Türchen 9
Der Letzte macht das Licht aus
Die Harfenausgabe kommt überhaupt nicht mehr hinterher ... Keine Chance. Im Himmel ist die Hölle los. Die einfachen Engel schieben seit ewigen Zeiten Überstunden und kommen doch nicht auf einen grünen Zweig.
Ganz gleich wie rum man es betrachtet, nichts als Ärger, Gemauschel, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Die Oberen geben sich ihren Gelüsten hin, fressen sich voll und halten sich an ihren Privilegien und ihrem Cognac fest. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahnsinn auf der Welt und dem Leiden der menschlichen Kreatur kennt keine Grenze. Die himmlischen Heerscharen sind straff organisiert und werden streng geführt. Unter allen Umständen haben sie die himmlische Ruhe durchzusetzen. Jede Aufmüpfigkeit wird im Keim erstickt.
Das Posaunenbataillon hatte zwar in aller Herrgottsfrüh ordentlich Aufstellung genommen, aber General Gabriel war wie so oft nicht gerade erzgenial drauf. Er schiss die Posaunenengel an und faltete sie zusammen.
„Morgenstund hat Gold im Mund! Also rafft es endlich. Putzt eure Tröten, ihr Kröten!”
Erzengel General Michael, ein großer Blonder mit kantigem Kinn, kratzte sich am Sack und mischte sich ein.
„Liederlich! So ein Haufen Dahergelaufener will zu den himmlischen Heerscharen gehören?”
„Lachhaft, einfach nur lachhaft. Man sollte die Bande zur Hölle schicken!”, stieß Erzgeneral Gabriel zwischen seinen gelben Zähnen hervor.
(Er raucht zu viel Maria und Hanna und spricht wie seine Kollegen Michael, Raphael und Uriel nur in Stanzen).
Seine Gräulichkeit, Erz Michael, wie die Posaunenengel ihn heimlich nennen, röhrte:
„Stillgestanden! Wie oft soll ich euch noch sagen, ihr soll die Kirche im Dorf lassen?! Oder soll ich euch die Hammelbeine einzeln langziehen?”
Die Posaunenengel aus dem Bataillon PoE 2 liessen ihre verbeulten und scheckigen Instrumente sinken und schlugen die Augen nieder. Nur Edgar A. PoE und PoE T. merkte man an, dass sie innerlich knurrten. Edgar A.s Mundwinkel zuckten und T. murmelte etwas Unverständliches. Edgar A. war sogar unrasiert, seine grauen Stoppel sahen nach Drei-Tage-Bart aus. Sein Hemd reichte ihm bis knapp über die Hüfte, wie bei den anderen PoEs aus dem Posaunenbataillon auch. Allerdings ließ es in seinem Fall ein doch recht nachlässig gewaschenes Hinterteil zum Vorschein kommen.
„Verwahrloste Bande!”, setze Erz Michael nach und mit einem: „Was für ein verdammter Zirkus!”, spuckte er auf den Boden und damit der Zirruswolke aufs Dach.
Die Engelsanwärter und einfachen Barfußengel gelten in der himmlischen Hierarchie als der letzte Dreck, werden herumgeschubst und ausgebeutet. Sie sind den vier Erzengeln, die sie befehligen, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der Himmel ist mittlerweile hoffnungslos überbevölkert, die Zutrittsrechte werden nach Gutsherrenart vergeben. Jeder schaut, wo er bleibt und versucht für sich das Beste rauszuholen. Die Zustände sind chaotisch. Darüber täuscht auch die militärische Strenge nicht hinweg, die hauptsächlich die einfachen Engel zu spüren bekommen. Die göttlichen Führungsmängel pfeifen inzwischen schon die Himmels-Chöre auswendig und durch die Frontzähne.
Schon viel zu lange hatte kein Mensch im Himmel mehr ins Fußvolk investiert. Alles verkommt und man merkt die Lieblosigkeit und Vernachlässigung an allen Ecken und Kanten. Die Wolken sind zerzaust, überall nur Durcheinander, Gerümpel, Altlasten und Schrott. Die Engelsanwärter kriechen am Boden herum und glätten die Wogen. Ohne rechten Erfolg.
Ein Barfußengel schrie. Er hatte sich in den zahlreichen Scherben der Geschichte geschnitten, blutete und hielt sich den Haxen. Er hüpfte herum und fluchte:
„Zur Hölle ...”, jaulte er auf.
ErzGe Gabriel stutze ihn zurecht: „Dir geb ich’s gleich, von wegen Hölle, das hättest du wohl gern. Beweg deinen nackten A... zu den anderen.”
Er machte eine wegwischende Handbewegung und ließ den verletzten Barfußengel seine ganze Verachtung spüren:
„Geh mir aus der Sonne oder du kannst mich richtig kennenlernen. Ich hab dich sowieso an den Eiern. Ein Griff genügt und du hörst die Engel singen. Ist das klar, du nichtsnutziger BaFuE?!”
ErzGeGa und ErzGeMi reichte es für diesen Morgen, ihre Übellaunigkeit bewegte sich auf den Siedepunkt zu. Sie ließen die Posaunenengel antreten und ein Donnerwetter los, das sich gewaschen hatte. Sie brüllten herum, dass man es bis unten im Wattikahn hören konnte. Nach einem Stündchen Schikane hatten sie endlich genug. Sie kommandierten die PoEs ab zum Wienern ihrer Tröten und schlenderten eine Wolke weiter – so erhaben wie ihre vollschlanken Figuren und ihr Hüftgold es ihnen erlaubte. Auf der 1 setzten sie sich an die Bar und ließen sich von Jimi Hendrix bedienen. Wie der sich bis hier nach oben verirren konnte, bleibt unklar. Vermutlich ein Buchungsfehler. Der Musikerhimmel ist nämlich längst aufgelöst und dem Skychannel- und Propaganda-Corps zugeteilt. Fakt ist, er steht auf der 1 hinterm Tresen an der Bar ‚Zum rosa Dunst’ und schrammt ab und zu über ein Gitarrenriff. Eben dann, wenn nicht allzu viel Ansturm ist. Wer genau zuhört, kann manchmal ‚Purple Haze’ oder wie heute ‚The Wind cries Mary’ erkennen. Ein komisches Wetter sowieso. Es lag was in der Luft.
Währenddessen saß auf der 7 der Allmächtige, seine Scheinheiligkeit GoVa höchstselbst, in einem verzierten Sessel, den Ludwig XVI. ihm nach seiner Hinrichtung durch die Guillotine als Einzugsgeschenk gestiftet hatte. Er rekelte sich in dem bequemen Sessel, rülpste und prostete der Eisernen Lady zu:
„Na, Thatcher, altes Unterhaus, wie wär’s mit einem Wässerchen?”
„Bleib mir bloß weg mit Wasser, Gottvater. Du und dein Gin. Trinkst ja den ganzen Tag nur Bombay Sapphire!”
„Und wenn schon. Nicht ohne Grund habe ich euch Indien für eine kleine Ewigkeit zur freien Selbstbedienung überlassen. Und mein London Dry muss einfach sein", entgegnete er nicht ohne Sarkasmus.
„Apropos trocken! Da kannst du doch mitreden, Thatcherchen!”
„Sei still, erinnere mich bloß nicht. Das ewige Geplärre der Gewerkschaften, davon habe ich endgültig genug.”
Die Eiserne Lady strich sich angewidert nicht vorhandenen Staub vom royalblauen Rock.
„Von mir aus kannst du die Wasserwirtschaft auch im Himmel privatisieren. Mir wär’s egal, wenn’s hier keiner mehr saufen kann, weil’s zu schlecht ist oder zu teuer.”
GoVa schlug sich auf die schwabbeligen Schenkel.
„Hauptsache, du schleppst mir den Pinochet nicht immer mit hierher. Ich kann den Kerl nicht riechen. Er stinkt so penetrant nach Diktatur, Folter und Passionsblume.”
„Und Passionsblume kann ich ums Verrecken nicht leiden!”
Er bekräftigte seine Worte und schlug sein Glas hart auf.
„Außerdem versteht der Kerl überhaupt keinen Spaß.”
„Ach, sei still GoVa. Wer hat dir denn deinen halben himmlischen Laden hier vergoldet und dein Drogenkontor bis über die Hutschnur gefüllt?”
GoVa reagierte unwirsch. Er schubste die leicht bekleidete Verantwortung, die ihm ständig um den Rauschebart ging von seinem speckigen Schoß und klatschte ihr auf den schweinchenrosa Hintern.
„Verschwinde endlich. Ich hab dir schon hundert Mal gesagt, dass ich nichts mit dir anfangen kann.”
Gottvater griff zum Glas und legte los mit seinem Standardtext:
„Vater unser im ... Verdammt! Schimmel!”
Er legte die Hostien-Lammkeule angewidert zurück auf die silberne Platte.
„Dein ... Scheich!”
Eben kam Scheich Hamad bin Chalifa aus Qatar durch die Tür und trat an den heiligen Stuhl. Er schleppte sein ganzes Vermögen mit, immerhin einige Milliarden Dollar, und setzte sich neben seinen Kumpel GoVa.
Der fuhr fort: „Und führe uns... in Versuchung.”
Gottvater hatte doch wieder ins Lamm gebissen und daher ein Wort verschluckt.
„Erlöse uns... Nicht!!”
Er wehrte einen blonden, barbusigen Engel ab, der ihm nachschenken wollte.
Jetzt kaute er wieder und man verstand nur noch:
„Herrlichkeit .. Ewigkeit .. A.. Men .. sch!”
GoVa grinste und schlug dem Scheich auf die Schulter. Der hatte ihn abgelenkt und zeigte Haremsbildchen seiner Fatima Morgana.
Rechts außen auf der 4, braute sich unterdessen was zusammen. Im Faschohimmel wurde gefeiert wie eigentlich immer in der letzten Zeit. Ein Tattergreis mit kaum einssiebzig, Mussolini, sabberte und kippte sich noch einen Pharisäer hinter die schlecht gebundene Binde. Ohne seinen starken Kaffee mit Rum vom Feinsten und Sahnehäubchen war es nicht auszuhalten mit ihm. Dann nervte er noch mehr mit seinem ständigen Gefasel, dass früher alles besser war, im Himmel wie auf Erden.
Drei Engelsanwärter hatten Weichspüldienst. Vier standen an der Verzapfanlage und Stalin lallte:
„Ich gebe einen aus. Her mit den Zeug. Gleichheit, pah! Brüder! Liederlichkeit! Freiheit ist ein Trugbild. Mätze, Petze, Hetze. Bajonette wetze...”
Er fiel in sich zusammen und man dachte schon, der hätte genug für heute. Doch er kam wieder hoch und sein Hängerbärtchen zuckte.
„Gegen Radio Eriwan! Im Prinzip ja ... Wahnsinn! Ich geb einen aus, Leute! Haldol für alle ...”
Einer der EAs am Weichspüler murmelte und schüttelte den Kopf:
„Mannometer, der Josef. Zu dem passt er, der Hirnschlag.”
Er wischte mit einem Tuch herum.
„Und in seiner eigenen Pisse lag er auch, so wie jetzt. Wie der mir stinkt, der russische Brettschädel.”
Ein Dutzend BaFuEs war wie jeden Tag nach Wolkenkuckucksheim abkommandiert, die kleinen Pflänzchen des Gewissens mit Füßen treten. Am äußersten Rand auf der 4 schufteten fünf Einheiten Engelsanwärter an den großen Nebelmaschinen. Sie arbeiten Schicht und rund um die Uhr, sahen schlimm und überarbeitet aus. Schon seit Wochen hatte man ihnen die Glückskeksrationen drastisch gekürzt. An den Wachtürmen standen die Mofas der Jünger Jehovas. Die liefen auf und ab, salbaderten ohne Unterlass und machten das, was sie am besten konnten, ‚Erwachet’ flöten, labern, Wache schieben und auf die Harmagedons mit ihren Beiwagen warten, die sie in die Loge des Ewigen Theaters mitnehmen würden. Sie auszutricksen war schwierig, sie hatten wie alle auf der 4 und im Faschohimmel freien Zugang zu den Hallo-Wach-Pillen und machten niemals Pause. An ein Ausbüxen war so für die EAs nicht zu denken. Und sie waren sowieso ziemlich benebelt. Zwei der Neuen, die Engelsanwärter EA 0816 und 0817 schauten sich auffällig oft um und machten merkwürdige Zeichen. Er war ein eher kleiner, junger Typ mit hellem Blick und sie sah ihm ähnlich, eine schlanke, vielleicht 20-jährige Dunkelblonde ...
Währenddessen waren ErzGeMi und ErzGeGa aus dem ‚Rosa Dunst’ getreten. Sie beschlossen, sich auf dem Weg zurück zur 2 einen Hosianaburger to Go zu gönnen. Besonders Erz Michael liebt die Dinger und langte kräftig zu. Mit dem letzten Bissen küsste er Gabriel schmatzend auf die Stirn:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.”
„Bäh, du Schwuchtel, Unverbesserlicher, Kinderschänder, Triebtäter ...”
ErzGeGa schlug nach ihm.
„Reiß dich gefälligst am Riemen!”
Sie saßen am Zaun des Aufnahmelagers Guantanamerda und Erz Michael schaute gerade auf als die Hildegard mit ihrem gestickten ‚Mystikerin, Naturwissenschaftlerin aus Bingen’ auf dem Rücken versuchte, durch ein Loch im Zaun zu schlüpfen. Man konnte den grünen Punkt an ihrem orangeroten Hemdchen gut erkennen, was bedeutete, dass sie noch nicht mal 1000 Jahre einsaß. Neben ihr zwängte sich ein bärtiger Typ durch den Natostacheldraht. Er hatte einen gelben Fixstern am Ärmel. Karl Murks oder so ähnlich hieß er. ErzGeGaMi sprangen auf wie ein Mann und lösten das Problem.
Erz Gabriel schaute die von Bingen streng an. Sie wich seinem Blick nicht aus und ließ eines ihrer Zitate fallen:
„Die Augen sind die Fenster der Seele.”
Erz Gabriel klimperte spöttisch mit den Augendeckeln und liess die Hildegard es selbst aufheben. Dann zeigten die ErzGes, was sie drauf hatten. Binnen von einer Stunde hatten sie denen das Maul und das Leck gestopft. Die göttliche Unterordnung war wieder hergestellt.
Der Zug des Himmels-Chors, der für die Dauerbeschallung von Wolke 2 zuständig war, trat ab. Der Tag neigte sich inzwischen seinem Ende zu. Die 333 Engelssinger der 2 stolperten durcheinander und in ihre Hängepartie, wo sie sich nun für ein paar Stunden in die Matten hauen konnten.
Im Dunkel der Nacht hatten sie abgemacht. Das Zeichen war allen bekannt. Es wurde Zeit. Die Vorbereitungen liefen seit Langem und heute sollte die Nacht wirklich eine geweihte sein. Bei allem, was ihnen heilig war.
Auf jedem Wolkenturm sitzen himmlische Wachtmeister, wie immer. Das wussten sie und hatten dafür gesorgt, dass ihnen an diesem Heiligabend eine Sonderration Wachteln die Schicht versüßen würde. Dazu gab es Gleichgültigkeitskrautwickel mit Sößchen und die schönen, leicht bekleideten Gottesanbeterinnen gaben ihnen vermutlich gerade jetzt den Rest.
Am halblinken Spektrum auf der Cumulus 13 stoßen sie jetzt auf das heimliche Zeichen zueinander. Ein bunter Haufen aus alt und jung, aus allen Schichten und jeder Herkunft. Nicht eben viele, ein paar Handvoll Leute sind es. Wir sehen PoE T. und den schmuddeligen Egdar A., drei Barfußengel, eine Musikerin, ein Bäcker, ein Wissenschaftler, die Hildegard, den Cicero, einen Grubenarbeiter, den Comenius, den Freud, zwei leichte Mädchen, drei schwere Jungs, die Rosa aus Luxemburg oder so, den Sauerbruch, den Rousseau, ein paar Kinder, einen Gärtner, eine weise Alte, den Humboldt, den Benjamin, einen Fluglotsen und eine Überfliegerin. Und die jungen EAs 0816, Hans, und EA 0817, Sophie, die zwei der Geschwister Scholl. Die Dunkelblonde flüstert:
„Tun wir es jetzt. Holt alles raus. Zeigt es allen!”
Die versprengten Gestalten greifen in ihre gebeutelten Seelentaschen und ziehen mal mehr, mal weniger heraus. Mal kratzen sie den letzten Rest, mal kommt ein ansehnliches Stück zum Vorschein. Jeder pult sein letztes Quentchen Menschlichkeit heraus und legt es mit dazu. Alle schauen sich verwundert an ... Da kommt doch ganz schön was zusammen.
Sophie und zwei der Anderen tragen den gesammelten Klumpen Menschlichkeit vorsichtig auf Wolke 4, schauen sich in die Augen, nicken und werfen ihn ein. Direkt ins Zentralgetriebe.
Großalarm. Die Harfenausgabe kommt überhaupt nicht mehr hinterher... Keine Chance. Das war’s. Das Ende vom Hohen Lied. Der Himmel ist erledigt. Die ganze Bande wird wieder auf Grund gesetzt, morgen schon. Sie werden ein bisschen härter landen und mitten auf dem Boden der Tatsachen. Comenius wird murmeln: „Wer als Mensch geboren ist, soll als Mensch zu leben lernen.”
Und sie werden die Wahl haben: Eine 40-Stunden-Woche in der Gehirnwaschstraße, die ewige Süßholzraspel oder für die Dauer von sieben Kirchenjahren ... Wälzen in Läuterzucker.
Und dafür gibt es eine in Läuterzucker gewälzte Feder für anima_nyx
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