Frühsommererwachen in der Siedlung
Samstagnachmittag. Eine gepflegte Lärmkulisse liegt über der Siedlung. Ob von Rasenmähern, Heckenscheren, Laubbläsern, das würdevolle Anlassen alter Motorräder durch grauschläfrige Herren lässt sich im Chor der Geräusche nicht mehr einzeln ausmachen. Ist auch egal, Hilde schützt ihre Gartenidylle durch Stöpsel in den Ohren.
My garden is my castle, oder: ihr MP3-Player ist ihre Ruheinsel. Sie nickt im Rhythmus ihrer Musik und schneidet konzentriert die Blütendolden ab. Für die nächsten Tage ist Regen angesagt. Sie musste heute ernten, sonst würde es wieder nichts mit selbst hergestelltem
Holunderblütensirup werden.
Ihre Hüften bewegen sich zu dem gehörten Lied. Sie kennt es von den Zeiten, als sie noch tanzten. Die
Rumba lässt sie sich wiegen, macht in ihren Gartenclogs die Schritte, die ihr lange so viel Spaß bereiteten. Ein heimlicher Beobachter würde amüsiert den Kopf schütteln, Joachim Llambi in Schockstarre verfallen, bei dem Gedanken, dass diese uneleganten Bewegungen in ihren weiten Arbeitshosen etwas mit Tanz zu tun haben könnten. Sie denkt lieber an die Worte ihres Tanzlehrers: „Sei ganz Frau. Lebe die Musik!“
Hinter ihr hört sie ein Kichern. Schnell nimmt sie einen Stöpsel aus dem Ohr.
„Was machst Du?“, fragt ihre jüngere Tochter. Hilde seufzt. ‚Sieht man das nicht?‘
„Dir den Hugo versüßen!“
„Danke, ich bin zum Lernen hier, Deinen selbstgebrauten Hugo nehme ich gerne später…“
Zur Bekräftigung fängt irgendwo in der Umgebung eine Motorsäge an zu plärren. Mutter und Tochter schauen sich an und beginnen gleichzeitig zu lachen. Mutter rückt erst ihre Stöpsel wieder zurecht und widmet sich weiter ihrer dunklen englischen Lady, um ihr die letzten Blüten abzuringen. Tochter rückt die riesige Hängematte zurecht. Sie stellt die immer begleitende Trinkflasche mit dem stillen Wasser bereit. Forscht lang in ihrem Smartphone, wie sie den Lärm bekämpfen könnte und lässt sich selbst mit Musik auf den Ohren geräuschvoll in das Liegemöbel fallen. Mutter steht natürlich inzwischen so, dass sie Tochter genau beobachten kann. Als sie sieht, dass sich deren Lippen unentwegt bewegen, fallen wie zufällig bei ihr die Stöpsel aus den Ohren.
„
Fovea, Fovea, Fovea…“
‚Was mag das sein?‘ Auf dem Titel des Buches, den ihr Küken mit den
Mahagoni-Locken auf ihrem Bauch abgelegt hat, steht etwas von Human-Biologie. Wozu denn das? Sie war doch ihr kleiner Super-Bauer, wie ihre ältere Schwester sie gerne neckt. Später würde ihr Lisa erklären, dass sie schließlich bei Agrar-Biologie wissen müsse, wie sich alle Versuche und Pflanzenschutzmittel auf den menschlichen Körper auswirken könnten. Einer der Momente, in denen Hilde sich schwören würde, wieder mehr auf die Lieferanten ihrer Lebensmittel zu achten.
Unvermittelt schaut Lisa hoch und grinst ihre Mutter an: „Wusstest Du, dass eine
Wüstenheuschrecke genauso viel Eiweiß wie Rindfleisch hat?“
„Wusstest Du, dass in der Küche sich gerade ein leckeres Tomahawk auf seine Veredlung auf dem Grill vorbereitet? Du kannst aber gerne losziehen und Dir ein Kilo Heuschrecken besorgen…“, kontert Hilde trocken.
„Ich habe Dich ganz doll lieb, Mama! Tomahawk mit Hugo, ich komme wieder öfters samstags!“, versucht sich ihre Süße lieber einzuschmeicheln. Selbst der Igel im Hintergrund hüstelt gerührt.
Zudem meldet sich justament die abwesende Schwester mit einem laut vernehmlichen Bing auf Lisas Smartphone. Die schaut – und gackert.
„Er hat es wirklich geschafft! Schau Dir das an!“
Lachend dreht Lisa das Display so, dass Hilde ihre ältere Tochter auf einem Folterinstrument von
Beinpresse sehen kann, ein Handtuch ums Genick geschlungen und einen befriedigten Ausdruck im Gesicht. Ja, Thorben hat aus dem scheuen Rehlein eine selbst im Sportdress strahlende junge Frau gezaubert, so wie Hilde es selbst vor gefühlten Jahrzehnten einmal war.
Ein aufheulender Motor ganz in der Nähe schreckt die Beiden auf. Hilde reicht es jetzt. Sie setzt bereits zur Schimpfkanonade an, als tatsächlich Heinrich, ihr Göttergatte, langsam am Gartenzaun vorfährt und direkt vor der eigentlich zugewachsenen Türe anhält. Er trägt die alte abgeschabte Motorradjacke, die vorne schon lange nicht mehr zugeht. Sein Gefährt ist eine Moto Guzzi mit dem Sound vergangener Tage, aber sichtlich neuerem Baujahr. Sein jungenhaftes Grinsen soll Hildes Herz erweichen.
„Nur die
Einspritzdüsen sind etwas verharzt…“, beginnt er vorsichtig, „Probefahrt gefällig?“
Hilde bringt es nicht übers Herz zu
intervenieren. Ihr sind die Blüten plötzlich egal. Sie erfreut sich an dem peinlich berührten Gesicht ihrer Tochter, auf deren Stirn geschrieben steht: ‚Mit den verrückten Alten habe ich nichts zu schaffen‘. Selbst die sich nicht auf die Schnelle zu öffnende Gartenpforte bezwingt sie. Schwingt erst die Beine drüber und danach sich, wie sie ist – in Gartenklamotten und Crogs - hinter Heinrich auf das Zweirad. Wie sie sich an seinen Rücken schmiegt, nimmt sie nicht nur den lang vermissten Geruch der Lederjacke auf, sondern verinnerlicht die ganze Freiheit, die diese Maschine für sie bedeuten könnte.
„Gib Stoff!“
Heinrich lässt aufröhren, vor jedem Grundstück gibt er Signal „Wir kommen!“
Eine herbe Dissonanz zur üblichen Geräuschkulisse. Sie ziehen eine halbe Stunde langsam und gemächlich eine Runde nach der anderen durch den unbefestigten Gartenweg, so eng vereint, wie lange nicht mehr.
© mariediv