15.03.2029, morgens - Siopi
Aua…
Die Kopfschmerzen, die mich überfallartig packen, als ich erwache, wecken in mir den Wunsch, gleich wieder einzuschlafen. Aber das geht nicht, denn ich spüre, dass etwas nicht in Ordnung ist. Nicht nur eine Sache, nein. Gleich mehrere.
Wo bin ich? Was ist nur passiert? ich blinzele und wage einen Blick. Das ist eines der Zimmer im Heilerhaus. Warum bin ich im Heilerhaus? Hatte ich einen Unfall? ich schließe wieder meine Augen und versuche nachzudenken, soweit es die Kopfschmerzen zulassen.
Weggelaufen. Ja, stimmt. Da war der Tumult im Gemeinschaftsraum gewesen. Die Spaghettis. Walburga, die so ungerecht zu mir gewesen war. ich hatte Teller vom Tisch geworfen. Und dann war ich fortgelaufen, hin zu dem einzigen Versteck, das ich noch hatte, seit der Dugann in meine Fischerhütte eingezogen war.
Moment… Da war noch etwas. Dugann! Er ist weg. Hat mich allein gelassen und Pokus mitgenommen, Pokus, der einzige Freund, den ich in Elfengarten hatte. Woher weiß ich das? Hat man mir das gesagt? ich war doch gar nicht wach, seit ich im Versteck eingeschlafen bin.
Aber dennoch bin ich mir sicher. ich muss es im Traum gesehen haben.
Geträumt habe ich viel. Was davon Wirklichkeit ist, werde ich wohl bald feststellen. Subotai, der besorgt durch den Flur des Heilerhauses ging. Besorgt und… bestürzt, aber nicht wegen mir. Etwas Anderes hatte ihn erschüttert. Und dann hatte er zu mir gesprochen, aber ich hatte mich wieder zurückgezogen, denn ich war ihm nicht willkommen, als ich ihm von Duganns Verrat erzählen wollte.
„Hilf mir, verdammt, oder lass mich frei!“ hatte er gesagt. Wie sollte ich ihm helfen? ich bin nur ein Kind, wie sollte ich bei einem Angriff…
Moment! Was für ein Angriff? Weitere Bilder blitzen in meinem Kopf auf. Oder… nicht so sehr Bilder, eher die Erinnerung an… Geräusche. Und wieder dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmt.
Noch jemand ist hier im Heilerhaus, krank, ganz schlimm krank. Aber ich kann nicht erkennen, wer. Jemand, den ich sehr mag. Subotai? Nein, ihn habe ich gespürt, er hat zu mir gesprochen. Wer sonst? Zeit, wirklich wach zu werden. ich öffne meine Augen und setze mich auf.
Uff. Damian steht an meinem Bett. Den will ich gerade wirklich nicht sehen, aber er kann mir sagen, was hier los ist. ich räuspere mich.
„Was ist passiert?“ Dumm, Siopi, wirklich dumm. Er wird gleich wieder annehmen, dass du dich einmischen willst…
„Ah, wieder wach, ja?“ Er greift nach meinem Handgelenk, fühlt meinen Puls. Der müsste rasen, so schlimm sind die Kopfschmerzen, so sehr hat mich die Unruhe gepackt. „Du hast mal wieder ganz schön für Aufruhr gesorgt. Aber nun geht es dir wieder besser und bald kannst du zurück in dein Zimmer im Kinderhaus.“
Ins Kinderhaus? Niemals! Dahin gehe ich auf keinen Fall zurück, lieber laufe ich wieder weg!
„Wer…“ Nein! Nicht zeigen, dass du etwas weißt, dumme Kuh! Stell dich dumm, so erfährst du mehr! Sorg dafür, dass er weiterredet, vielleicht erzählt er dir alles von alleine!
„Wie bin ich hierhergekommen?“
Damian gibt einen abschätzigen Laut von sich. Er mag mich nicht, das weiß ich. Hohe Mutter meint, dass er Angst vor mir hat, weil ich viel mehr kann als er. Aber aufgepasst nun, er redet!
„Nachdem du im Gemeinschaftsraum randaliert hast, hast du dich versteckt. Hast dich wohl nicht zurück ins Kinderhaus getraut, weil du wusstest, dass du dafür eine empfindliche Strafe zu erwarten hast. Na, die wird wohl immer noch auf dich warten, wenn wir dich endlich dahin zurückschicken können. Man hat dich natürlich gefunden und weil du dich zu allem Überfluss auch noch unterkühlt hast, musstest du erst einmal hier bleiben.“ Er fühlt meine Stirn, hört meine Brust ab, macht all diese Dinge, von denen ich weiß, dass sie gar nicht nötig sind. Es geht mir gut, bis auf die Kopfschmerzen.
„Kann ich etwas gegen meine Kopfschmerzen haben? Es tut so schrecklich weh“, frage ich und sein grimmiger Blick lässt mich fast zurückschrecken, aber ich halte seinem Blick stand.
„Für so etwas haben wir gerade keine Zeit“, erwidert er streng. „Wir müssen uns um die hohe Mutter kümmern, der geht es viel schlechter als dir, da wirst du dein bisschen Kopfweh mal aushalten müssen. Bleib im Bett und ruh dich aus. Ich schaue später nach dir, dann werden wir weitersehen.“
Er verlässt mein Zimmer, bevor ich noch weitere Fragen stellen kann.
Hohe Mutter! Und sie ist es, die so krank ist, dass ich sie nicht einmal erkennen konnte? Geschweige denn erreichen! Mir wird angst und bange.
„ich muss mal!“ rufe ich Damian noch hinterher und zucke zusammen, denn meine eigene Lautstärke lässt den Kopfschmerz wieder anschwellen. „Ich schicke dir Lerau mit einer Bettpfanne“, wirft er mir über die Schulter zurück. „Bleib in deinem Zimmer!“ Und dann ist er ganz verschwunden.
Mürrisch liege ich da, verärgert über Damian und seine unmögliche Art mir gegenüber. Auch wenn er mich nicht mag, so benimmt sich doch kein Heiler einer Kranken gegenüber! Aber dann fällt mir sofort wieder ein, dass es hohe Mutter bestimmt schlimmer als mir geht. ich muss wissen, wie es um sie steht!
Lerau kommt herein lächelt flüchtig und reicht mir die Bettpfanne – und ein Glas, in dem eine blassfarbige Flüssigkeit schwappt. Dann hat Damian wohl doch etwas für meine Kopfschmerzen bringen lassen. ich lächele zurück und bedeute ihr, dass ich für mein „Geschäft“ lieber allein wäre. Dann warte ich, bis sie endlich aus meinem Zimmer ist. ich stehe leise auf, schleiche zur Tür, horche. Ob sie wohl hinter der Türe darauf wartet, dass ich mich melde?
„Lerau, ich brauche dich hier!“ Damians Worte bestätigen meinen Verdacht, aber die raschen Schritte, die sich entfernen, bedeuten mir, dass ich es wagen kann, mein Zimmer zu verlassen. Also öffne ich die Türe, schlüpfe hinaus auf den Flur und achte darauf, dass die Tür noch nicht einmal ein Klicken von sich gibt, als ich sie schließe. Damians Stimme war weiter entfernt gewesen und ich erinnere mich, dass in dem Zimmer direkt mir diese Frau mit der fürchterlichen Verletzung im Gesicht liegt. ich war ja einmal da gewesen, als die hohe Mutter mir erlaubt hatte zu helfen.
Wie es ihr wohl geht? Vielleicht sollte ich einmal ganz kurz dort hineinschauen…
Sie sitzt in ihrem Bett, der Blick zur Tür, zu mir gewandt. Offensichtlich geht es ihr wieder sehr gut. Die Narben heilen schneller als es gut für sie sind. Je langsamer sie heilen, desto leichter wären sie mit Salben zu behandeln, denke ich mir. Dann würden sie nicht ganz so schrecklich aussehen.
„Du bist wieder wach, das ist gut“, plappere ich los, ganz entgegen meiner üblichen Gewohnheiten. „Dann müssen sich die Heiler nicht so viel um dich kümmern, jetzt, wo es hohe Mutter so schlecht geht. Jemand hat sie angegriffen, aber mehr weiß ich nicht.“ ich stocke, denn es fällt mir ein, dass ich doch mehr weiß. „Aber ich weiß auch, dass sie nicht nur schläft… sie… sie ist weiter weg als im Schlaf.“
Die Augenbraue auf der gesunden Hälfte ihres Gesichtes zieht sich hoch, aber sie erwidert nichts.
„Ach ja, der Kieferbruch, du kannst ja nicht sprechen“, entfährt es mir. „ich kann hohe Mutter spüren, ob sie nun wach ist oder schläft. Und ich kann dann auch mit ihr reden, verstehst Du?“
Wieder diese hochgezogene Augenbraue, dann ein zögerndes Nicken. „Dachte ich mir“, und es ist tatsächlich so. Die Frau weiß, was ich meine.
„Mit Dugann ging das nicht, aber mit Pokus, seinem Hund. Der hat mich immer verstanden. Pokus ist…“ ich stocke wieder. „Er war mein Freund. Aber Dugann ist gegangen und hat ihn mitgenommen und ich bin wieder ganz allein.“ ich muss mich anstrengen, damit ich nicht anfange zu weinen.
Irgendwie scheint die verletzte Seite ihres Gesichtes mir mehr zugewandt zu sein und weicher zu werden. Noch ein Rätsel.
„ich sollte gar nicht hier sein. Eigentlich wollte ich zur hohen Mutter um zu sehen, was ihr passiert ist, vielleicht kann ich helfen, aber Damian will das nicht. Er hat mir sogar befohlen auf meinem Zimmer zu bleiben.“
„Was du offensichtlich missachtet hast!“ Beim anklagenden Ton von Damians Stimme fahre ich herum. Verdammt! Er hat mich erwischt, während ich hier meine Zeit bei dieser Frau verschwendet habe, statt nach der hohen Mutter zu sehen. Er hat sich vor mir aufgebaut, die Hände in die Hüfte gestemmt. In der einen hat er die Bettpfanne, die Lerau mir gebracht hatte. Das war es…
„ich wollte lieber auf die richtige Toilette gehen“, maule ich trotzig, aber er packt mich grob am Arm und zerrt mich zu meinem Zimmer zurück.
"Das hast du dir jetzt gründlich verdorben, du ungezogenes Gör!“ Er schimpft weiter, schiebt mich in mein Zimmer und drückt mir die Bettpfanne in die Hand. Dann wirft er die Tür zu. ich höre einen Schlüssel, der sich ins Schloss schiebt, ein Schnappen von Schließmechanismen – er hat mich eingeschlossen!
„Das kannst du doch nicht tun!“ brülle ich und rüttle an der Tür. „Das ist…“ mir fällt das Wort nicht ein, „verboten! Dafür gibt es ein Gesetz! Freiheitsberaubung, ja, genau!“ Wir hatten das in der Schule gelernt. Wenn man jemanden ohne Berechtigung einsperrt, ist das verboten. Aber auf der anderen Seite der Tür bleibt es still. Offenbar hat Damian beschlossen, dass ich seine Zeit verschwende.
Wieder werde ich ausgeschlossen. Ausgeschlossen durch Einschließen, fährt es mir durch den Kopf und ich lache bitter auf. Dann entfährt mir ein wütendes Brüllen, das mich selbst erschreckt.
Wer ist das da, in mir? Schon wieder werde ich so wütend, dass ich mich nicht beherrschen kann! Das bin doch nicht ich…
Verzagt setze ich mich auf mein Bett. Was passiert hier gerade? Was passiert mit Elfengarten, der mir immer als ein sicherer Ort vorgekommen war? Was passiert mit mir, von der immer alle als Sonnenschein reden?
„Wir werden angegriffen!“ Subotais Stimme klingt in meinem Kopf.
Offensichtlich ist der Angriff, den er meint, nicht der einzige.
Müde rolle ich mich auf dem Bett zusammen. ich suche nach der hohen Mutter, aber ich kann sie nicht finden. Sie ist zwar da, aber so weit entfernt, dass ich sie nicht rufen, nicht erreichen kann. Es ist so, wie ich es der Frau im Nebenzimmer erklärt habe. Sie ist weiter weg als sie es je zuvor war. Sie ist an einer Schwelle, kämpft mit sich, ob sie hinübergehen oder umkehren soll.
„Kehr um! Wir brauchen dich hier!“ ich rufe es ihr in Gedanken zu, aber sie scheint es nicht zu hören. Vielleicht, wenn ich meine Hand auf sie legen könnte, dann. Aber das geht gerade nicht, denn Damian hat mich hier eingeschlossen und wacht wie ein Schießhund darüber, dass ich nicht in ihre Nähe komme.
Meine Gedanken schweifen zu der Frau mit den Narben im Gesicht. Als die eine Seite so weich geworden war, hatte ich den Wunsch gehabt, meine Hand darauf zu legen. Sie zu streicheln, zu halten. Vielleicht könnte ich ihr ein bisschen von dem Schmerz nehmen, den ich bei ihr gespürt habe, allein dadurch, dass ich meine Hand auf ihre Wange lege?
„Tu das nicht.“
Erschrocken fahre ich auf. ich kann sie hören! Eine raue Stimme, die das Sprechen nicht mehr gewöhnt ist. Aber angenehm wird sie sein, sobald das Kratzen fort ist, dessen bin ich mir sicher.
„Warum nicht? ich will dir doch nur die Schmerzen nehmen.“
„Schmerzen sind nicht mein Problem, kleines Mädchen. Du hast schon genug für mich getan.“
Sie weiß also, dass ich ihr geholfen hatte, damals, als alle um ihr Leben kämpften.
ich zucke mit den Schultern, so, als könne sie das sehen. „Es gibt immer noch etwas zu tun.“
„Und was?“ Nun klingt die Stimme belustigt. “Willst Du mir vielleicht, erklären, warum mir unsere `Unterhaltung` hier mehr als seltsam vorkommt? Ich meine, ich unterhalte mich mit einem Kind …in Gedanken!“
„Naja, ich wollte eigentlich bei der hohen Mutter helfen“, entgegne ich traurig. „Aber Damian hat mich eingeschlossen.“
„Er hat was?“ Ungläubigkeit, Empörung.
„Er hat mich eingeschlossen und will mich erst wieder herauslassen, wenn jemand vom Kinderhaus mich abholt. Aber dahin gehe ich nicht zurück!“ erkläre ich ihr entschlossen. „Die Kinder dort hassen mich. Sie sind gemein zu mir und Walburga tut immer so, als würde ich es sein, die gemein zu den Kindern ist, nicht umgekehrt!“
Und außerdem hat sie mir meine Freunde weggenommen, denke ich. Obwohl sie bei einer solchen Anklage höhnisch auflachen würde. „Freunde?“ würde sie mir sagen, „Du hast keine Freunde. Das sind erwachsene Menschen, die Mitleid mit einer kleinen verwahrlosten Göre haben und du stielst ihnen ihre Zeit!“
Vermutlich hatte sie recht.
„Nein, hat sie nicht.“ Die Gewissheit in der Stimme der Frau nebenan erschreckt mich. Hat sie meine Gedanken belauscht? Kann sie das?
„Kleine, ich weiß zwar nicht, was da zwischen uns beiden ist, aber im Moment redest du mit mir in deinen Gedanken, also höre ich alles, was du denkst“, erklärt sie mir und fährt dann fort: „Keine Ahnung, wie jemand darauf kommt, dass Du zu anderen gemein sein könntest. Ich kenne Dich nicht, aber ich weiß, dass Du helfen willst. Ganz uneigennützig. Und wenn´s Dir hilft: Ich habe mitbekommen, in welch großer Sorge alle um dich waren, als du krank warst. Es kamen oft Menschen um zu sehen, wie es dir geht. Das macht niemand, der dich nicht mag.“
Vielleicht hat sie recht. Wenn das so ist, habe ich vielleicht doch noch eine Chance. ich lächele.
„Wie heißt du überhaupt? ich bin Siopi“, sage ich. ich kann ja nicht immer von „der Frau“ reden oder denken.
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortet sie ausweichend. „Nenn´ mich einfach Blackbird.“
„Oh, das ist hier völlig okay! Alle hier haben solche Spitznamen!“
„Siopi, was willst Du jetzt machen?“ Sie klingt interessiert.
„Erst einmal muss ich hier heraus. Und dann suche ich…“ Subotai, durchfährt es mich. Wenn hohe Mutter krank ist, bleiben nur Fiona oder er. Fiona hat nicht seine Macht; wenn mir also jemand helfen kann, dann er!
Kurzes Schweigen, dann antwortet mir die Frau, die sich den Namen Blackbird gegeben hat.
„Ich könnte dich aus deinem Zimmer holen, Kleines. Du könntest mit mir einen Rundgang durch Euer Dorf machen, das hilft mir, mich hier zurechtzufinden und du könntest sehen, ob du diesen Subotai findest.“
Hoffnung steigt in mir auf.
„Abgemacht! Dem doofen Damian zeigen wir’s!“ jubele ich innerlich und wir besiegeln den Pakt durch ein gedankliches Lachen.