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Ich fand mich auf einer Deichkrone liegend und mit dem Gesicht in Richtung der Hallig Südfall blickend wieder. Meine Glieder waren schwer wie Blei, mein Kopf schmerzte und mein Körper fühlte sich zerschunden an. Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, was geschehen war. Ich wusste noch, ich war nach Westerhever gekommen um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
Zu viele Probleme drückten mich nieder, mein Liebesleben war ein einziges Chaos und meine Arbeit, die hauptsächlich aus Wahlkampf für verlogene Politiker und im Nachhinein aus dem korrekten Ausrechnen von Überhangmandaten bestand, füllte mich nicht aus. Ich hatte auf viele Arten versucht, meinem Leben wieder einen Sinn einzuhauchen, doch Alkohol, Zigaretten, unzählige One-Night-Stands, auch Drogen, welche ich wie Brausepulver konsumierte, waren eindeutig der falsche Weg. Meine Flucht in die Einöde war alternativlos, denn ich hätte mich selbst erledigt.
Einer unerklärlichen Sehnsucht nach meiner geliebten Nordsee folgend, wollte ich inmitten eines tosenden Sturms mit meinen nackten Füßen in der kalten Gischt stehen, das Salz auf meinen Lippen fühlen, den Wind mein Haar zerzausen lassen, kurz: Ich wollte die Elemente um mich herum fühlen, mich wieder erden. Spüren, dass ich am Leben war.
Ich hatte alles satt in diesem Turm aus hartem Stahl und der Kühle der Stadt, so nahm ich kurzerhand eine Auszeit und bezog Quartier auf einem uralten Bauernhof hinter dem Deich in der weitläufigen Gemeinde von Westerhever. Sofort nach meiner Ankunft wollte ich nur laufen, laufen, laufen. Die endlose Weite der ruhig liegenden See und des wolkenverhangenem Horizonts genießen. Ich schlug die Warnung der Einheimischen vor dem bevorstehendem „Wetter“ aus und schon bald war ich allein mit mir und dem Geschrei der Möwen als ich plötzlich fernes Glockengeläut vernahm. Seltsam, denn weit und breit von hier gab es keine Kirche und noch merkwürdiger war, dass die Klänge nicht vom Land sondern vom Wasser zu kommen schienen.
Neugierig blickte ich über die gischtbenetzten Wellen, nicht weit entfernt sah ich eine Hallig. Wie gebannt lag mein Blick in dieser Richtung, wie verzaubert erschien mir dieses kleine Eiland namens Südfall. So weit war das nicht, vielleicht wenige Kilometer und in meinen Gedanken formte sich der Wunsch dorthin zu wandern. Es zog mich förmlich dorthin. Da abfließendes Wasser war, bestand keine Gefahr für mich. Dieses leise Geläut beseelte meinen Geist auf sehr eindringliche Weise und lockte mich derart, dass ich die Zeit vergaß. Ich lief und lief, zunächst wärmte noch die Sonne mein Gesicht, doch dann kam plötzlich Nebel auf und hüllte mich vollständig ein. Ich erschrak, denn nun inmitten des Watts und zu der fortgeschrittenen Stunde wurde mir vehement klar, wie leichtsinnig und dumm ich gehandelt hatte. Ich konnte weder das Festland hinter mir noch die Hallig vor mir ausmachen. Sicher durchzogen tiefe Priele das Watt, außerdem begann ich immer tiefer im Schlick einzusinken. Es war äußerst kräftezehrend so zu laufen. Ich hatte schrecklichen Durst. Zurückgehen oder weiter nach Südfall und dort die Nacht im Haus des Wasserwarts verbringen?
Doch welche Richtung sollte ich einschlagen?
Ich hatte bereits die Orientierung verloren. Leise kräuselte sich die einsetzende Flut um meine Knöchel. Das war verdammt ernst! Mir war klar, dass die See mich holen und verschlingen würde und niemand wusste, wo ich hingegangen war. Das Handy hatte selbstverständlich kein Netz. Wie immer - in einer wirklichen Notlage!
Wie ich noch so stand und die Panik mir die Kehle zuzuschnüren drohte, tauchten plötzlich die Umrisse eines Dorfes aus dem Nebel vor meinen Augen auf. Boote, die auf den kleinen Wellen schaukelten, ein Wall aus Niederholz, hämmernde Geräusche wie von einer Schmiede, brüllende Kühe und Menschen in seltsamer Kleidung. Ich sah mich von diesen umringt und angestarrt als würde mein Gesicht aus einer riesigen Warze bestehen – genauso sprachlos überrascht von mir wie ich von ihnen.
Eine junge Frau sprach mich an. Obwohl ihre Worte fremd in meinen Ohren klangen, verstand ich sie unverständlicherweise. Wer ich sei und woher ich komme? fragte sie mich. Ob ich ein Quartier für die Nacht suche und warum ich so seltsam gekleidet sei?
Dabei rümpfte sie ihre Nase und auch die anderen Leute um sie herum betrachteten mich mit Missbilligung. Ich fühlte Angst und mich gleichzeitig beschützt, als ich den festen Boden der kleinen Ortschaft betrat. Heute würde mich die See nicht holen! Doch der Wasserwart und seine Frau von Südfall waren das eindeutig nicht!
Überhaupt wirkte das alles seltsam verwunschen. Aber egal, ich war erst einmal in Sicherheit. Die junge Frau nahm mich an der Hand. Ihr Name sei Inken erklärte sie mir und führte mich zu ihrem Häuschen etwas abseits der übrigen. Sie wolle mich später zum Pastor bringen, der entscheiden solle, wie man mit mir verfahren solle. Ich schaute mich auf dem Weg dorthin um, in dieser Siedlung mitten im Meer.
Es sah aus wie in einem dieser Museumsdörfer.
Gelebte Vergangenheit, täuschend echt dargestellt. Eine Zeit nachstellend, in der es nur echte und keine Tortenschlachten gab, eine Blutegel-Therapie alltäglich und Intimoperationen noch nicht erfunden waren.
Hühner und Schweine freilaufend auf den Wegen, Frauen, deren langes Haar zumeist in Zöpfe geflochten war und die an Webrahmen oder Töpferscheiben saßen. Männer mit wettergegerbten Gesichtern, die Netze flickten oder Fische ausnahmen. Alte Leute, die sich mit krummen Ästen als Gehhilfe in oberschenkelhalsbrecherischer Weise durch den Schlamm schleppten, Fachwerkhäuschen wie auf einem Postkartenidyll, ein einfacher kleiner Hafen, keine Autos oder Fahrräder, keine Strommasten oder funktionierende Handys. Nichts von dem, was ich als Zivilisation in meinem Sinne bezeichnet hätte.
Dieser Ort schien mir nicht real zu sein. Mir schwante, dass ich tatsächlich in der echten Vergangenheit gelandet war. Keine Ahnung wie und wieso. Ich hatte das Gefühl weder hierher noch in diese Zeit, die wie frühes Mittelalter aussah, zu gehören, als ich wieder diese Glocken hörte. Es war dasselbe Geläut, welches mich hierher geführte hatte, nur diesmal laut und nah. Damit musste alles zusammenhängen!
Du lieber Himmel! Ich wagte nicht daran zu denken, was mir an diesem Ort wiederfahren könnte. Ein Mensch aus dem 21. Jahrhundert 7 oder 800 Jahre zurückkatapultiert? War das eine Nachwirkung meines Drogenkonsums? Das konnte doch nicht wahr sein? Ich kniff mich feste und es schmerzte, das war ein gewaltiger Albtraum, aus dem ich nicht erwachen konnte.
Dunkel war es inzwischen und Fackeln erhellten mehr schlecht als recht die lehmigen Straßen. Ich sah in die Richtung, in der sich das Eiderstätter Festland und die Moderne befinden mussten, doch da waren nur Schwärze mit einer undurchdringlichen Nebelwand und das Rauschen der See.
In Inkens Stube brannte ein behagliches aber stark riechendes Torffeuer, welches mir Hustenreiz und Augenbrennen verursachte, gastfreundlich bot sie mir ein Stück Gugelhupf an und schaute mich fragend an. Ich hauchte meinen Namen: Anna Gerlach aus Frankfurt.
Sie nickte unbeeindruckt und reichte mir anscheinend ihr Sonntagskleid, welches aus grünem und samtenem Stoff war. Für diese Zeit und diesen Ort ein sehr kostbares Kleid und ich fragte mich, ob Inken reich oder eines der Dorfoberhäupter war. Sie lebte allein in dem Häuschen und besaß ein Samtkleid in einem lehmigen Dorf inmitten des Meeres. Mein Verstand wollte es nicht wahrhaben.
„Anna aus Frankfurt, ich weiß nicht, wo dein Dorf liegt, ich habe den Namen nie gehört, aber so gekleidet, kannst du hier in Rungholt nicht herumlaufen. Es ist unschicklich für eine Frau, kurze Hosen und nur ein Leibchen zu tragen. In deinem Dorf scheint es nicht sehr sittsam zuzugehen, nicht wahr?“
Dabei grinste Inken und ich lächelte nickend, nein – sehr sittsam ging es in Frankfurt nicht unbedingt zu.
Das Kleid passte wie für mich gemacht. In Rungholt war ich? Davon hatte ich schon gehört. Jahrhundertelang dachte man, es wäre nur eine Sage gewesen, bis man im Watt die Überreste einer wohlhabenden alten Siedlung entdeckt hatte. Wieso sah ich diese sagenhafte Stadt und konnte mich in ihr bewegen?
Kurze Zeit später waren wir auf dem Weg zum Pastor und kamen an der offenen Schänke vorbei. Junge Burschen und unmäßige ältere Männer zechten reichlich und fühlten sich offensichtlich unangreifbar. Total besoffen riefen sie uns beiden obszöne Bemerkungen zu. Inken und ich hielten uns ängstlich aneinander fest. Mit Schutz war hier nicht zu rechnen. Inmitten von ihnen stand der bleiche Pastor, bedroht von Beilen und Stäben mit eisernen Widerhaken des außer Kontrolle geratenen Mobs.
Ein rülpsendes Schwein lag stark alkoholisiert und wie tot auf den hölzernen Planken, alle Viere von sich gestreckt, mit letzter Kraft furzend. Man hatte dem bedauernswerten Wesen mittels eines Trichters Hochprozentiges eingeflößt und unter dem Johlen und Grölen der Typen wurde der schreckstarre Pastor bei Todesandrohung gezwungen, dem Tier die Sterbesakramente zu erteilen.
Er insistierte, dass das eine schwere Sünde sei und warnte vor den Folgen. Doch die übermütigen Männer zogen Hasenpfoten und andere heidnische Talismane aus ihren Taschen, verlachten und verhöhnten ihn, zwangen ihn dazu.
Inken und ich standen fassungslos ob des Sakrilegs. Der Pastor floh nach getaner Aussegnung unter hämischen Gelächter und riet uns beiden, sofort die Flucht vor diesem Sündenbabel ergreifen. Die Strafe Gottes würde grausam und schon sehr bald über den Ort kommen. Inken erbleichte, denn ein Sturm aus dem Nichts war mit seinen Worten aufgekommen.
Wir rannten zurück zu ihrem Häuschen, müssten uns mit aller Gewalt gegen den heftigen Wind stemmen. Der Regen prasselte wie bei der Sintflut. Der Sturm wurde zum Orkan, die See nagte brüllend und tosend an den Schutzwällen, die Böen zerrten an dem Strohdach und die Flut stieg immer höher und höher. Bald standen die Warften unter Wasser und wir mussten in das Obergeschoß fliehen, das Dach flog unter Splittern und Krachen davon, wir hörten die Schreie der Verdammten und die Glocken läuteten Sturm. Wie ein mahnender Zeigefinger ragte nur noch das obere Drittel des Turms aus den Fluten. Die noch lebenden Menschen waren in Panik.
Die „Grote Mandränke“ kam über Rungholt und spülte die Häuser fort, ersäufte Mensch und Tier in einer entfesselten See. Panisch schrien wir, beteten um Hilfe doch es gab keine Rettung. Das Häuschen aus Lehm, Holz und Stroh stürzte schließlich unter dem Ansturm der Nordsee ein, zusammen mit dem Kirchturn und den anderen Häusern, Inken wurde von einer gewaltigen Welle fortgespült und ich selbst klammerte mich verzweifelt an einen Holzbalken während der schwere Samtstoff drohte, mich in die eisige Tiefe zu ziehen. Todeskampf, Panik, Stoßgebete, dann gnädige Schwärze.
Zu mir kam ich zusammengekrümmt liegend auf einer Deichkrone, eingehüllt in nassen, zerfetzten, grünen Samtstoff, beschnuppert und angestupst von weidenden Schafen. Mein Körper war über und über von Salz brennenden Schürfwunden bedeckt, einige Knochen gebrochen. In welchem Jahrhundert war ich nun gelandet?
Spaziergänger in Jeans und "Pfötchenjacken" fanden mich und riefen per Handy eine Ambulanz. Gott sei Dank, ich war zurück in meiner Zeit! Doch traute ich mich nicht, ihnen allen zu erzählen, was passiert war, zu surreal war das alles. Man würde mich für verrückt halten und in eine Nervenheilanstalt einweisen.
Hatte ich das alles nur geträumt?
Eindeutig nein, denn ich besaß in diesem Leben kein grünes Samtkleid. Die Wunden an meinem Körper heilten mit der Zeit und ich bediente mich in der kleinen Bibliothek des Ortes. Dort stand über Rungholt geschrieben, dass man seine Glocken unter dem Wasser an ruhigen Tagen hören könne und, dass es alle sieben Jahre in der Johannisnacht erscheinen würde.
Was war mit mir an jenem Tag dort draußen im Watt passiert? Verstört reiste ich ab, aber voller Dankbarkeit, noch und wieder am Leben zu sein.
Inzwischen sitze ich wieder in meinem sicheren Büro in einem Frankfurter Hochhausturm aus Stein und Stahl, stelle mir andauernd dieselbe Frage. Das zerfetzte Kleid hängt als Mahnung in meinem Schrank, das Leben stets zu achten und es in allen seinen Facetten anzunehmen und nie aufzugeben.
Noch immer spüre ich die unerklärliche Sehnsucht nach der wilden tobenden See, die mich lockt und die nach mir ruft, so als würde ich ihr noch in ihrer Sammlung fehlen. Ich war wirklich durch seltsame und gnadenvolle Umstände, Zeugin des Unheils dieser Nacht gewesen, in der ein Großteil Nordfrieslands im Meer versank. Doch darf ich es nicht laut sagen.
Zum Glück für mich, gibt es die Acht-Wörter-Kurzgeschichten.