Der Weihnachtsmann feiert Silvester
Endlich war der ganze Stress vorbei. Kein „Ho, ho, ho!“ mehr für die nächsten 11 Monate. Nicht mehr sich selbst in unzähligen Kopien auf den Straßen herumlungern sehen, keine ach so humorvollen Kinofilme mehr über sein vermeintliches Versagen und die hilfreichen Menschlein, die das Weihnachtsfest retten mussten. Diese ganzen unnützen, überholten Traditionen, die von dem Großteil der Menschen nur noch als „kommerzsteigernde Werbeaktionen“ angesehen wurden, bestenfalls noch zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens. Dieses Übermaß an Feinkost, die nicht mehr qualitativ, sondern höchstens noch quantitativ in sich hineingestopft wurden, nur damit man am letzten Tag des Jahres feststellte, dass die festlichen Gewänder nicht mehr passten – und wem gab man Schuld? Nicht etwa dem eigenen, haltlosen Benehmen während der Feiertage, nein“ Es war das Weihnachtsfest, was dafür Rechnung tragen sollte!
Und überhaupt: Nutzlose Geschenke an missratene Kinder und ungläubige Erwachsene - die den Großteil ihrer Gaben eh wieder umtauschten - verteilen, verbrannte Plätzchen mit viel zu stark gesüßtem Kakao hinunterwürgen, die Popsongs, die nur durch das Wort „Christmas“ und ein bisschen Glöckchengebimmel noch an weihnachtliche Lieder erinnerten – all das hing dem lieben Weihnachtsmann schon seit Jahrzehnten zum Hals raus.
Aber wen kümmerte es schon, wie es dem Weihnachtsmann ging, solange die Geschenke pünktlich unter dem Tannenbaum lagen?
Nun, ihn kümmerte es! Und deswegen genoss er es durchaus, nach dem alljährlichen Großputz der Weihnachtswerkstätten und seines privaten Stollens in dem stillgelegten Teil seines Weihnachtsbergwerkes eine besinnliche Party zu feiern, bei der er all das machen konnte, was ihm gefiel!
Morgens ging er daher in die Küche und bereitete sich ein kleines Buffet, nur für sich allein vor. Salate, Obst, kleine Käsestückchen. Selbst gebackenes Kümmelbrot und auch noch ein herrlich weicher Stuten. Eine schmackhafte Gemüsesuppe zum Aufwärmen, denn auch er brauchte täglich etwas Warmes im Bauch.
Nachdem das alles erledigt war, schmückte er seine Wohnstube mit den schönsten, anrührendsten Wunschzetteln, die ihn auch im nächsten Jahr für seine Arbeit motivieren sollten. Dann legte er den Kalender für das folgende Jahr bereit, den er um Mitternacht feierlich aufhängen wollte.
Dann machte er einen ausgiebigen Spaziergang durch sein Reich, besuchte seine Wichtel, gab den Rentieren eine Extraportion Heu und verschwand dann für Stunden im Tannenwald. Es roch hier so gut. Nach Tannengrün, nach feuchter Erde, nach Schnee. Und nach… Zimtsternen?
Wie konnte das sein?
Ah… es dämmerte ihm. Das musste Christine sein. Christine, die das ganze Jahr über Weihnachten feierte. Sie, die nie genug von diesem Fest bekommen konnte, und das schon länger, als es ihn überhaupt gab. Wie von Magie angezogen bewegte sich der Weihnachtsmann zu ihrer Hütte hin.
„Nur herein, Weihnachtsmann!“ Christines weiche Stimme erklang unmittelbar, nachdem er an ihre Türe geklopft hatte. Zögernd trat er ein, zog seine rote Mütze vom Kopf und räusperte sich ausgiebig.
„Noch immer Zimtsterne, Christine?“, seine Stimme war trotzdem noch etwas rau. So oft sprach er nicht, und nach der langen Wanderung durch die Kälte waren seine Stimmbänder eh etwas belegt.
„Natürlich backe ich Zimtsterne, lieber Weihnachtsmann. Gibt es denn ein schmackhafteres Dessert als das?“ Ihr Lächeln war so betörend wie eh und je, trotz der unzähligen Runzeln in ihrem Gesicht. Langsam stand sie auf und schlurfte zu ihrem Ofen. Als sie die Klappe öffnete, intensivierte sich der Geruch des weihnachtlichen Gebäckes. Nur bei Christine rochen die Zimtsterne so. Nach Weihnachten, eben. Nicht nach Rezepten, nach Backzutaten oder gar nach Fabrik. Sie rochen nach Bienenwachs auf Tannenzweigen. Nach Orangen und Äpfeln auf Weihnachtstellern. Nach Freude und Liebe. Und genau so schmeckten sie auch.
„Hast du denn immer noch nicht genug von diesem Fest?“ Weihnachtsmann wehrte sich gegen diese guten Gefühle, die er eben nicht mehr mit dem Fest verbinden wollte. „Sie feiern doch gar nicht mehr Liebe und Frieden. Sie feiern sich selbst, und Liebe steht maximal als Dankeschön oder Bestechungsversuch für schöne Geschenke auf dem Spielplan.“
Ihr Lachen klang glockenhell. Wie hatte sie sich in all den Jahrhunderten eine so junge Stimme bewahren können? „Alter Mann. Ich glaube, es wird Zeit für dich, in Rente zu gehen. Ich werde mich auf die Suche nach einem Nachfolger für dich begeben. Nächstes Weihnachtsfest kannst du ihn dann anlernen.“ Christines Stimme klang auf einmal sehr fest, nicht mehr kindlich oder naiv.
„Warum? Bist du mit meiner Arbeit nicht mehr zufrieden?“ Man sah dem Weihnachtsmann an, wie sehr ihn diese Wendung schockierte.
„Nicht ich bin nicht mehr zufrieden, lieber Weihnachtsmann. Du bist es nicht. Und das führt dazu, dass du keine Freude mehr bereiten kannst. Weder anderen, noch dir selbst.“ Ihr nachdenklicher Blick ruhte auf ihm. „Es ist Zeit, abzutreten.“
„Abtreten… geht das denn so einfach?“
Christine nickte und lächelte. „Natürlich. Wenn ich das so entscheide, geht das so einfach. Warum sollte ich die Menschen und dich mit einem Weihnachtsmann quälen, der seine Rolle nicht mehr ausfüllen will?“
Während sie sprach, wuchs in ihm die Erkenntnis, dass sie recht hatte. Ein Gefühl der Erleichterung durchzog ihn und er brach in befreites Gelächter aus. „Ho, ho, ho! Da magst du wirklich recht haben! Lass jemand anderes seine Freude an dem Fest haben, da unten auf der Erde wirst du garantiert einen guten Ersatz für mich finden. Ich werde mich aufs Altenteil zurückziehen.“ Sprachs und wandte sich um zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen. „Darf ich dich denn weiterhin besuchen?“
„Aber natürlich darfst du das. Du darfst sogar heute Abend mit mir und den anderen Silvester feiern, wenn du magst.“
„Den anderen? Wen meinst Du?“
Doch Christine lächelte nur geheimnisvoll. „Du wirst schon sehen…“
Der Weihnachtsmann eilte nach Hause und bereitete sich ein heißes Bad. Schließlich wollte er gepflegt und schick ins neue Jahr. Was für Perspektiven taten sich nun für ihn auf. Ein bisschen skeptisch war er ja schon, was den neuen Weihnachtsmann betraf. Schließlich war er ja Weihnachtsmann. Wer würde er dann sein? Und wie würde sie dafür sorgen können, dass diese ganze magische Geschichte auf den Neuen überging?
Ganz in Gedanken lief er den Weg zurück zu Christines Hütte. Da war schon richtig was los. Musik spielte, Lichter blinkten und der Geruch von Zimtsternen und anderen Leckereien lag in der Luft. Etliche tiefe Stimmen waren zu hören, vielmals erklang Gelächter, das an sein eigenes „Ho, ho, ho!“ erinnerte. Wer waren diese Leute alle?
Santa stieß die Tür auf und trat ein. Und als hätte er einen Schlag auf den Hinterkopf erhalten, traf ihn die Erkenntnis. Er war nicht der erste Weihnachtsmann, der in Ruhestand ging. All die Einzigartigkeit seiner Rolle fiel von ihm ab und es blieb… er. Und viele andere Ex-Weihnachtsmänner.
So war das also…
Ein großer Applaus brandete über ihn hinweg. „Gut gemacht, alter Knabe!“, riefen sie ihm zu, und „Happy new year im Ruhestand!“, und noch so einiges anderes. Und sie erklärten ihm, dass es ganz normal war, dass man - wenn man sich immer für das Glück anderer verantwortlich fühlen würde – sich selbst und das eigene Glück vernachlässigen würde. Dass man dann irgendwann nicht mehr fähig sei, Glück zu schenken, weil man keines mehr empfangen könne.
Das aber würde jeder Weihnachtsmann erst im Nachhinein erkennen: Man kann kein Glück schenken. Nur Freude. Denn für das eigene Glück ist jeder selbst verantwortlich.
Und so saßen die alten Ex-Weihnachtsmänner noch lange zusammen und feierten den Jahreswechsel, mit viel Lachen, tiefsinnigen Gesprächen – und jeder Menge Glühwein.
Und natürlich mit dem schmackhaftesten Dessert überhaupt: Nach Liebe duftende Zimtsterne.