Cindy
Cindy überlegte. Eigentlich hatte sie Hunger auf ein Frühstück, frische Brötchen, backwarm aus dem Automaten, ganz wenig Margarine, dazu ein paar Tropfen Honig aus der Squeeze-Flasche – ein wahrer Luxus. Genügend Kleingeld lag neben dem leeren Aschenbecher auf dem Couchtisch. Rauchen hatte sie schon länger aufgegeben. Schokolade war ihr schon immer wichtiger als der kurze Zug an Zigaretten und mit der Stütze kam sie die letzten Monate immer schlechter aus. Gestern war sie wieder vor dem Fernseher eingeschlafen, frühmorgens aufgewacht auf der durchgesessenen Couch. Wie lange war es her, dass sie nicht allein auf dem Sofa saß? Nur er hatte den Hintern hochbekommen, direkt zur Türe raus. Hatte sich nicht mehr umgedreht und nichts mehr von sich hören lassen. Bis das Amt schrieb. Er sei gestorben und sie als seine Frau hätte für die Beerdigungskosten aufzukommen. Sie hatte den Brief genommen und ihn zu den anderen Briefen gelegt, feinsäuberlich auf die Anrichte. Ein halbes Jahr später war erstmals Herr Redlich zu ihr gekommen und hatte nett mit ihr gesprochen. Hatte bei seinen nächsten Besuchen wieder Papiere mitgebracht, die sie nicht verstand. Aber weil sie ihn so nett fand, hatte sie unterschrieben. Er lief dann durch ihre Wohnung, um irgendetwas mitzunehmen. Nur fand er nichts. Kirchenmäuse würden für Cindy sammeln, wenn sie könnten, kein neuer PC, keine Spielekonsolen, kein schickes Smartphone, nur einen Schrank mit Kleidung von Tchibo-Prozente und ihr altes Sony Xperia fand Herr Redlich. Das Kleingeld verdankte sie der alten Frau Müller von oben, für die sie ab und zu die Treppe putzte oder den Einkauf erledigte.
Sollte sie trotz des
Schneetreibens draußen mit dem
Fahrrad fahren, um sich ihren Wunsch nach einem Frühstück zu erfüllen? Zu Fuß dauerte es bis zum Aldi fast eine viertel Stunde. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, sie wäre mit dem Rad nicht alleine auf der Straße. Während Autos vorsichtig versuchten der Schneeglätte zu trotzen, bog gerade ein Fahrradkurier
rasant um die Ecke. Zu rasant, sie überlegte Haltungsnoten zu vergeben bei der darauf folgenden Rutschpartie mit Salto vorwärts des jungen Mannes. Er blieb regungslos liegen. Sie schalt sich selbst einen Idioten über ihre Gedanken. Wer weiß, was ihm dabei passiert war. Auch wenn ihr schon jahrelang Geld und eine Aufgabe fehlten, ihr Herz hatte sie nicht verloren.
Hatte den Unfall außer ihr überhaupt jemand wirklich registriert? Vielleicht der Nachbar aus dem dritten Stock, der bereits frühmorgens am offenen Fenster stand und eine erste Zigarre paffte.
Eine Minute später war sie selbst bei dem Verunglückten. 'Stabile Seitenlage, Helm ...' Angesichts des dunkelroten Blutes, das zwischen seinen
blonden Strähnen durchsickerte, ließ sie die Finger vom Helm, breitete lieber ihre Jacke über ihn und telefonierte. Die bereits zahlreich eingetroffenen Zuschauer störten sie nicht. Die blasse junge Mutter von gegenüber, ihr Jüngster auf der Hüfte. Die Schüler aus der Schule um die Ecke. Ein Obdachloser, der noch oder schon wieder
betrunken wirkte. Was für eine Mischung! Cindy konzentrierte sich auf die fünf W-eines Notfallanrufes.
WO: Direkt vor der
Apotheke in der Draisstraße.
WER ruft an: Ich, die Cindy, Nummer ist nicht unterdrückt (Sie dachte nur, in der Zeit hätte der doch schon einen Rettungswagen schicken können.)
WAS: Fahrradfahrer ohne Fremdbeteiligung. Verletzungen? Kopf. Vielleicht Beinbruch. Cindy beäugte das seltsam abgewinkelte Bein, mit dem berufsbedingten
Muskelpaket an der Wade.
WIE VIELE: Ein Fahrradfahrer reicht doch (Warum handelt der am anderen Ende vom Telefon nicht? Cindy wurde immer unwirscher.)
WARTEN
Sie hatte kaum den roten Button zum Auflegen bei ihrem Handy gedrückt, als auch schon Sanitäter die Zuschauer und danach auch sie zur Seite schoben. Erst jetzt bemerkte sie die Blutflecke auf ihrer Hose. Einer der Notfallretter drehte sich kurz um und fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei.
"Klar.", antwortete sie mechanisch. Nichts, was nicht
duschen wieder in Ordnung bringen könnte.
Kurz vor der Haustüre stockte sie.
"Danke!"
Von wem kam das? Sie sah sich um, blickte nach oben und konnte so noch den Sockel des Beton-Buddha ihres Nachbarn auf sich zufallen sehen. Herr Schmidt war im Bemühen, alles live auf der Straße mitzubekommen, mit seinem Kissen gegen die Figur geraten, die seit einem Jahr einen Ehrenplatz auf dem Fenstersims außen inne hatte.
'Sakra!', dachte er und zog sich rasch vom Fenster zurück.
Unten drehte sich derweil Cindy nochmals um. Ohne Helm und Blut im Gesicht hätte sie den Radler beinahe nicht wiedererkannt. Er streckte ihr seine Hand entgegen: "Komm!"
Ihr war es seltsam leicht ums Herz. Kein Wunder - plötzlich hatte sie wieder ihre jugendliche Figur und der rosa Jogginganzug war einem Hängerchen aus duftiger Spitze gewichen.
"Komm", sagte er wieder, "lass uns alles da oben besprechen!"
Damit deutete er auf die nächste Wolke und Cindy überlegte, ob ihr wohl Manna ebenso gut wie das frischgebackene Aldi-Brötchen mit Margarine und Honig schmecken würde.
© mariediv 02/2018