das die Absicht der Leute hinter Müller gewesen war, hatte er den Plan übererfüllt.
Müller nahm wieder Platz. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, stieß die Fingerkuppen von linker und rechter Hand gegeneinander und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Mitgefühl. Wenn er es nur vorspielte, so war er ein Genie darin.
„So wie Sie jetzt habe ich auch gefühlt, als ich diese Akte das erste Mal in die Finger bekam“, begann er. „Wie sein Vater hatte auch der Junge unglaubliche Talente und es wurde geradezu fahrlässig damit umgegangen und ich kann wirklich verstehen, was Sie jetzt denken. Der Kalte Krieg ist vorbei und mit solchen Methoden muss Schluss sein. Genau deswegen bin ich hier. Denn es geht noch weiter und an der Stelle kommen Sie ins Spiel.“
Er ballte seine Hände zu Fäusten und legte sie vor sich auf den Tisch. „Vor zwei Wochen soll ein Trupp Kampfschwimmer eine vermeintliche Fliegerbombe vor Warnemünde untersuchen. Drei Männer, die drei Jahre lang durch eine härtere Ausbildung gegangen sind, als sie die Navy Seals haben, gehen ins Wasser. Erfahrene Männer und doch taucht nur einer wieder auf – Oldenburg. Blutend aus 23 Messerstichen, schafft es noch bis ins Boot und bricht zusammen. Die anderen beiden findet man viel später, beide sind durch genau einen Stich getötet worden, beim einen ins Herz und beim anderen in die Leber. Oldenburg schweigt und außer ein paar unidentifizierbaren Metallteilen wird am Grund der Ostsee nichts gefunden. Niemand weiß, was da unten geschehen ist. Offiziell. Inoffiziell ...“
Seine Knöchel waren rot angelaufen, so fest hatte er sie zusammengepresst und er lockerte seinen Griff auch nicht, als er weitersprach. „1944 startete ein Bomber mit einer besonderen Waffe an Bord. Er sollte Peenemünde auslöschen, um der V-Waffenproduktion Hitlers ein Ende zu bereiten. Noch während er in der Luft war, kam es in dem Labor, in dem sie entwickelt worden war, zu einem Unfall. Dort und im größten Teil der angrenzenden Kleinstadt brachten sich die Bewohner gegenseitig um – mit allem, was sie gerade in die Hände bekamen. Die Regierung kriegte es mit der Angst zu tun, beseitigte alle Spuren, es war Krieg, da fiel es nicht besonders auf. Die Forschung wurde eingestellt und alle Unterlagen vernichtet nebst den Forschern, die bis dahin überlebt hatten. Tatsächlich weiß bis heute niemand, was sie damals entwickelt haben. Geblieben ist nur ein Name: X-44. Dachten wir. Bis vor zwei Wochen. Denn der Bomber – wurde nicht vor Peenemünde abgeschossen, sondern vor Warnemünde. Das Flugzeug wurde geborgen, die Waffe aber trotz intensivster Suche nie und irgendwann geriet das Ganze in Vergessenheit.“
Er schwieg einen Moment, schloss die Augen, dann riss er sie wieder auf und stieß hervor: „Ich muss wissen, was da unten geschehen ist!“
Es gab einige Psychologen hier im Lazarett, mit Doktortiteln und mit Erfahrung, doch nicht sie saßen hier, sondern Winfried und er wusste jetzt, warum. Keiner von ihnen hätte sich das bis zu Ende angehört. Ohnehin war er mit diesem Wissen erledigt. Natürlich, ihm stand jetzt wahrscheinlich eine Tür zu einer großartigen Karriere im Staatsapparat offen – genau das, was er nicht gewollt hatte.
Er stand auf. „Ich bin weder Folterknecht noch Verhörspezialist. Fischen Sie sie aus Ihrer eigenen Jauchegrube. Das Gespräch ist beendet.“
Müller sprang auf, stützte die Hände auf den Tisch und fixiert Winfried mit zu einem Spalt zusammengekniffenen Augen. „Sie junger, arroganter Schnösel! Sie sollen ihn nicht ausquetschen. Sie sollen ihm das Leben retten! Das Labor, in dem diese fürchterliche Waffe hergestellt worden ist, lag in der Sowjetunion! Man hat dort eine Massenvernichtungswaffe hergestellt und wenn das herauskommt, in der jetzigen Weltsituation ... das wird man niemals zulassen. Mann wird ihn umbringen, wenn er redet! Und das sollen Sie ihm in den Schädel hämmern.“
„Und wenn er den Mund hält, ist er ein zweifacher Mörder! Warum sagen Sie es ihm nicht selbst?“ Auch Winfried beugte sich über den Tisch.
„Weil ich es nicht darf!“, brüllte Müller und beide starrten sich an wie zwei Stiere vor dem Aufeinanderprallen der Schädelplatten.
Nach ein paar Sekunden fuhr er sich mit der Hand über die Augen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Entschuldigung. Ich habe mich wohl gehen lassen. Es ist aber tatsächlich so – er darf nicht einmal wissen, dass es mich gibt, die Gründe dafür will ich Ihnen nicht sagen, ich habe Sie schon viel zu tief hineingezogen und das tut mir leid für Sie. Wie dem auch sei – verbringen Sie so viel Zeit mit ihm wie möglich. Er muss es begreifen. Achten Sie auch auf das Personal, ob da neue Leute dabei sind. Ich hole nachher seinen Vater aus Berlin ab. Gerade zu ihm darf er nicht reden, das würde in einer Katastrophe enden. Gott sei Dank wird er erst morgen früh aufwachen, hat man mir versichert und bis dahin ist sein Vater wieder weg. Dann müssen Sie bei Ihrem Patienten sein und mit ihm reden. Sein Vater und ich werden eine Lösung finden für ihn, damit er wieder ein normales Leben führen kann, aber wir brauchen Zeit dafür und genau die sollen Sie uns verschaffen. Tatsächlich bin ich wahrscheinlich der Einzige, der ihn da heraus holen kann, ohne das man ihm das, was da unten geschehen ist, als Mord anhängt.“
Der Gefühlsausbruch Müllers ließ Winfried kalt. Doch an der Logik in seinen Worten konnte er nicht so ohne Weiteres vorbei. Andererseits war es eben genau das - laute, warme Luft, und sein Diplom wäre keinen Pfifferling wert gewesen, wenn er nicht wenigstens das verstanden hätte. Einiges sprach für Müller, aber eines in jedem Fall gegen ihn.
„Dazu hätten Sie mir die Akte nicht zu lesen geben müssen“, sagte Winfried. Hingesetzt hatte er sich nicht wieder.
Müller nickte wieder er. Es schien seine liebste Beschäftigung zu sein. „Natürlich nicht. In einem System wie dem unseren macht die Seite den Unterschied aus, auf die man sich stellt. Ich habe Ihnen einen Einblick gegeben. Sie haben studiert und mir damit eine Menge voraus, auch wenn es Ihnen Flausen in den Kopf gesetzt hat. Aber wenn Vater Staat das Geld für Sie nicht umsonst ausgegeben hat, wissen Sie, das Gut und Böse nur eine Frage des Standpunktes sind. Oder anders gesagt, es sind keine Kategorien zur Bewertung der objektiven Realität. Denn in der ist nur eines real und das mit absoluter Sicherheit: Täter und Opfer. Das gilt für jeden Staat der Welt, jenseits und diesseits des Atlantiks, für jedes System und es wird immer so sein. Entscheiden Sie, wer davon Sie sein wollen.“