"Mietskaserne Moabit"
Worte: Medaillon/introvertiert/atomisieren/Grand Marnier/himmelweit/wollige Buchenblattlaus/durchscheinen/Kälteeinbruch/
Im schmutzigen Backsteinrot erhebt sie sich Tag für Tag, streckt ihre Kamine und Antennenmasten, wie hilfesuchend, dem Himmel entgegen. Unbeirrt steht sie seit Jahrzehnten an dieser Stelle. Am Tag umtost vom Straßenlärm, des Nachts still beschienen von halbblinden Straßenlaternen. Fünf Stockwerke hoch. Die Heimstatt für zehn Familien. Die alte Mietskaserne Moabit. Ihren Namen verdankt sie einem ihrer Bewohner, dem alten und griesgrämigen, immer introvertiert wirkenden Bertram Otto Clasen.
Einem ehemaligen Baggerfahrer aus Berlin-Moabit, den es irgendwann und irgendwie hierher verschlug. Seit Jahren im Ruhestand genießt B.O.C, wie er von vielen Bewohnern genannt wird, seine endlose Freizeit in Augenhöhe mit den Passanten und anderen Vorbeihastenden, welche sein, im Erdgeschoß links liegendes, Wohnzimmerfenster zu passieren wagen.
B.O.C s Hobby ist es alles zu beobachten und wichtige Dinge festzuhalten, Kommentare und Sprüche an die Vorbeieilenden gehören mit zum Geschäft.
In treuer Begleitung einer Liter Flasche Grand Marnier , schweifen seine Blicke himmelweit und dank zweier, rechts und links vom Fenster installierter Fahrradspiegel den ganzen Straßenzug entlang.
Geplagt von Gicht und Langeweile sitzt der Rentner hinter seinem offenen Fenster und seziert unentwegt das Geschehen, nimmt jede Person genauestens unter die Lupe.
Nichts entgeht ihm und in der großen, schwarzen Kladde die vor Bertram Otto auf der breiten Fensterbank liegt füllt sich Seite um Seite mit seinen krakeligen Notizen. Wer wann was macht, wer wen besucht...., jedes gewichtige Ereignis wird notiert und festgehalten und mit einem erquickenden Nipper aus dem respektablen Kognakschwenker belohnt.
Selbst das emsige Treiben der starken Kolonie wolliger Buchenblattläuse entgeht ihm nicht, welche die alte Buche, zwei Schritte rechts von seinem Fenster bewohnen und ihr Bestes geben die borkig wirkende Rinde zu atomisieren . Um den faltigen Hals des alten Mannes baumelt ein kleines Medaillon , wohl eine Erinnerung an vergangene und bessere Zeiten als sein Leben nicht nur ausschließlich hinter einer bröseligen Fensterbank statt fand. Über jeden Bewohner der kleinen Straße gibt es Notizen in B.O.C s gewichtiger Kladde, Gewohnheiten und Hobbys, Besucher und Straßenneulinge, alles wird gewissenhaft festgehalten und notiert.
Die Müllers im zweiten Stock, die Familie Pastelka von gegenüber, die hübsche Blonde aus dem Dachgeschoß der Nummer 17 die ihr Geld wohl in der Nacht verdient.
Nur starke Regengüsse oder ein Kälteeinbruch ist ein Grund das Fenster, welches Bertrams Tor zur Welt darstellt, zu schließen und zumindest für eine kurze Weile die Beobachtung und Kommentation des Straßengeschehens einzustellen.
Nachts fällt oft ein hell durchscheinendes Licht durch das schmuddelige Fenster und die mottenzerfressene Gardine dahinter und verrät dem Eingeweihten das Bertram Otto mit der Auswertung des Tagesgeschehens beschäftigt ist.
Und spätestens wenn Ali, der Besitzer des Kioskes, eine neue Flasche durch das Fenster anreicht weiß jedermann das ein neuer Beobachtungstag begonnen hat.
Die anderen Bewohner der Mietskaserne stören sich nicht sonderlich an dem merkwürdigen Gebaren des alten Sonderlings und die meisten von Ihnen bemühen sich um Toleranz und Freundlichkeit gegenüber diesem etwas seltsam anmutenden Mitbewohner.
So nimmt der Alltag in dem schäbig-schicken Backsteinbau seinen immerwährenden Lauf!
Kamasutra 02.11.2017