Planetarium
Emil stocherte mit einem Ast neugierig in diesem riesigen Ameisenhaufen am Waldrand herum. Emil war ein sonderbar einsames Kind, das nicht zuhause vor einer vernetzten, digitalen Spielekonsole verkümmerte. Sehr zum Leidwesen seiner Mobilfunkeltern war er ständig draußen unterwegs und interessierte sich tatsächlich für die Natur der ländlichen Region, in der er in einem neu zusammengeklebten Einfamilienreihenhaus zusammen mit zwei Schwestern und den selten geistig anwesenden Eltern aufwuchs.
Emil wusste schon mit seinen 13 Jahren Lebenserfahrung, dass die Kante zum Wahnsinn stets scharf war wie die Klinge der Rasiermesser, die er zum Glück noch nicht brauchte. Seine Mutter, alles andere als eine Glucke, was ihm eine gewisse Freiheit verschaffte, war eine angesehene Person in der kleinen Ortschaft. Jedenfalls konnte sie das so lange bleiben, so lange kein Mensch davon erfuhr, dass sie manchmal heulend am Küchentisch saß und heimlich die Schnapsflaschen leerte, die scheinbar wie von selbst aus dem Vorratsschrank wuchsen.
Emil wünschte sich einen Gefährten herbei – oder eine Gefährtin. Irgendjemanden musste es doch auf dieser Welt geben, mit dem oder der er seine Interessen für die Natur, den Planeten und das Universum teilen konnte. Es konnte doch nicht sein, dass alle Kinder nur damit beschäftigt waren, in virtuellen Welten irreale Wesen zu jagen und sich gegenseitig über den Haufen zu schießen.
Es musste solche Kinder – oder Erwachsene - geben. Dessen war sich Emil sicher. Er hatte sie nur noch nicht gefunden. So wie diese Ameisen hier nicht wussten, dass vier Kilometer weiter eine weitere Brut ihrer Rasse einen eigenen Ameisenstaat gegründet hatten.
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„Nun, mein lieber Schlunz, das Ritual verlangt, wieder eine Sternenkugel aus dem System zu löschen, um neuen Experimenten Platz zu machen. Du hast sie alle beobachtet, du hast die Berichte der Gesandten ausgewertet. Welches Projekt würdest du vernichtet, um neuen Existenzen Platz zu machen?“
„Die Entscheidung fällt mir schwer, oh großer Gaaget, aber ich denke, es wird TRA-42 treffen, denn die Probanden dort schießen sich gerade mit vollem Ehrgeiz selber ins Aus. Dabei waren die Ansätze gar nicht so schlecht ...“
„Ihr meint diesen blauen Krümel, der schon seit einigen Dekaden um die Sonne Nummer 14 eiert?“
Raunen, Stöhnen und Gekicher ging durch das pangratisch-klangstabile Planetarium, in dem der Rat der Herrscher der Sonnensysteme zusammengekommen war.
„Ja. Einerseits gibt es dort durchaus intelligente Lebensformen, aber eine dominante Lebensform hat sich ungut entwickelt. Sie nennen sich selbst Mensch. Einige von ihnen sind hellsichtig und haben den Sinn ihres Daseins erkannt. Viele davon sind aber weit davon entfernt, die hohe Ebene des galaktischen Bewusstseins zu erreichen. Dabei halten sie sich für die einzige, intelligente Lebensform, nicht nur auf ihrem Stern, sondern im gesamten Existenzenraum.“
Jetzt brach tosendes Gelächter unter den über 100 Versammelten aus.
„Ihr habt Recht, sie sind lächerlich und könnten gerne verschwinden, wenn es nicht um die wenigen Ausnahmen so schade wäre. Als rosige Zwerge werden sie geboren. Sie halten sich zum ersten mal für intelligent, wenn sie es schaffen, sich nicht mehr mit ihren Verdauungsexkrementen einzuschmieren oder später den Knoten der Schnürsenkel ihrer Schuhe binden zu können. Dabei wurde mir nie klar, wozu sie diese Schuhe brauchen, denn sie haben ja Füße. Aber das nur am Rande …“
Es wurde still während Schlunz' Ausführungen. Man hörte nur das Ticken der gigantischen Sternenuhr, die in einem Magnetfeld über dem Planetarium scheinbar schwerelos schwebte. Es war bereits kurz nach Merkur und knapp vor Saturn. Die Versammelten wären gerne bald zum Ende gekommen.
„Nun gut, bevor wir das Experiment TRA-42 einstellen“, nutzte der große Gaaget die Pause für seinen Einwurf, „sind die Bewohner dort denn gefährlich für die anderen Sonnensysteme?“
„Nun, ihr edlen Versammelten aller Sonnen. Diese Menschen, die ihren Stern auch Erde, Welt, Earth, Mutter, Terra - und in verschiedenen Sprachen noch ganz anders nennen - sind nicht ganz ohne List und Tücke. Sie haben es schon geschafft, einen Großteil ihrer eigenen Mitbewohner von TRA-42 auszurotten. Das einst von uns komplett durchdachte und gut funktionierende, biosphärische System haben sie bereits komplett ruiniert. Sie schaffen es aber nicht, die materiellen Werte, die sie daraus gewinnen, auf alle Mitglieder gleich zu verteilen. Stellen Sie sich vor, hier käme einer rein mit einem großen Fass Schnabeldenk, von dem wir so gerne kosten, und würde das ganze Fass alleine leeren. Was wäre hier wohl los?“
Die versammelten Mitglieder protestierten lautstark und schwer entrüstet. Einige rempelten sich sogar an und rieben wütend ihre Nasen aneinander. Ihre Antennen begannen zu glühen, es braute sich ein telepathisches Funkgewitter im Planetarium zusammen.
„Bitte, beruhigt euch. Es ist nur eine Hypothese, wenn auch eine von unvorstellbarer Grausamkeit. Diese Menschen sind nicht alle schlecht, aber gehört werden dort nur die Lauten und Dummen. Ich will es Euch zeigen ...“
Schlunz machte eine kurze Bewegung mit sein drei rechten Armen. Im selben Augenblick bauten sich hinter ihm bewegte Bilder im Raum auf, die einfach so durch die Luft flirrten:
Eine Gestalt in weißen Gewändern und mit einem Lorbeerkranz auf dem Haupt erhob den Arm und unzählige Männer, die Köpfe in glänzendem Metall eingepackt, folgten ihm.
Schiffe legten an eine Küste an, auf den Segel große Kreuze. Horden von Männern verließen die Schiffe und überrannten ganze Städte, um ein Blutbad anzurichten. Sie mordeten alles, was ihnen in die Quere kam – Männer, Frauen, Kinder.
Ein kleiner Mann mit einem kleinen Bart unter der Nase erhob seinen rechten Arm und die Menschenmassen taten es ihm glücklich jubelnd gleich, während andere, zusammengequetscht in Waggons ohne Fenster, in langen Zügen abtransportiert wurden. Niemand im Planetarium verstand, worin da ein Sinn liegen könnte.
Mitten in einer Ansammlung fröhlicher, feiernder Menschen, explodierte plötzlich ein dunkelhaariger Mann mit langem Bart. Flugmaschinen bohrten sich in riesige, turmähnliche Gebäude, die sofort Feuer fingen und aus denen Menschen fielen, sprangen und rannten.
Ein besonders hässliches Exemplar Mensch mit einer seltsam wirren, gelben Kopfbedeckung schrie und wütete vor einem Stück Stoff mit roten und blauen Streifen und Sternen darauf. Die Versammelten des Planetariums erkannten sofort, dass hier ein großer Lügner am Werk war, umso mehr wunderten sie sich, wie viele, besonders dicke Menschen diesem Lügner zujubelten.
Die ersten Stimmen im Saal wurden laut:
„Weg mit TRA-42 ...“
„So was habe ich noch nicht erleben müssen!“
„Ist ja ekelhaft ...“
„Einstellen, sofort einstellen das Projekt“
„Nieder mit den Menschen!“
„Ruhe bitte“, beschwichtigte Schlunz den Saal, „um auf die Frage zurück zu kommen: Würde der Mensch auf der Erde bleiben, könnte er maximal sich selbst vernichtet und manch anderes Leben auf der Sternenkugel. Aber TRA-42 würde sich davon erholen.“
„So wie von einer Infektion der Kanastaar-Viren?“, fragte ein Mitglied dazwischen.
„Ja, so in etwa“, schmunzelte Schlunz und redete weiter:
„Die Gefahr, die von ihnen ausgeht: Sie haben Methoden entwickelt, ihr Sonnensystem zu verlassen. Seit einer Dekade arbeiten sie daran. Angeblich um das Universum zu erforschen, wie sie es nennen. Sie suchen nach weiteren, intelligenten Lebensformen. Dabei sind sie in ihrer Wahrnehmung zu eingeschränkt, diese zu erkennen. Sie denken einfach nur an Lebensformen aus Kohlenstoffverbindungen. Außerdem können sie sich nicht verständigen. Sie kennen zwar den Begriff der Telepathie, können sie aber nicht anwenden.“
„Dann würden sie die meisten von uns gar nicht wahrnehmen?“, fragte der große Gaaget.
„Stimmt. Aber das ist nicht das Problem. Die Suche nach fremden Existenzenräumen ist nur ein Vorhand. In Wirklichkeit wollen sie weitere Sterne ausbeuten, so wie sie TRA-42 ausgebeutet haben.“
„Hört sich alles danach an, als sollten wir TRA-42 umgehend sprengen“, räusperte sich der große Gaaget. Er schnaubte grüne Wolken durch sein vier Nasenröhren. „Aber erzähle uns doch noch kurz von den guten Exemplaren, die du bereits erwähnt hast.“
Schlunz seufzte funkensprühend: „Um die ist es wirklich schade. Aber die meisten von ihnen sind nicht mehr existent. Genetoplastisch setzen sich die Falschen durch. 'Survival of the fittest' nennen sie das. Lächerlich.“
Wieder bewegten sich Schlunz' Arme und eine neues Luftbild entstand. Man sah einen jungen Bewohner der Rasse, die sich Mensch nannte. Fasziniert betrachte er einen kleinen Hügel, auf dem sich tausende kleinerer Lebensformen wimmelnd bewegten.
„Dieses Frischexemplar hat das Zeug, dahin zu denken, wo wir die TRA-42-Bewohner gerne hätten. Er begreift gerade, dass Wahrnehmung immer nur begrenzt ist, es aber hinter diesen Grenzen noch mehr geben muss.“
„Dann sollte er diese Menschen ins Licht führen“, meinte Gaaget zustimmend.
„Das wird er nicht schaffen. Niemand wird auf ihn hören. Menschen wie ihn sperren andere Menschen weg oder sie füttern ihn mit psychoaktiven Substanzen, um seine Entwicklung zu stören. Ihm fehlt etwas, das die anderen, die dummen und lauten Anführer schon immer hatten. Sie nennen es Macht.“
„Und wir können nicht eingreifen und solchen Exemplaren zur Macht verhelfen“?
„Das wurde schon mehrmals versucht. Leider ohne Erfolg. Einen haben sie grausam gekreuzigt, andere verbannt, viele getötet. Dabei haben sie immer deren Lehren so verdreht, dass sie ihrem Machterhalt nützlich sind. Aussichtslos!“
„Gut. Dann stimme ich dafür, ein paar Exemplare der Guten zu retten und auf einem neuen Stern auszusetzen. Den Rest annullieren wir mitsamt Stern TRA-42 restlos. Ist jemand anwesend, der Einsprüche erheben möchte?“
Der große Gaaget erhob sich und klopfte mit einem knorrigen Stab, aus dessen oberen Ende funkelnde Sternchen schossen, auf den Boden …
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Eine ungewöhnliche Lichtveränderung entführte Emils Wahrnehmung vom geschäftigen Treiben der Ameisen. Dann hörten er ein Summen, welches langsam, aber kaum wahrnehmbar lauter wurde. Emil blickte nach oben in den Himmel. Die Farbe erschien ihm seltsam, es war nicht das tiefe Blau des heißen Sommertags. Er dachte kurz daran, ob er einen Sonnenstich haben könnte, während das Blau sich mehr und mehr zum Violett verschob.
Da war ein kleiner, schwarzer Punkt. Seltsam, eine Fliege, die in der Luft steht?, überlegte Emil. Der Punkt schien sich zu nähern. Er vergrößerte sich. Es war kein Punkt. Es war wie ein Loch in der Wahrnehmung. Außen der violette Himmel, innen nichts. Dann brach der Sturm los.
Emil fragte sich noch: „Vernichtung oder Erlösung?“
(by impotentia)