My funny Valentine
Als sie die steile Treppe hinunterschritt, die in den Gewölbekeller der Jazzbar führte, schwebten schon die ersten Saxofonklänge an ihr Ohr. Die Bar war noch halbleer, vereinzelt flüsterten Pärchen an schummrig beleuchteten Tischen miteinander. Andrea suchte sich einen Platz in einer Ecknische der Bar, von der aus sie den ganzen Raum überblicken konnte. Einige Mitglieder der Band stimmten ihre Instrumente. Der schwarze Saxofonist entlockte seinem Tenorsax quietschende Seufzer und vibrierende Thriller. Der Pianist schäkerte mit der Schlagzeugerin, bis diese den Kopf in den Nacken legte und schallend lachte. Was für ein Törtchen! Dachte Andrea und grinste in sich hinein.
Sie bestellte einen Gin Fizz und genoss das Vorspiel, das sich ihr auf der kleinen Bühne bot. Sie liebte Jazz in allen Varianten und hatte eine umfangreiche Sammlung zu Hause. Seit sie den kleinen Club entdeckt hatte, kam sie regelmäßig, um neue Bands zu hören.
Langsam füllte sich der Raum mit Gästen, auch die Bar belebte sich. Auch die Band war jetzt vollständig und spielte das erste Stück: „Petite Fleur“ in einer sehr eigenwilligen Interpretation, die vor allem der Saxofonist prägte, der seinem Instrument aufreizend schräge Tonfolgen entlockte. Auf seine freche, verspielte Art flirtete er intensiv mit dem Publikum.
Andrea saß mit roten Wangen vor ihrem Drink, den sie kaum angerührt hatte, fasziniert und begeistert. Das Stück war schon fast zu Ende, als sich ein weiterer Gast an ihr vorbeischob und dem Barkeeper zuwinkte. Er kam ihr bekannt vor, dieser große, schwarz gekleidete Mann, der sich jetzt zum anderen Ende der Bar begab und sich ihr schräg gegenüber setzte. Tiefliegende, dunkle Augen und ein grauer Dreitagebart gaben seinem Gesicht einen düsteren Ausdruck. Er spürte ihren Blick und sah zu ihr hinüber, mit einer fast fiebrigen Intensität. In seine Ecke zurückgelehnt, hielt er sein Whiskyglas fest und schloss die Augen.
Die Band spielte fantastisch, das Publikum war hingerissen. Andrea sah ab und zu hinüber zu dem dunklen Mann, dessen Gesicht kaum eine Regung erkennen ließ. Eine Aura von Wehmut und Melancholie umgab ihn, so dunkel und schwer, dass nichts zu ihm durchzudringen schien außer der Musik.
In der Pause bemerkte Andrea, dass sich der Saxofonist der Band zu dem schwarz gekleideten Mann gesellt hatte und lebhaft auf ihn einredete. Die beiden schienen sich gut zu kennen. Dann trat eine blonde, blasse Frau im silbernen Abendkleid zu den beiden Männern. Sie lehnte sich an den Mann in Schwarz und lächelte den beiden zu. Die Männer fuhren mit ihrer Unterhaltung fort, ohne sie zu beachten. Dabei sah sie so strahlend aus in ihrem funkelnden Pailettenkleid! Sie war wirklich eine Erscheinung. Andrea reckte neugierig den Kopf, um die Szene genauer beobachten zu können, doch die Frau war ebenso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Verwirrt sah Andrea sich um und scannte mit ihren Blicken den Raum ab. Doch die glamouröse Blondine war wie vom Erdboden verschluckt.
Die Musiker kamen auf die Bühne zurück und spielten „My funny Valentine“. Die Melodie dieses Stück spülte plötzlich sehr emotionale Erinnerungen hoch an laue Sommerabende am Atlantik, wo sie den letzten Urlaub mit ihrem Exfreund verbracht hatte. Der Saxofonist intonierte die Melodie so herzzerreißend, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Fast konnte sie wieder die salzige Meeresbrise auf ihrer Haut spüren und die Illusion einer immerwährenden Liebe – nein, stopp, Andrea, halte diesen Film an! Mit Wucht kamen Emotionen in ihr hoch, über die sie hätte längst hinweg sein sollen – so dachte sie jedenfalls. Sie sah hinüber zum anderen Ende der Bar. Der einsame Wolf in Schwarz war ebenfalls völlig in die Musik versunken. Er saß ganz still und sah auf den Grund seines Whiskyglases.
Nach weiteren Zugaben verabschiedete sich die Band und packte die Instrumente ein. Andrea trank ihr Glas aus und bemerkte, dass der Mann in Schwarz sie ansah. Er nickte ihr zu und lächelte. Aus einem Impuls heraus erhob sie sich und ging zu ihm hinüber.
„Du bist auch öfter hier, nicht wahr? Ich bin Andrea, darf ich mich einen Moment zu dir setzen?“
Der Mann nickte: „Ja, sicher! Ich heiße Christopher. Darf ich dich zu etwas einladen?“
Als ihre Drinks kamen, sagte er: „Bis vor zwei Jahren war ich noch Manager dieser Band. Das waren sehr schöne Zeiten.“ Er lächelte etwas gequält.
Sie prosteten sich zu. Andrea gab sich einen Ruck, sie musste ihn jetzt einfach fragen. „Sag mal, Christopher, ich möchte nicht aufdringlich sein, doch ich würde dich gerne etwas fragen. In der Pause sah ich dich mit einer blonden Frau zusammen an der Bar stehen. Ich hab mich gefragt, ob sie vielleicht auch zur Band gehört hat… ? Sie sah bezaubernd aus in ihrem silbernen Kleid und ...“
Noch bevor Andrea ihren Satz beenden konnte, bemerkte sie, wie Christophers Gesichtszüge entgleisten. Seine höfliche Freundlichkeit wich fassungslosem Entsetzen.
„Wen hast du da gesehen? Das kann nicht sein! Ich saß die ganze Zeit allein an der Bar.“ Er starrte sie an, ungläubig und schockiert.
Andrea wich ein Stück zurück. „Entschuldige bitte! Ich bin manchmal einfach zu neugierig … und es geht mich ja auch gar nichts an“, murmelte sie betreten, schon auf dem Rückzug.
„Aber es interessiert mich nun doch, Andrea“, sagte Christopher und zog sein Handy aus der Hosentasche. „Wie sah die Frau denn aus, die du an der Bar gesehen hast? So vielleicht?“
Er zeigte ihr ein Foto von einem Auftritt der Band. Der Saxofonist stand mit einer zerbrechlich wirkenden Frau im roten, engen Kleid auf der Bühne. Die beiden waren offensichtlich ganz in ihrem Element. „Aber ja, das ist sie!“ Andrea nickte begeistert. „Sie ist also auch Musikerin!“
Christophers eindringlicher Blick war schwer zu deuten. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor er antwortete. „Das ist Claire, meine Frau. Du hast recht, sie war Sängerin dieser Band, zumindest bis vor zwei Jahren.“
Andrea war plötzlich sehr seltsam zumute. Sie fror, als hätte sie eine eiskalte Hand gestreift. Intuitiv wusste sie, wie die Geschichte ausgehen würde. Und doch hoffte sie inständig, dass sie dieses eine Mal falsch liegen würde mit ihren Ahnungen.
Christopher räusperte sich und fuhr dann fort, seine Stimme klang rau.
„Vor zwei Jahren war Claire auf der Höhe ihrer Karriere, sie hatte eine fantastische Altstimme.“
Er sah auf und dieses Mal schlug ihr die Trauer in seinem Blick ungebremst entgegen. Andrea hielt den Atem an. Ihre Intuition hatte sie also nicht getäuscht. „Andrea, es kann nicht sein, dass du Claire heute hier gesehen hast. Sie starb vor zwei Jahren bei einem Autounfall.“
Andrea sah ihn mitfühlend an. Sie bereute zutiefst, dass sie das Thema angeschnitten hatte. Bevor sie etwas erwidern konnte, legte Christopher seine Hand auf ihren Arm und sagte leise: „Ich bitte dich, bleib noch ein wenig. Claire hätte sich sicherlich gefreut, dich kennenzulernen.“
Musik: Archie Shepp und Annette Lowman, My funny Valentine
IntoTheWild63, 04.06.2023